R. Hülsheger: Die Adolf-Hitler-Schulen 2016-1-114 - H-Soz-Kult

R. Hülsheger: Die Adolf-Hitler-Schulen
Hülsheger, Rainer: Die Adolf-Hitler-Schulen
1937–1945. Suggestion eines Elitebewusstseins.
Weinheim: Beltz Juventa 2015. ISBN: 978-37799-2653-5; 277 S.
Rezensiert von: Gisela Miller-Kipp, Philosophische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität
Düsseldorf
Elite-Rede und Elite-Propaganda gehören zu
einer politischen Diktatur wie das Amen zur
Kirche. Ihre Funktion ist stets, die Machthaber und Führungskader als solche nach außen zu legitimieren und nach innen kollektivpsychologisch zu festigen. Auslese, soziale
Formierung und Erziehung variieren historisch, aber stets gehören besondere Institutionen, zumeist Schulen und Schulungseinrichtungen dazu. Genau dort treten Brüche, treten Widersprüche zwischen Propaganda und
Wirklichkeit zutage, sei es, dass soziale Daten, institutionelle Prozesse und/oder pädagogische Praxen der Elite-Behauptung oder
dem Elite-Anspruch nicht entsprechen, sei es,
dass der Schul(ungs)erfolg ihm nicht gerecht
wird. Für die „Elite-Schulen“ der nationalsozialistischen Diktatur1 – hier die Adolf-HitlerSchulen (AHS), die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (NPEA2 ) und die Reichsschule der NSDAP Feldafing – ist längst auf
solche Widersprüche hingewiesen, dabei ist
die Elitezuschreibung als Propaganda und
als Bewusstseinsphänomen beschrieben worden.3 Jetzt legt Rainer Hülsheger für die
AHS einen Band vor, der im Untertitel verspricht, sich dem Zustandekommen eben dieses Elite-Bewusstseins wieder zuzuwenden
– die jüngste Veröffentlichung in einer langen Reihe. Daher stellt sich die Frage nach
dem historischen und/oder historiographischen Zugewinn.
Die Geschichtsschreibung zu den „Eliteschulen“ des „Dritten Reiches“ – neben den
oben genannten zählen dazu noch die SSJunkerschulen und die NS-Ordensburgen, auf
letzteren waren viele AHS provisorisch untergebracht – verläuft in charakteristischer Kurve. Zu den beiden Oberschulen, AHS und
NPEA, beginnt sie Mitte der 1960er-Jahre
mit naiver institutionsgeschichtlicher Rekonstruktion.4 Gegen sie gerichtet erscheint 1973
die erste gründliche und bis heute grund-
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legend kritische Studie von Harald Scholtz,
selbst ehemaliger AH-Schüler.5 Ihr folgt ein
Vierteljahrhundert später wie auf Verabredung ab 1997 eine Flut von Erinnerungsliteratur – die Ehemaligen drängte es zur Mitteilung; sie ist überwiegend positiv. Diese Flut
verebbt ziemlich abrupt mit 2010.6 Mittendrin
erscheint das Buch von Barbara und Rolf Feller, das die Erinnerungserzählungen unkritisch antinomisch ordnet, zugleich aber auch
eine quellengesättigte institutionelle Rekonstruktion liefert.7
Angesichts dieser Geschichtsschreibung
sieht Hülsheger das Verdienst seiner Publikation darin, einen „Gesamtüberblick“ zu
leisten, der „stärker in die Tiefe“ ginge als
„die vorangegangene Literatur“, und dies
auf „breiter Quellenbasis“ (S. 13). Nun ist
die historische „Tiefe“ eher ein Mystikum,
und ich kann sie dem Band auch nicht attestieren. Im Gegenteil: Er liefert die bislang
vollständigste Darstellung der AHS und
1 Die
nationalsozialistische Erziehungspropaganda redete von den „Besten“, von „Besten-“ und von „Führerauslese“, der Elitebegriff wurde dazu erst in der Sekundärliteratur nach 1945 supponiert.
2 Populär auch „Napola“, was historisch nicht korrekt
ist. „Napola“ hießen genau die zweiwöchigen „Nationalsozialistischen Schulungslager“, die der Reichserziehungsminister der Abiturientia 1934 vor der Meldung zum Abitur zur Pflicht machte; der Erlass wurde
im selben Jahre wieder aufgehoben.
3 Zuerst bei Harald Scholtz, Nationalsozialistische Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des
Führerstaates, Göttingen 1973; ferner Gisela MillerKipp, „Klasse Schule – immer genug zu essen, wenig Mathematik“. Elitebildung im „Dritten Reich“ oder
über die Herstellung von Elite-Bewusstsein, in: Jutta
Ecarius / Lothar Wigger (Hrsg.), Elitebildung – Bildungselite, Opladen 2006, S. 44–66.
4 Horst Ueberhorst, Elite für die Diktatur, Düsseldorf
1969.
5 Scholtz, Nationalsozialistische Ausleseschulen.
6 Vgl. auch das „Quellen- und Literaturverzeichnis“ bei
Hülsheger (S. 259ff.); dort ist die autobiographische
Erinnerungsliteratur irritierenderweise ohne quellenkritische Unterscheidung der Literaturgattungen zusammen mit der Sekundärliteratur vor und nach 1945
aufgeführt; als Auslassung fällt auf: Johannes Leeb
(Hrsg.), Wir waren Hitlers Eliteschüler. Ehemalige Zöglinge der NS-Ausleseschulen brechen ihr Schweigen,
Hamburg 1998.
7 Barbara Feller / Rolf Feller, Die Adolf-Hitler-Schulen.
Pädagogische Provinz versus Ideologische Zuchtanstalt, Weinheim 2001. Die Ordnung der Erinnerung basiert auf 31 narrativen Interviews.
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enthält das reichhaltigste Quellenmaterial.8
Dieses stammt aus privaten Sammlungen;
dazu hatte Hülsheger das Glück, über das
ganze Privatarchiv von Franz Albert Heinen9
verfügen zu können; auf staatliche Archive
greift er, anders als alle Autoren vor ihm,
nicht mehr zurück. Hülshegers Stärke sind
die Fakten. Sie summieren sich in 14 jeweils einzelnen Sachverhalten gewidmeten
Kapiteln zu einer wünschenswert vollständigen institutionellen Rekonstruktion, zu
detaillierter Beschreibung der Schulbauten
und des Schulbetriebs, der Schulklientel,
des Unterrichts (Fächer, Medien, Gestaltung), des Schulalltags, der Unternehmungen
und der außerschulischen pädagogischen
Praxen, darunter besonders beachtlich die
gesellschaftlichen
„Bewährungseinsätze“
vom Lagerdienst bis zum aktiven Kriegseinsatz. Veranschaulichung des Schulbetriebs
zieht Hülsheger dabei vor allem aus den
von ihm angestellten „Befragungen“ (S. 5)
sowie aus bereits publizierten Erinnerungen ehemaliger AH-Schüler, insgesamt 37
Stück. Zur Beschreibung bzw. Benennung der
normgebenden Erziehungszwecke, darunter
hier erstmals auch die für die AH-Schüler
ausgegebenen Umgangs- und Benimmregeln,
greift Hülsheger kommentarlos auf offiziell
ausgegebenes Schrifttum zurück. So geraten
pädagogische Programmatik und pädagogische Propaganda der AHS in dieses Buch,
ohne dass sich der Autor ihrer historischkritisch annähme. Das setzt Vertrauen in den
Leser voraus.
Erinnerungsliteratur und „Befragungen“
wären auch das Material dafür, der im
Untertitel des Bandes thematisierten Bewirkung von Elitebewusstsein nachzugehen, allein Hülsheger nutzt die „Sichtweisen“ (S. 8)
der Ehemaligen nur zur erzählenden Alltagsbeschreibung. Eine (kollektiv)psychologische
Analyse dieser „Sichtweisen“, eine Systematik der mentalitären Wirkungen und, vor allem, des psycho-emotionalen Wirkungszusammenhangs bleiben aus, an vorliegende
Studien dazu wird nicht angeknüpft. In zwei
Kapiteln durfte man das aber durchaus erwarten: Im Kapitel „Indoktrination – Mentalitätsprägung“ (Kap. 7), dort werden jedoch nur die Unterrichtsmittel indoktrinatorischer Absicht und einige Wirkungseindrü-
cke aufgereiht, oder im Kapitel „Neubeginn
nach 1945“ (Kap. 14); dort hält sich Hülsheger aber wiederum nur an Fakten, er verfolgt
die beruflichen Laufbahnen ehemaliger AHSchüler und verzeichnet sie tabellarisch. Sie
ergeben ihm „deutliche Anhaltspunkte für eine erfolgreiche berufliche Laufbahn“ (S. 254)
nach 1945, was ihn den ganzen Band mit der
Feststellung schließen lässt, dass „ehemalige
Schüler [. . . ] über positive Dispositionen [verfügen], die sowohl in ihnen selbst als auch in
der äußeren Situation zu suchen sind, um einen Neubeginn nach [. . . ] 1945 zu meistern“
(S. 256) – das ist leider nur eine Allerweltsfeststellung. Löst der Band also das suggestive Versprechen seines Untertitels nicht ein, so
liefert er doch vorzügliches Material für anschließende Studien.
HistLit 2016-1-114 / Gisela Miller-Kipp über
Hülsheger, Rainer: Die Adolf-Hitler-Schulen
1937–1945. Suggestion eines Elitebewusstseins.
Weinheim 2015, in: H-Soz-Kult 19.02.2016.
8 45
Stück, bei Feller / Feller, Die Adolf-Hitler-Schulen,
sind es 36 Stück; soweit es sich dabei um Überlassungen Ehemaliger handelt, sind die Gattungen identisch
(Schulhefte, Zeugnisse, Lehrpläne, Schülerzeitungen,
Elternbriefe, persönliche Fotos usw.).
9 Ihm dankt Hülsheger (S. 7), ohne ihn dem Leser bekannt zu machen. Heinen, Sachbuchautor aus Schleiden (Sitz der Standortentwicklungsgesellschaft Vogelsang) verfolgte die Geschichte der Ordensburg Vogelsang und ist bei deren Umformatierung zum Bildungsund Erinnerungsort 2002ff. engagiert.
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