Antoine Destemberg, L`honneur des universitaires

Francia­Recensio 2015/4
Mittelalter – Moyen Âge (500–1500)
Antoine Destemberg, L’honneur des universitaires au Moyen Âge. Étude d’imaginaire social, Paris (Presses universitaires de France) 2015, 389 p., 32 fig. (Le Nœud gordien), ISBN 978­2­13­059431­4, EUR 32,00.
rezensiert von/compte rendu rédigé par
Marcel Bubert, Göttingen
Eines der erklärten Ziele der Dissertation von Antoine Destemberg besteht darin, eine Phänomenologie der universitären Ehre im Mittelalter zu erarbeiten. Dieses Vorhaben legt bereits nahe, dass die Darstellungsweise, derer sich der Autor bedient, weniger durch Linearität gekennzeichnet ist, also nicht die Form eines sukzessive entfalteten Narrativs von der Entstehung der akademischen Ehre annimmt. Destembergs Zugriff ist vielmehr systematisch: In drei separaten, chronologisch unabhängigen Kapiteln wird das Thema jeweils unter einem bestimmten Gesichtspunkt erörtert. Der erste Teil beschreibt die fama publica der Universitätsleute, wie sie in der Wahrnehmung der Zeitgenossen begegnet, und die Art und Weise, wie sich die universitäre Ehre in der ritualisierten Kommunikation ihrer Träger mit der politischen Macht, dem französischen Königshof, manifestiert. Demgegenüber liegt der Fokus im zweiten Teil des Buches auf den Konstruktionsmechanismen der Ehre, wobei Destemberg vor allem die universitätsinterne Sozialisation in den Blick nimmt, die sich im cursus honorum, der akademischen Laufbahn des Einzelnen mit ihren spezifischen Ritualen, vollzieht. Teil 3 schließlich ist den Konflikten gewidmet, die durch den Anspruch der Universitätsmitglieder auf eine kollektive Identität und Ehre provoziert wurden, sowohl mit Akteuren, die außerhalb der Gruppe stehen, als auch innerhalb der universitären Gemeinschaft selbst. Diese kurze Skizze des Inhalts der drei Kapitel macht deutlich, welche Bedeutung und Tragweite dem Begriff der Ehre in Destembergs Ansatz zukommt. Die Untersuchung und Beschreibung der universitären Ehre zeichnet ein weit ausgreifendes und konturenreiches Profil der sozialen Identität der Universitätsleute und liefert eine minutiöse Analyse der Faktoren, die zur Konstitution dieser Identität beitrugen. Den Identitätsbegriff stellt der Autor allerdings bewusst in den Hintergrund, um mit der Ehre einer zeitgenössischen Konzeption des sozialen Seins den Vorzug zu geben. Diese gestaltet sich als ein symbolisches Kapital der Akteure, welches sie durch vielfältige diskursive und nicht­
diskursive Strategien prätendierten und gegen Angriffe verteidigten. Dazu zählen etwa die städtischen Prozessionen der Universität, die für Destemberg geradezu die »Inkarnation« der Ehre der Universitätsmitglieder darstellen. Durch den cursus honorum und die Initiationsriten, die mit dessen verschiedenen Stufen verbunden waren, erwarb der Einzelne einen akademischen Habitus, durch welchen er sowohl zum Träger und Repräsentanten, als auch zum Produzenten der Ehre seiner Gemeinschaft wurde. Ein Angriff auf ein Mitglied der Universität wurde als Angriff auf die Ehre der gesamten Gruppe ausgelegt, deren Wiederherstellung die Universität immer wieder erfolgreich Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
einforderte. Von den damit verbundenen Praktiken profitierte die ganze Universität, insofern ihre kollektive Ehre wiederum sichtbar gemacht und bestätigt wurde.
Der Breite der thematischen Aspekte, die der Autor integriert, entspricht eine Vielfalt an methodischen Zugängen: Destemberg gelingt ein kontrollierter und in seiner Dosierung äußerst fruchtbarer Theorieeklektizismus, der für die verschiedenen Perspektiven auf das Phänomen der Ehre jeweils adäquate theoretische Ansätze bereitstellt. Ritualtheorie, Sprechakttheorie, Praxeologie oder die Forschungen zur memoria werden dort zum Einsatz gebracht, wo sie gebraucht werden, ohne sich von der Empirie zu entfernen. Die empirische Grundlage wiederum ist nicht weniger umsichtig konzipiert: Sehr positiv ist zu erwähnen, dass der Autor heterogene Quellengruppen berücksichtigt und aufeinander bezieht, indem er administrative ebenso wie scholastische Texte, ikonografische wie epigrafische Quellen auswertet. Predigten werden ebenso miteinbezogen wie Quodlibeta, Siegel oder bildliche Darstellungen in Handschriften. Mit dieser kulturwissenschaftlichen Herangehensweise, die sich in Methode und Quellenauswahl manifestiert, ist Destembergs Arbeit ein einschlägiges Beispiel für eine »neue« Universitätsgeschichte, die sich nicht darin erschöpft, prosopografische Daten zu sammeln oder institutionelle Strukturen zu beschreiben, sondern mit einem systematischen, theoriegeleiteten Zugriff die Verzahnung von sozialen Bedingungen und kulturellem Imaginarium sichtbar macht. So gelangt Destemberg zu originellen Ergebnissen: Auf allen von ihm untersuchten Ebenen kann er die prägende Rolle einer fundamentalen Dialektik aufzeigen, welche die Erscheinungsformen der universitären Ehre konditioniert. Die fama publica der Magister und Scholaren erscheint in der Perzeption der Zeitgenossen in Form einer Dialektik zwischen gruppenspezifischen Tugenden und Lastern, die das soziale Profil der Universitätsleute konstituieren. In der ikonografischen Repräsentation der Universität begegnet die Gemeinschaft ihrer Mitglieder vor allem in Gestalt eines einzelnen Individuums, das aber als Inkarnation kollektiver Werte erscheint. Die Ehre der universitären Gemeinschaft manifestiert sich in einer Dialektik zwischen der individuellen Ehre des Einzelnen und der kollektiven Ehre seiner sozialen Gruppe. Die spannungsvolle Relation von Individualität und Kollektivität wird schließlich noch einmal im dritten Teil des Buches eigens thematisiert: Das Bestreben einzelner Akteure, eine individuelle Identität und Ehre zu artikulieren, steht in einem konflikthaltigen Verhältnis zum Anspruch der Gemeinschaft auf eine kollektive Ehre. Mit der Erörterung dieses für die universitäre Identität konstitutiven Spannungsfelds gelingt Destemberg ein anregender Beitrag zum Thema »Individualität« im Mittelalter. Die drei Teile des Buches bilden in der Gesamtsicht ein umfassendes und stimmiges Bild, das gerade durch die Pluralität der Perspektiven, welche die jeweiligen Kapitel artikulieren, erreicht wird. Auch bleibt trotz der nicht­linearen Darstellungsweise des Werks ein übergreifendes Narrativ nicht aus: Destemberg konstatiert sehr wohl eine Entwicklung der universitären Ehre bis zum Ende des Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Mittelalters, die sich in mehreren Stufen vollzieht und mit sich wandelnden Praktiken und historischen Kontexten verbunden ist. Diese Entwicklung, die vor allem in der Mitte des 14. Jahrhunderts einen Einschnitt erfährt, wird im abschließenden Resümee nachgezeichnet.
Bei dem ambitionierten Vorhaben, das Destemberg verfolgt, bleiben freilich auch kleinere Kritikpunkte nicht aus. Ich möchte mich hier nur auf einen Aspekt beschränkten, der jedoch für verschiedene Bereiche relevant ist. Während der Autor sehr viel Mühe darauf verwendet, »die« Ehre der Universitätsleute zu erschließen, werden universitätsinterne Differenzen allzu leichtfertig übergangen und nicht ausreichend berücksichtigt. Bereits im 13. Jahrhundert gab es in Paris einen »Streit der Fakultäten«, dem eigene, disziplinenspezifische Identitäten zugrunde lagen. Die Philosophen oder Juristen verfügten – neben ihrer allgemeinen universitären Identität – über ein jeweils eigenes Gruppenbewusstsein und eigene Habitusformen. Vom dem einen akademischen Habitus zu sprechen, der im Laufe der universitären Sozialisation erworben wurde, würde daher zu kurz greifen. Auch kann das System der Tugenden und Laster, die Destemberg als Konstituenten »der« universitären Ehre ansieht, nicht immer für alle Universitätsmitglieder verallgemeinert werden: Die Habgier beispielsweise wurde schon seit dem 12. Jahrhundert vor allem mit den Juristen verbunden, während Wollust und Gewalttätigkeit eher auf die jungen Artes­Studenten zielen. Das Kapitel über Konflikte beschränkt sich auf die Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft, ohne das Konfliktpotential gruppenspezifischer Identitäten im Inneren der Universität zu thematisieren, das den Kollektivitätsanspruch der Gemeinschaft infrage stellt, ohne ihn jedoch zu negieren. Hier lässt sich eine weitere Dialektik auffinden, die Destembergs Thesen sinnvoll ergänzt.
Freilich ändert dies alles wenig an dem hohen Wert dieser zu Recht preisgekrönten Dissertation. Das Buch von Antoine Destemberg stellt mit seiner produktiven Herangehensweise ein Vorbild für kulturwissenschaftliche Forschungen zur Universitätsgeschichte dar.
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