Dieter Nelles Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr verehrte Damen und Herren. Ich möchte mich für die Einladung des Interregionalen Gewerkschaftsrates sehr herzlich bedanken. Es ist mir eine Ehre heute über eines der feinsten Kapitel der deutsch-niederländischen Beziehungen zu ihnen zu sprechen: die solidarische Unterstützung deutscher Flüchtlinge in den Niederlande und den gemeinsamen Kampf von Deutschen und Niederländern gegen den Nazismus. Beide sind gute Beispiele für die europäische Dimension des Widerstands gegen den Nazismus, die erst in den letzten Jahren stärker beachtet wird. Die Geschichtsschreibung über und auch die Erinnerung an den Widerstand ist in allen europäischen Ländern meist eine Geschichte des nationalen Widerstands. Ich möchte diese europäische Dimension des Widerstands gegen den Nazismus im deutsch-niederländischen Fall an mehreren Beispielen erläutern: 1. Den Aktivitäten der Internationalen Transportarbeiter-Föderation unter der Leitung ihres Generalsekretärs Edo Fimmen 2. Den Aktivitäten des Arbeitsausschuss freigewerkschaftlicher Bergarbeiter in Amsterdam 3. Den Aktivitäten des deutsch-niederländischen Centraal Comitée Wuppertal Process, das im September 1935 zur Unterstützung der in Wuppertal verhafteten Gewerkschafter und deren Angehörigen gegründet wurde 1. Der Widerstand der ITF Im Dezember 1942 schrieb Willi Eichler, der Vorsitzende des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes, in einem bewegenden Nachruf über seinen Freund Edo Fimmen: „Wer hilft den illegalen Kämpfern, die sich sammeln, nachdem sie sich vom ersten Schlag der ungeheuren Niederlage erholt haben? Es ist Edo Fimmen und seine ITF. Unermüdlich ist er im Gange – Treffen zu arrangieren; Genossen zu retten; Aufenthaltserlaubnisse zu erwirken und viele andere Dinge, die heute noch nicht erzählt werden können (…) Und wenn einst die Geschichte der Abwehrkämpfe der Arbeiterschaft gegen den Faschismus geschrieben wird, dann wird Fimmens Name an der Spitze stehen. Und er wird als ein Beispiel in die Geschichte eingehen dafür, wie ein Gewerkschaftsführer auszusehen hat, der viel Macht hat, viel Einfluss und der gleichzeitig ein empfängliches Herz, einen klaren Verstand und einen reinen Willen mitbringt – also ein Genosse ist.“ Eichlers Prognose war falsch. Fimmen ist heute in den Gewerkschaftern nur noch wenigen bekannt. Ich nehme an, das gilt sowohl für Deutschland als auch für die Niederlande. Fimmen war eine legendäre Figur in der internationalen Arbeiterbewegung. Von 1919 bis zu seinem Tode 1942 war er Generalsekretär der ITF und von 1919-1923 auch Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes. Nach den Worten der deutschen Sozialistin Toni Sender, vereinte er „seltene Qualitäten“. Er war sowohl „ein Revolutionär als auch ein Organisator.“ Vermutlich waren es diese Qualitäten, die eine so nachhaltige Wirkung auf seine Zeitgenossen ausübten, aber auch zu scharfen Konflikten führten. Fimmen erkannte schon frühzeitig die Gefahr des Faschismus für die internationale Arbeiterbewegung und unterstützte den antifaschistischen Widerstand in Italien. Die deutschen Gewerkschaften drängte Fimmen immer wieder zu entschlossenen Aktionen gegen die erstarkende Nazibewegung. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler schrieb er am 4. Februar verbittert an einen deutschen Gewerkschafter: „Hitler ist da, wo ihn die deutsche Arbeiterschaft hingebracht hat. Die Geschichte wird mal erbarmungslos über unsere Bewegung und unsere Bonzen urteilen. (…) Für die deutsche Arbeiterbewegung wiederholt sich die Tragödie der italienischen, mit dem alleinigen Unterschied, dass die Schuld der deutschen Führer um ein Bedeutendes größer ist, da, weiß Gott, sie alle Möglichkeiten gehabt haben, aus dem Beispiel Italiens und anderer Länder zu lernen. (…) Wenn wirklich in Deutschland alles drunter und drüber geht, so versuche Du, wenigstens anständig unterzugehen.“ Fimmen machte sich keine Illusionen über die Widerstandsbereitschaft der deutschen Gewerkschaftsführer, aber auch er hatte nicht damit gerechnet, dass sie in ihrer Anpassungsbereitschaft so weit gingen, wie er es ausdrückte, „dass man sich vor Scham verkriechen möchte“. Er unterstützte sofort die sich formierenden Widerstandsgruppen in Deutschland und die Flüchtlinge in Amsterdam. Unter der Redaktion von Dr. Walter Auerbach publizierte die ITF die Zeitung „Hakenkreuz über Deutschland“, die ab 1934 unter dem Namen „Faschismus“ bis zum Kriegsende in mehreren Sprachen erschien und über die Lage der Arbeiterschaft in Deutschland und den faschistischen Ländern informierte. Der Sozialdemokrat Alfred Mozer, der 1933 nach Amsterdam emigrierte, sich während des Krieges dem niederländischen Widerstand anschloss, und später u.a. Auslandssekretär der „Partij van de Arbeid“ 1956 war, schrieb 1956 über Fimmen an den Politikwissenschaftler und Widerstandskämpfer Wolfgang Abendroth: „Die kurze Zusammenfassung meiner Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Edo Fimmen ist leider nicht sehr einfach. (…) Er hatte Verbindungsleute in Rotterdam und Antwerpen, aber auch in anderen Häfen. (…) Seine Transportarbeiter-Internationale hat sich nicht auf Flugblattpropaganda beschränkt, es wurde auch direkte Sabotage vorbereitet und ausgeführt. (…) Außerdem hatte Edo Fimmen über den Berufssekretär der Angestellten Internationale, Spiekmann und das vormalige Vorstandsmitglied des Angestellten-Verbandes Fritz Schröder, guten Kontakt mit der Arbeit, die diese Gruppe nach Deutschland hinein leistete. Dasselbe gilt von der Fabrikarbeiter-Internationale, die von Amsterdam regelmäßig Kontakt mit den damals in Hannover wohnenden Vorstandsmitgliedern des Fabrikarbeiter-Verbandes unterhielt. (…) Ich bin davon überzeugt, dass Edo Fimmen sicherlich mit einem Dutzend verschiedener Gruppen Kontakt hielt.“ Mozers Angaben sind nicht übertrieben und ich könnte Sie an dieser Stelle noch ergänzen. Konstitutiv für das Selbstverständnis war die scharfe Abgrenzung von der Politik der großen Arbeiterorganisationen, insbesondere des ADGB. Die „furchtbare Niederlage der stärksten Arbeiterorganisationen Europas“, heißt es im ersten Flugblatt der ITF im August 1933, sei eine Konsequenz einer Politik „von verbürgerlichten Führern“ und zugleich „jener unfruchtbaren ‚radikalen‘ Zersplitterungspolitik“ der „nicht weniger unfähigen“ Kommunisten. Nur in der „entschiedenen Abkehr“ von dieser Politik sei ein „Wiederaufstieg“ möglich, ohne den es „nur ein Versinken der ganzen Gesellschaft in der Barbarei gebe.“ Die deutschen Arbeiter wurden aufgefordert zum „Wiederaufbau der sozialistischen, der freien Gewerkschaftsbewegung in Deutschland. Diese Einschätzung teilten die Aktivisten der illegalen Gruppen, die zu einem militanten Kampf gegen die Nationalsozialisten bereit gewesen wären. Durch die klare und positive Zielsetzung der ITF erhielt die illegale Arbeit dieser Aktivisten, die sich aus dem ehemals sozialdemokratischen Milieu bei den Eisenbahnern und dem kommunistischen Milieu bei den Seeleuten, Binnenschiffern und Hafenarbeitern rekrutierten, einen organisatorischen Schub und eine politische Perspektive. Wie eng Fimmen auch menschlich mit den deutschen Widerstandskämpfern verbunden war, zeigt ein Brief an die Gruppe deutscher Seeleute der ITF in Antwerpen „Es mag wahr sein, dass ich, indem ich Euch vor 3 Jahren unter meine Fittiche genommen habe etwas zur Förderung der Bewegung der Seeleute gegen den Faschismus und zur Befreiung der deutschen Arbeiterschaft beigetragen habe, andererseits aber hat mir die Zusammenarbeit mit Euch, den Antwerpener Jungens, in mancherlei Hinsicht Mut und Kraft zum Durchhalten eingeflößt, wofür ich euch stets dankbar bin. Dadurch bin ich den wirklich revolutionären deutschen Proleten viel näher gekommen und mit ihnen fühle ich mich mehr geistesverwandt wie mit jemand anders.“ Ich kann an dieser Stelle nicht näher auf den Widerstand der ITF eingehen, sondern beschränke mich auf die illegalen Aktivitäten in den Niederlanden, für die Fimmen auch die niederländischen Gewerkschaften gewinnen konnte. Dies ist umso bemerkenswerter, da die sozialdemokratische Arbeiterpartei die politische Betätigung von Emigranten ablehnte und Anfang 1936 sogar der Ausweisung von Hans Jahn, dem Leiter der illegalen Eisenbahner der ITF zustimmte. Jahn war im Juni 1936 die Flucht aus Berlin gelungen. Von Amsterdam aus leitete er die illegale Arbeit in Deutschland. Niederländische Eisenbahner versteckten illegale Schriften in den Zügen und die ITF informierte die Illegalen in Deutschland über unverfängliche Postkarten, wo das Material zu finden war. Seit Februar 1936 fanden in Venlo in der Wohnung des niederländischen Korteweg Treffen zwischen Fimmen, Jahn und den illegalen Kadern der Eisenbahner aus Westdeutschland statt. Die Treffen endeten mit er Zerschlagung der westdeutschen Gruppe im Februar 1937. In Rotterdam arbeitete seit Anfang 1936 der ehemalige Kommunist Willi Nielebock im Rotterdamer Hafen für die ITF. Im Sommer 1937 wurde er durch Hans Weitkowitz verstärkt. Die Beiden besuchten monatlich 150 bis 200 Rheinschiffe, auf denen sie mit den Besatzungen diskutierten und illegale Literatur verteilten. Zu schätzungsweise 100 Rheinschiffern hatte Nielebock engere Beziehungen. Zeitweise arbeitete die ITF auch unter deutschen Seeleuten. Dank der Protektion des niederländischen Transportarbeiterverbandes genossen die ITF-Kader, so Fimmen, den „allerhöchsten Schutz“ gegenüber den Behörden. Dieser Schutz reichte aber nicht aus gegenüber dem Druck der deutschen Regierung auf die niederländischen Behörden, die Verteilung illegaler Literatur in Rotterdam zu unterbinden. Im Mai 1938 wurde Nielebock als illegaler Ausländer verhaftet und nach Intervention Fimmens nach Luxemburg abgeschoben. Damit endeten auch die illegalen Aktivitäten der ITF im Rotterdamer Hafen. Der Arbeitsausschuss freigewerkschaftlicher Bergarbeiter Auch der Arbeitsausschuss freigewerkschaftlicher Bergarbeiter, den Bergarbeiter aus Deutschland und Emigranten auf einer Konferenz in Paris im Mai 1936 gründet hatten, wurde von der ITF und den niederländischen Gewerkschaften unterstützt. Die praktische Arbeit des Ausschuss wurden von zwei in Amsterdam lebenden Emigranten geleistet: dem linken Sozialdemokraten Franz Vogt und dem Kommunisten Wilhelm Knöchel. Die ITF unterstützte den Arbeitsausschuss bei der Herausgabe ihrer Publikationen, den „Bergarbeiter-Mitteilungen“ für das Ausland und das Exil sowie auf Dünndruckpapier hergestellte „Bergarbeiter-Zeitung“, die in Deutschland verbreitet wurde. Grenzstellen des Arbeitsausschusses bestanden im Verbandsbüro des niederländischen Bergarbeiterverbandes in Heerlen sowie im Gewerkschaftshaus in Maastricht, wo der ehemalige Funktionär des Bergarbeiterverbandes Friedrich Delker in der Kantine arbeitete. Der Arbeitsausschuss bestand bis zum deutschen Einmarsch 1940. Allerdings war das Verhältnis zwischen Vogt und Knöchel nach dem Hitler-Stalin Pakt stark belastet und die Verbindungen nach Deutschland wurden nach Kriegsbeginn immer loser. Das „Wuppertal-Komitee“ (W.K.) In Wuppertal war es der KPD im Sommer 1934 gelungen war, in einem organisierten überbetrieblichen Rahmen, gemeinsam mit Sozialdemokraten und Parteilosen, 61 betriebliche Widerstandsgruppen aufzubauen, die direkt in fabrik-interne Auseinandersetzungen eingriffen, die eigene Zeitungen herstellten und Kurzstreiks in zwei Betrieben auslösten. Ab Januar 1935 zerschlug die Gestapo im engen Kontakt mit anderen Verfolgern des NS-Staates die Widerstandsgruppen. Von 1935 bis 1937 wurden im Großraum Wuppertal insgesamt mehr als 1.900 Menschen als politische Gegner wegen verbotener politischer Betätigung verhaftet und 628 Personen von ihnen wegen Vorbereitung zum Hochverrat zum Teil zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. 17 Aktivisten verloren während der polizeilichen Voruntersuchung ihr Leben. Die sogenannten „Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse“ erlangten eine große internationale Beachtung. Der Internationale Gewerkschaftsbund, die ITF, aber auch der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei im Exil (SOPADE) unterstützen die verhafteten Wuppertaler Arbeiter. Ende 1935 fanden sich Wuppertaler Emigranten und niederländische Bürger und Bürgerinnen im „Centraal Comité Wuppertal Proces“ zusammen. 60 Intellektuelle aus den Niederlanden, darunter viele prominente Professoren, Schriftsteller, Rechtsanwälte und Pastoren unterstützten das Projekt. Die Liste der ungefähr 60 namentlich bekannten Unterstützer und Aktivisten liest sich wie ein „Who is Who“ der niederländischen Arbeiter-, Frauen und Friedensbewegung. Herauszuheben sind die Philosophen Leo Polak und Hendrik Josephus Pos und die Veteranin der niederländischen Arbeiterbewegung Henriette Roland Holst-van der Schalk. Das Komitee trat nach außen hin als rein niederländische Hilfsorganisation auf und verfolgte im Wesentlichen drei Ziele: Es sollte Geld für die Angehörigen der Verhafteten gesammelt werden, um diese moralisch und materiell zu unterstützen und die Solidarität untereinander zu stärken. Zum zweiten sollte international auf die „Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse“ aufmerksam gemacht werden und damit die bevorstehenden Verurteilungen vieler Widerstandsaktivisten behindert werden. Drittens war die Arbeit und die Zusammensetzung des Wuppertal-Komitees eine frühe Umsetzung der Volksfrontkonzepte. Das Wuppertal-Komitee brachte durch seine vielfältigen Aktionen und die politische Ausrichtung als Volksfront, die sich bereits in Frankreich als erfolgreiche Strategie erwiesen hatte, eine internationale Solidaritätsbewegung in Gang, die für diese Zeit einzigartig war. Nach dem Engagement für die Wuppertaler Verfolgten erweiterte das Komitee sein Arbeitsfeld auch auf andere antinazistische Kampagnen wie die Kampagne gegen die Olympiade in Berlin oder gegen die Hinrichtungen von Widerstandskämpfern. Den Vorsitz des Komitees übernahm die Übersetzerin Selma Meijer. Selma Meijer war Mitglied der sozialdemokratischen Arbeiterpartei und in der niederländischen Frauenbewegung aktiv. Sie arbeitete u.a. als Sekretärin der Hauptverwaltung des „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“. Als Sekretär fungierte Arzt Dr. A.C. Oerlemans, der auf Grund seiner sozialen Einstellung und Hilfsbereitschaft „Kommunistendoktor“ bezeichnet wurde. Für die Öffentlichkeitsarbeit war die ehemalige Lehrerin Anna Aleida Alma-Heijnen zuständig, die sich ebenfalls in der Solidarität mit dem republikanischen Spanien und in der Frauenbewegung engagierte. Unterstützung fand das Wuppertal-Komitee auch von dem bereits erwähnten Franz Vogt. Darüber hinaus arbeiteten Exilanten aus Wuppertal für das Komitee, u.a. Ewald Seiler u. Claire Muth, deren Mann Willi im Januar 1935 von der Gestapo erschlagen wurde. Die Mitglieder des Wuppertal-Komitees waren keineswegs nur Staffage der kommunistischen Einheits- und Volksfrontpolitik. Viele der Prominenten hatten sich bereits vorher für deutsche Flüchtlinge eingesetzt und waren im „Wachsamkeitskomitee antinationalsozialistischer Intellektueller“ organisiert. Sie waren in der Mehrheit keine Parteigänger von Stalins Sowjetunion, sondern zum Teil ausgewiesene Kritiker und Dissidenten der kommunistischen Bewegung. Nicht unerwähnt bleiben soll vor allem die bewundernswerte Solidarität der meist kommunistischen Arbeiterfamilien, die trotz ihrer eigenen Armut illegale Flüchtlinge aufnahmen. Wie eng der Zusammenhalt zwischen deutschem Widerstand und ihren niederländischen Genossen war, zeigt ein Brief des deutschen Anarchosyndikalisten Fritz Benner, der Anfang 1935/36 illegal in Amsterdam lebte, an einen niederländischen Genossen. „Die Schweden sind ja auch gute Kameraden, leisteten auch Solidarität, solange es nötig war. Aber es ist nicht dasselbe wie es bei Euch war. Die Schweden nahmen aus großen Kassen. Ihr sammelt per Cent zusammen. Solche Sachen, die für Euch Holländer und auch für uns sozialistische Deutsche selbstverständlich sind, wie: ins Haus aufnehmen, Pässe besorgen usw. kennen die Schweden nicht.“ Aber Benner schrieb auch über die Differenzen mit den niederländischen Genossen: „Ich war selbst in drei Konzentrationslagern. (…) Sehr schnell merkte ich in Holland, dass auch die Elite eines Volkes, die Arbeiterklasse, nicht in der Lage ist, durch Zeitungen und Bücher sich ein Bild von der wirklichen Lage eines anderen Landes zu machen. Wie tief ein Mensch durch Misshandlungen sinken kann, konnten die Genossen einfach nicht begreifen.“ Leider machten viele Niederländer später diese von Benner beschriebene Erfahrung. Zum Schluss möchte ich deshalb auf das weitere Schicksal der von mir erwähnten Personen eingehen. Das Sekretariat der ITF übersiedelte im August 1939 nach London. Edo Fimmen starb nach langer Krankheit am 14. Dezember in Cuernavaca (Mexiko). Walter Auerbach und Hans Jahn führten den Kampf gegen den Nazismus von London aus bis zum Ende des Krieges weiter. Auerbach übernahm auf Wunsch der Gewerkschaften 1946 das Amt des Vizepräsidenten des Zentralamts für Arbeit in der Britischen Zone und war seit 1948 Staatssekretär im niedersächsischen Arbeitsministerium. Hans Jahn war Vorsitzender der Eisenbahnergewerkschaft und Bundestagsabgeordnete der SPD. Willi Nielebock ist in Frankreich verschollen. Franz Vogt nahm sich beim Einmarsch der deutschen Truppen das Leben. Der eng mit Vogt zusammenarbeitende Rudolf Quast war persönlicher Referent des Vorsitzender der IG Bergbau und von 1961-1967 Geschäftsführer der Stiftung Mitbestimmung, der späteren Hans Böckler Stiftung. Wilhelm Knöchel wurde am 24. Juli 1944 in Brandenburg hingerichtet, nachdem er vergeblich versucht hatte, eine neue Leitung der KPD in Deutschland aufzubauen. Die Arbeit des Wuppertal-Komitees war auch vom NS-Regime aufmerksam verfolgt Als die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 die Niederlande überfiel, waren daher vor allem die jüdischen Niederländer, die für das Wuppertal-Komitee gearbeitet hatten, in größter Gefahr. Insgesamt 6 jüdische Komitee-Mitglieder fanden gewaltsam den Tod. Selma Meijer wurde vom Sicherheitsdienst der SS nach Berlin verbracht, wo sie Folterverhören ausgesetzt war. Sie starb nur wenige Monate später in einem jüdischen Krankenhaus. Claire Muth war Vorsitzende der IG Textil-Bekleidung-Leder in der DDR. Ewald Seiler kämpfte während des Krieges in der niederländischen Widerstandsbewegung. Ich möchte zum Schluss noch auf die Frage eingehen, welche Bedeutung die Kämpfe der Vergangenheit uns heute sagen können. In einer Rede über den Bildungsauftrag der Gewerkschaften gab der Philosoph Max Horkheimer eine Antwort auf die Frage, was „als Bildung“ vermittelt werden sollte. „Zum besonderen Erbgut gehören die Theorien derer, die in der europäischen Geschichte für Freiheit und Gerechtigkeit eintraten und ihr Leben ließen, und alle Kämpfe, die damit zusammenhängen. Die Theorien wären von den Lernenden nicht bloß zu memorieren, sondern mit offenen Sinnen aufzunehmen, ohne dass sie ihnen verfallen dürften. Es gilt, Sie kritisch zu durchdenken, und dabei ihre Wahrheit zu retten, auf den Heroismus der Kämpfe stolz zu sein und hinter den Heldensagen offizieller Geschichtsschreibung das unaufhörliche Grauen, die Unterdrückung und Gemeinheit zu erfassen, die ein Leitmotiv der Geschichte bilden.“ „Auf den Heroismus der Kämpfe stolz zu sein“ und sie gleichzeitig „kritisch zu durchdenken“. Dies könnte ein Leitmotiv für eine weitere Erforschung des und Erinnerung an den deutsch- niederländischen Widerstand sein, in dem die „großen Männer“ wie Fimmen ebenso ihren Platz erhalten sollten, wie die noch Namenlosen, die Flüchtlinge aufnahmen und unterstützten. Die kollektive Erinnerung ist immer noch sehr nationalisiert. Deshalb hat zum Beispiel Fimmen in Deutschland und speziell auch in den Gewerkschaften immer noch nicht den Platz in der Erinnerung, der ihm gebührt. Aber gerade die Gewerkschaften könnten der Träger einer europäischen und transnationalen Erinnerung sein und dabei, wie ich hoffentlich gezeigt habe, an Ideen und Kämpfe anknüpfen, die auch heute noch eine politisch-moralische Orientierung bieten können. Allerdings mit der Einschränkung, um mit einem Zitat Fimmens zu enden, „dass die Gewerkschaftsbewegung noch etwas anderes ist als eine Maschine zur Erhöhung der Löhne und Verminderung der Arbeitszeit.“
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