Chancen für Familien Jenseits von Zuständigkeiten

Chancen für Familien
Jenseits von Zuständigkeiten Wer, wenn nicht wir?
Handlungsempfehlungen für eine
langfristige Kooperation
zwischen Jugendhilfe und Jobcenter
Unterstützung durch:
Inhalt
1
Vorwort ........................................................................................................................................... 3
2
Auf einen Blick ................................................................................................................................ 4
3
Impulse für ein verändertes Denken .............................................................................................. 6
4
5
6
7
3.1
Öffentliche Haushalte in der Krise ........................................................................................... 6
3.2
Armut – Risiko für die kindliche Entwicklung .......................................................................... 7
3.3
Nebeneinander statt miteinander ........................................................................................... 9
3.4
Die Projektidee "Chancen für Familien" .................................................................................. 9
Lebensrealität der Projekt-Familien ............................................................................................. 10
4.1
Instabile Familien................................................................................................................... 11
4.2
Geringes Sozialkapital ............................................................................................................ 12
4.3
Geringe Qualifikation und fehlende Nähe zum Arbeitsmarkt ............................................... 14
4.4
Resignation und Hilflosigkeit ................................................................................................. 15
Zwei Gesetzbücher, zwei Philosophien, zwei Organisationen, zwei….......................................... 17
5.1
Unterschiede erkennen – Ausgangslagen verstehen – Kooperationen entwickeln.............. 17
5.2
Lähmung und Rückzug ........................................................................................................... 19
5.3
Herausforderung für die Fachkräfte ...................................................................................... 21
Handlungskonzept in Lünen ......................................................................................................... 21
6.1
Gemeinsame Ziele ................................................................................................................. 21
6.2
Schritte der kooperativen Begleitung.................................................................................... 22
6.3
Instrumente und Verfahren zur Umsetzung ......................................................................... 24
6.3.1
Einverständniserklärung ................................................................................................ 25
6.3.2
Dreiecksgespräche ......................................................................................................... 25
6.3.3
Denken in Perspektiven ................................................................................................. 26
Empfehlungen zur Umsetzung...................................................................................................... 27
7.1
Eine strategische Entscheidung fällen ................................................................................... 27
7.2
Strukturen schaffen und Verbündete finden ........................................................................ 28
7.3
Ganzheitlich denken auf Leitungsebene ............................................................................... 31
7.4
Mitarbeiter aktiv einbinden................................................................................................... 32
7.5
Einen langen Atem haben ..................................................................................................... 34
7.6
Das Miteinander managen .................................................................................................... 34
7.7
Netzwerke initiieren und einbinden ...................................................................................... 35
7.8
Mitarbeiter fachlich unterstützen ......................................................................................... 37
7.9
Monitoring und Datenanalyse ............................................................................................... 38
7.10
8
Wirkungen messbar machen – das SROI Modell............................................................... 38
Zusammenfassung ........................................................................................................................ 41
8.1
Wie Kooperation gelingen kann ................................................................................ 42
8.2
Was wir nächstes Mal anders machen würden ........................................................ 44
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1 Vorwort
"Manchmal muss es erst schlechter werden, damit es besser wird."
Als Jugend- und Sozialdezernent habe ich häufig erleben müssen, dass die Erkenntnis zur
Veränderung allein häufig nicht ausreicht, um Entwicklungen in Gang zu setzen.
Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise gab es die große Sorge, dass viele Unterstützungsmöglichkeiten für die Menschen in der Stadt in der Zukunft nicht mehr finanzierbar sind. Das war
der Impuls für das Projekt "Chancen für Familien".
Ich bin allen Projektbeteiligten dankbar, dass sie als Reaktion auf die Krise in Kooperationen
und Perspektiven gedacht und nicht reflexartig ratlos mit den Schultern gezuckt haben.
Meine langjährige Verwaltungserfahrung hilft mir zu verstehen was es bedeutet, wenn sich
zwei Organisationen mit unterschiedlichen Aufträgen und verschiedenen Rechtsgrundlagen
auf den Weg machen, auf die Gemeinsamkeiten statt auf das Trennende zu schauen. Gerade
der gemeinsame Blick mit den Menschen auf deren persönliche Situation ist ein häufig postulierter Grundsatz der Sozialpolitik. Im täglichen Leben kommt er aus meiner Sicht oft zu
kurz.
Bei dieser Sichtweise war die volkswirtschaftliche Komponente immer gleichzeitig im Blick.
Ausschlaggebend ist nicht, ob Unterstützungsleistungen von der einen oder der anderen
Organisation übernommen werden müssen. Ausschlaggebend ist, ob es gelingt, Eltern und
Kindern unabhängig von Transferleistungen zu machen.
Das Projekt ist in Lünen Alltag geworden. Einen größeren Erfolg kann ich mir nicht wünschen.
Herzlichen Dank an alle Beteiligten!
Günter Klencz
Erster Beigeordneter der Stadt Lünen
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2 Auf einen Blick
Das Projekt "Chancen für Familien - Jenseits von Zuständigkeiten - Wer, wenn nicht wir?"
wurde im Frühjahr 2010 von Ludger Trepper, Fachdezernent für Jugend, Familie und Soziales
der Stadt Lünen, und von Uwe Ringelsiep, Geschäftsführer des Jobcenters des Kreises Unna,
konzipiert. Die fachliche Begleitung, Moderation und Koordination des Projektes erfolgte
durch das Institut für soziale Innovation aus Solingen.
Kooperationspartner waren das Jobcenter des Kreises und der Jugendhilfedienst der Stadt.
Der Jugendhilfedienst hat in Lünen die Aufgaben, die in anderen Städten dem Allgemeinen
Sozialen Dienst zugeordnet sind.
Ziel des Projektes war es, die Teilhabechancen von Familien und Bedarfsgemeinschaften, die
sowohl SGB II als auch SGB VIII beziehen, zu verbessern - durch eine systematische Kooperation von Jugendhilfe und Jobcenter. Im Projektverlauf hat sich gezeigt, dass eine solche Zusammenarbeit dazu beitragen kann,
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die Geschichte problematischer Lebens- und Bildungskarrieren zu unterbrechen
eine frühe, ganzheitliche Förderung der Familien zu ermöglichen
die familiären Systeme und die Lebensverhältnisse der Betroffenen zu stabilisieren
die Ressourcen des Sozialraumes zu stärken.
Die Projektverantwortlichen gingen davon aus, dass die Kooperation auch einen langfristigen
volkswirtschaftlichen Nutzen haben kann. Indem nämlich durch eine verbindliche Zusammenarbeit aller Beteiligten
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ein Hin- und Herschieben von Verantwortung vermieden wird ("Schwarzer-PeterSpiel")
direkte und indirekte soziale Folgekosten des "Nichthandelns" gesenkt werden
die Summe der Transferleistungen langfristig reduziert wird (Vorsorge statt teurer
Nachsorge)
die Einnahmen in die sozialen Sicherungssysteme gesteigert werden und sich die
Kaufkraft von einkommensschwachen Bevölkerungskreisen erhöht, weil die Betroffenen verbesserte berufliche Teilhabechancen haben.
Das Projekt begann im Sommer 2010 im Stadtteil Lünen-Gahmen. Besonders in den Blick
genommen wurden Familien oder Bedarfsgemeinschaften, die schon lange Transferleistungen aus dem SGB II und Unterstützung aus dem SGB VIII erhielten. In der Anfangsphase ging
es erst einmal darum, Strukturen für die Zusammenarbeit von Jugendhilfedienst und Jobcenter aufzubauen. Außerdem mussten formale Voraussetzungen für das Projekt geschaffen
werden (Datenschutz, Buchstabenprinzip, Unterstützungsverfahren). Und schließlich galt es,
die Rollen und Aufgaben der professionellen Akteure (Führungskräfte, Praktiker) aus beiden
Systemen - Jugendhilfedienst und Jobcenter - aufeinander abzustimmen. Zentrale Aktivitäten in der ersten Projektphase waren:
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Analyse der Ausgangssituation, Interviewstudie (Familien und Praktiker)
Einrichtung einer Steuerungsgruppe
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Durchführung erster Praktiker-Workshops
Klärung von Management- und Monitoringfragen
Durchführung begleitender Aktivitäten (Qualifizierungsmaßnahmen, SozialraumWorkshops, öffentliche Präsentation beim Lüner Dialog im Jugendhilfeausschuss)
Erarbeitung konzeptioneller Grundlagen
Im weiteren Projektverlauf wurden abgestimmte Verfahren der Kooperation entwickelt. Zum
Beispiel:
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Raster der fallbezogenen Kooperation
Einverständniserklärung der Familien zur Absicherung des Datenschutzes
Eckpunkte zur Durchführung von Dreiecksgesprächen zwischen Familien sowie den
Fachkräften des Jobcenters Kreis Unna und des Jugendhilfedienstes, entsprechend
den üblichen Kriterien in Hilfeplanverfahren oder bei Eingliederungsvereinbarungen
Einbindung der Bedarfsgemeinschaften ins Fallmanagement des Jobcenters Kreis Unna, damit eine zeitaufwendigere Betreuung möglich wurde
Verfügung der Geschäftsführung des Jobcenters Kreis Unna zur Mitwirkung an dem
Kooperationsprojekt
Etablierung von regelmäßigen Praktiker-Workshops für Feedback und Reflektion
Gemeinsame Teilnahme der Praktiker an Fortbildungen zum Fallmanagement und zur
Sozialraumorientierung
Durchführung jährlicher Sozialraum-Workshops zur Stärkung der Kooperation im
Stadtteil
Vereinbarung verbindlicher Dokumentations- und Informationsverfahren (ExcelListen)
Erstellung eines ersten Monitoringberichts
Ab Januar 2012 erfolgte die Ausweitung des Kooperationsprojektes auf das ganze Stadtgebiet. Seit Januar 2013 läuft das Projekt ohne externe Begleitung. Die Finanzierung erfolgte
durch:
-
KOMM-IN Förderung des Landes NRW
Städtische Förderung
Landesjugendamt (LWL)
Lions Club Lünen
45.000 €
50.000 €
5.000 €
4.300 €
Parallel zum Kooperationsprojekt "Chancen für Familien" hat die Stadt Lünen weitere Verbesserungen in ihrem Hilfesystem vorgenommen. Unter anderem die Einführung eines systematischen Rückkehrmanagements und eines Sozialraumbudgets. Außerdem wurde der
Pflegekinderdienst personell gestärkt. Dies führte dazu, dass innerhalb eines Jahres
(2011/2012) die Ausgaben für die Hilfen zur Erziehung in Lünen um rund eine Million Euro
gesenkt werden konnten. Die unmittelbaren Zusammenhänge sind allerdings aufgrund des
kurzen Zeitraums noch nicht darstellbar. Die Verantwortlichen gehen aber davon aus, dass
die getroffenen Maßnahmen, die systematische Auseinandersetzung der Fachkräfte mit dem
Thema "Kooperation" und die begleitenden Fortbildungen einen beträchtlichen Anteil an der
Ausgabenreduzierung haben. Langfristig soll durch die Etablierung des wirkungsorientierten
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Monitoring-Systems im Sinne eines Social Return on Investment (SROI) nachgewiesen werden können, welche Erfolge durch das Kooperationsprojekt erzielt werden konnten.
Das vorliegende Handbuch will Fachkräfte dazu anregen und ermutigen, nach Möglichkeiten
der Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Unterstützungssystemen zu suchen. Ganz
bewusst werden dabei sowohl die Ebene der Praktiker, die Leitungsebene als auch die politische Ebene der Entscheidungsträger in den Blick genommen. Anhand der in Lünen gesammelten Erfahrungen wird gezeigt, unter welchen Bedingungen ein Kooperationsprojekt gelingen kann. Deutlich gemacht wird aber auch, wo Stolpersteine und Hindernisse liegen.
3 Impulse für ein verändertes Denken
«Es schwächt die Schwachen noch mehr, wenn wir nichts mehr von ihnen erwarten.»
(Joachim Gauck)
Diese Annahme haben die Stadt Lünen und das Jobcenter des Kreises Unna ihrem Modellprojekt "Chancen für Familien" zu Grunde gelegt. In einem langfristig angelegten Prozess
haben Jugendhilfedienst und Jobcenter Kreis Unna gemeinsam Handlungsansätze entwickelt, um die Potentiale "sozial schwacher" Familien - jenseits von Zuständigkeiten - mit
ihnen gemeinsam zu fördern. Ein ganz wichtiger Schritt in diesem Modellvorhaben war, das
gewohnte Denken und Handeln zu verändern und einen Perspektivwechsel bei allen Beteiligten - den Familien und den Fachdiensten - zu erreichen. Gründe dafür, warum ein solches
Umdenken nötig war, gibt es viele.
3.1 Öffentliche Haushalte in der Krise
Die weltweite Finanzkrise 2007 führte zu einem weiteren Anstieg der ohnehin hohen Verschuldung vieler Länder. Im Oktober 2009 folgte die Staatsschuldenkrise im Euroraum. Dies
alles traf auch in Lünen auf eine sowieso schon schwierige Haushaltslage.
Eine eigentlich selbstverständliche Erkenntnis der weltweiten Herausforderungen war, dass
globale Krisen kommunale Handlungsspielräume massiv beeinflussen. In den Jahren 2007 bis
2011 stieg die Gesamtverschuldung der Städte und Gemeinden von 111 auf 130 Milliarden
Euro. Das geht aus dem Kommunalen Finanzreport 2013 der Bertelsmann Stiftung hervor.
"Die Spaltung in reiche und arme Kommunen vertieft sich. Viele Städte scheinen in einer
Abwärtsspirale aus Überschuldung, Abwanderung und sinkender Attraktivität gefangen."
Kirsten Witte, Kommunalexpertin der Bertelsmann Stiftung
Parallel zu den globalen Entwicklungen zeigte sich in Lünen, dass trotz stetigem Geburtenrückgang die Kosten für Leistungen aus dem Bereich "Hilfen zur Erziehung" (SGB VIII) kontinuierlich stiegen. Gleichzeitig wurde deutlich, dass sich Armut und Ausgrenzung - trotz aller
Bemühungen der Fachkräfte - in bestimmten sozialen Milieus verstärkten und teilweise auf
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die nächste Generation "weitervererbten". Zitat eines Mitarbeiters: "Die Mutter habe ich als
junger Sozialarbeiter schon bei der Heimunterbringung begleitet."
Hinzu kam eine hohe Zahl an SGB II Empfängern (Arbeitslosenrate 15,5 Prozent, 2011) und
damit eine schwierige finanzielle und soziale Lage vieler Privathaushalte. Die Situation in der
Stadt Lünen unterschied sich dabei deutlich von der auf Kreis- oder Landesebene.
3.2 Armut – Risiko für die kindliche Entwicklung
Studien zeigen, dass Armut als größter Risikofaktor für die kindliche Entwicklung gilt - mit
vielfältigen individuellen und sozialen Folgen. Gerda Holz, Leiterin der AWO-ISSLangzeitstudie zur Kinder- und Jugendarmut in Deutschland, kommt zu dem Ergebnis:
"(…), dass arme Kinder bereits im Alter von sechs Jahren erkennbar belastet sind. Ihre materielle Grundversorgung weist erhebliche Defizite auf, was sich am deutlichsten im verspäteten und unregelmäßigen Zahlen von Essensgeld und sonstigen Beiträgen für Kita-Aktivitäten
zeigt. Betroffene Kinder kommen häufiger hungrig in die Einrichtung und/oder dem Kind
fehlte die körperliche Pflege. Ebenso sind Mängel im kulturellen Bereich zu erkennen, insbesondere durch Auffälligkeiten im Spiel-, Sprach- und Arbeitsverhalten. Arme Kinder wurden
nicht nur insgesamt häufiger als nicht-arme Kinder vom Schulbesuch zurückgestellt, sondern
auch bei vergleichbarer Ausgangslage beziehungsweise dem gleichen Maß an "Auffälligkeiten" hatten sie geringere Chancen für einen regulären Übertritt in die Regelschule als nichtarme Kinder. Das setzt sich im weiteren Lebensverlauf fort. Arme Mädchen und Jungen haben bis zum Alter von zehn Jahren auch weitaus weniger allgemeine und altersgemäße Lernund Erfahrungsmöglichkeiten; zum Beispiel durch Vereinsmitgliedschaft oder Teilnahme an
freiwilligen Kursen inner- und außerhalb der Schule. Sie erfahren Bildungsbenachteiligung in
der Grundschule, sichtbar werdend anhand folgender Indikatoren: (a) häufigere Klassenwiederholung, (b) schlechtere Schulnoten bei gleicher Leistung, (c) geringere Chancen, eine
Gymnasialempfehlung zu erhalten und (d) erhöhter Wechsel in Förder- und Hauptschulen
(vgl. Holz et al. 2006). Das setzt sich im weiteren Schulverlauf fort. Familiäre Armut gilt als
der größte Risikofaktor in Bezug auf den Schulerfolg, es folgen elterlicher Bildungs- und Migrationshintergrund (vgl. Schulze et al. 2008; Bos et al. 2010).Diese Prozesse wirken fort, so
dass der Anteil an armen Jugendlichen in Jugendhilfe-Maßnahmen oder in Berufsvorbereitungsangeboten überproportional ist (vgl. MASGFF 2010; Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). Ihre Erfahrungen als Opfer oder Täter bei Gewaltdelikten, ihre Suchtkontakte
und Krankheitsgefährdungen sind überdurchschnittlich (vgl. Laubstein et al. 2010)."
Gerda Holz - Zeitschrift für Inklusion, Nr. 4 (2010)
So lag die Kinderarmut in Lünen im Jahr 2010 mit 25,1 Prozent weit über dem Landes- (18
Prozent) und Kreisdurchschnitt (19,3 Prozent). Ein ähnliches Bild ergab sich bei den Zahlen
zur Jugendarmut: In Lünen lag die Quote laut "Wegweiser Kommune" der Bertelsmann StifSeite 7 von 45
tung im Jahr 2010 bei 17,3 Prozent. Und damit deutlich höher als auf Landes- (13 Prozent)
und Kreisebene (12,9 Prozent).
Allein diese wenigen Zahlen verdeutlichen, dass "unsichere Familien" (schwer erreichbar,
kaum Teilnahme an freiwilligen Präventionsangeboten) aus "sozial schwachen" Milieus in
Lünen einen hohen Anteil ausmachen. Das beeinflusst auch den kommunalen Haushalt. Und
es bedeutet, dass die Teilhabechancen von 20 bis 25 Prozent der Kinder und Jugendlichen in
Lünen zum Teil massiv gefährdet sind. Was sich wiederum negativ auf die soziale und wirtschaftliche Lage und damit auch auf das Selbstverständnis der Stadtgesellschaft auswirkt.
Langfristig folgen daraus unter anderem: Sozialpolitische Spannungen, ein negatives Image
der Stadt, fehlende Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträge. Eine weitere Studie
des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (ISS) bestätigte die in Lünen gesammelten Erfahrungen.
Das Beispiel Monheim
Die Studie zur Situation von Neueltern kam in der Stadt Monheim am Rhein zu dem Ergebnis, dass 23 Prozent der Kinder eines Geburtsjahrganges potentiell in ihren Teilhabechancen
eingeschränkt sind. Sie sind damit der Gefahr ausgesetzt, an den schulischen, beruflichen
und sozialen Herausforderungen des Aufwachsens zu scheitern. Ca. 17 Prozent dieser Kinder
wachsen in "unsicheren Familien" (schwer erreichbar, kaum Teilnahme an freiwilligen Präventionsangeboten) auf. Weitere fünf Prozent kommen aus "Risikofamilien" (Empfänger von
Leistungen nach SGB II / SGB VIII) und ein Prozent aus "Hochrisikofamilien" (Kindeswohlgefährdung). Praxiserfahrungen verdeutlichen, dass ein Großteil der (Hoch-)Risikofamilien in
verfestigten ("vererbten") Strukturen der Hilfebedürftigkeit, der sozialen Ausgrenzung und
der Armut lebt und dass "unsichere Familien" potentiell gefährdet sind, in diesen Bereich
abzurutschen.
Eine genauere Analyse der Situation der Familien, die vom Jugendhilfedienst oder vom Jobcenter Kreis Unna beraten und unterstützt wurden, machte deutlich, dass gerade die aufwendigen, langjährigen Hilfen und eine damit verbundene dauerhafte Abhängigkeit von
Transferleistungen im hohen Maße solche Familien und Bedarfsgemeinschaften betreffen,
die Leistungen aus beiden SGB-Bereichen erhalten. Ähnliche Tendenzen gab es auch auf
Landesebene.
"Es wurde festgestellt, dass 2010 in NRW ca. 61 Prozent der Familien, die Hilfen zur Erziehung nach SGB VIII in Anspruch nahmen, gleichzeitig auch von staatlichen Transferleistungen
(SGB II - Grundsicherung für Arbeitsuchende) zur Sicherung des Lebensunterhaltes abhängig
waren. In der Einzelbetreuung waren es 51 Prozent, in der Sozialpädagogischen Familienhilfe
66 Prozent und in der Vollzeitpflege sogar 78 Prozent der Erziehungsberechtigten."
Landschaftsverband Westfalen-Lippe, 2012
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3.3 Nebeneinander statt miteinander
Die Verantwortlichen in Lünen stellten sich aufgrund der schwierigen Ausgangslage die Frage: Warum arbeiten zwei große Unterstützungssysteme (Jugendhilfe - SGB VIII, Jobcenter SGB II) mit jeweils sehr eigenen Handlungslogiken nicht nur aneinander vorbei, sondern lassen sich in ihrem spezifischen Auftrag zum Teil gegeneinander ausspielen? Weiter wurde
gefragt, warum sich gerade die Familien, die über viele Jahre von vielfältiger staatlicher Unterstützung abhängig sind, nur selten aus dieser fremdbestimmten Unterstützung lösen können und zu einer selbstbestimmten Lebensgestaltung finden. Selbstverständlich gibt es trotz
vielfältiger Studien auf diese Fragen keine einfachen Antworten. Als ein "Verursacher" wurde
das wenig koordinierte Vorgehen zwischen den beiden zentralen Unterstützungssystemen
für diese Zielgruppe, nämlich das des Jobcenters (SGB II) und der Jugendhilfe (SGB VIII), angesehen.
3.4 Die Projektidee "Chancen für Familien"
Der gewählte Handlungsansatz wurde von der Überzeugung getragen, dass eine ganzheitliche Beratung und Förderung von Familien oder Bedarfsgemeinschaften durch eine systematische Kooperation zwischen Jugendhilfedienst und Jobcenter Kreis Unna langfristig die
Teilhabechancen und die Lebensqualität der Betroffenen entscheidend verbessern kann.
Gleichzeitig sollte eine abgestimmte Zusammenarbeit die Möglichkeit beinhalten, die öffentlichen Haushalte durch erfolgreiche Fördermaßnahmen langfristig zu entlasten.
Es ging also um die ganzheitliche Förderung der Familien oder Bedarfsgemeinschaften.
Kernpunkt dieses Handlungsansatzes war die Etablierung der sogenannten Dreiecksgespräche: Gemeinsame Hilfeplan-Gespräche oder Eingliederungsvereinbarungen von den Beschäftigten des Jobcenters Kreis Unna und des Jugendhilfedienstes mit der Familie. Formale Voraussetzung für die gemeinsamen Gespräche war die Bereitschaft der betroffenen Familien,
sich auf einen entsprechenden Kooperationsprozess einzulassen. Um diese zu bekunden,
wurden Datenschutz- und Einverständniserklärungen unterzeichnet. Flankierend wurden
fallübergreifende und fallunabhängige Potentiale der Sozialräume in den Blick genommen.
Jährliche Sozialraum-Workshops in den besonders belasteten Stadtteilen führten darüber
hinaus relevante Institutionen, Vereine und Gruppen zusammen. Gezielte Handlungsansätze
wie: Rückkehrmanagement, Stärkung des Pflegekinderdienstes, Ü1-Anschreibe-Aktion, Inhouse Schuldnerberatung oder das Projekt "Stark im Job. Gute Arbeit für Alleinerziehende
im Kreis Unna " signalisierten, dass ein ganzheitlicher, abgestimmter Handlungsansatz umgesetzt werden sollte. Das Projekt "Stark im Job. Gute Arbeit für Alleinerziehende im Kreis Unna" sowie gemeinsame Qualifizierungsangebote für die Beschäftigten von Jugendhilfedienst
und Jobcenter Kreis Unna im Bereich Fallmanagement und Sozialraumorientierung unterstützten den angestrebten Kooperationsprozess.
Rückenwind erhielten die Verantwortlichen bei der Umsetzung ihrer Ideen durch die Erkenntnisse eines Gutachtens der Prognos AG aus dem Jahre 2011. Danach
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"(…) belaufen sich die Reparaturkosten mangelhafter Sozialpolitik und die dadurch verursachten Steuerausfälle in NRW auf insgesamt fast 24 Milliarden Euro im Jahr. Kurzfristig
könnten jedoch durch Vorbeugung bereits rund 2,5 Mrd. Euro in der Jugendbilanz (bis zu 25
Jahren) eingespart werden. (…) In der altersunabhängigen Gesamtbilanz liegt das mittel- bis
langfristige Einsparpotential bei entsprechenden Investitionen sogar bei knapp 8 Mrd. Euro
pro Jahr."
Prognos AG–Soziale Prävention, Bilanzierung der sozialen Folgekosten in NRW (2011)
Das Modellvorhaben "Chancen für Familien" beschäftigte sich besonders mit folgenden Fragestellungen:
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Wie nehmen Familienverbünde oder Bedarfsgemeinschaften den kooperativen Projektansatz auf und wie werden sie zur Mitwirkung animiert?
Wie wird das "Denken in Zuständigkeiten" auf der Beschäftigtenebene überwunden und
eine gemeinsame Sicht auf das familiäre System gefunden?
Welche Lösungen gibt es für einen verantwortlichen Umgang mit dem Datenschutz?
Welche Anforderungen kommen auf Leitungs- und Fachkräfte beider Systeme (Jugendhilfedienst/Jobcenter) zu?
Welche inhaltlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen müssen geschaffen
werden, damit die Kooperation langfristige Wirkungen erzielen kann?
Wie lässt sich der Erfolg der Kooperation messen?
Das vorliegende Handbuch gibt Antworten auf diese Fragen. Es greift die Erfahrungen des
Lüner Pilotprojektes auf und skizziert Umsetzungsstrategien für die Einführung ressortübergreifender Kooperationen zwischen unterschiedlichen Organisationssystemen. Das Handbuch wird von der Überzeugung getragen, dass die sozial- und finanzpolitischen Herausforderungen unserer Kommunen langfristig nur gelöst werden können, wenn auf kommunaler
Ebene präventive, ressort- und systemübergreifende Formen der konstruktiven Zusammenarbeit etabliert werden - damit Kinder und Jugendliche aus "Risikofamilien" und aus "unsicheren Familien" bessere Teilhabechancen haben.
4 Lebensrealität der Projekt-Familien
In Lünen lebten 2011 insgesamt 14.303 Kinder in 8.921 Familien, wobei 221 Kinder aufgrund
fehlender Angaben zur Mutter nicht zugeordnet werden können. Die tatsächliche Gesamtzahl betrug demnach 14.524 Kinder. Die Ein-Kind-Familie kam mit einem Anteil von 53,6 Prozent am häufigsten vor. 35,3 Prozent der Familien hatten zwei Kinder. Nur 8,9 Prozent hatten drei Kinder. Vier oder mehr Kinder gab es nur in knapp zwei Prozent aller Familien. Das
heißt: 76 Prozent der Kinder wuchsen in Familienverbänden mit ein oder zwei Kindern auf.
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Im Rahmen des Kooperationsprojektes "Chancen für Familien" arbeiteten Jobcenter Kreis
Unna und Jugendhilfedienst im Projektzeitraum mit insgesamt 31 Familien zusammen, die
laut ISS Studie zu den sogenannten "Risikofamilien" (Empfänger von Leistungen nach SGB
II/SGB VIII) zählen.
Nachfolgend wird die Lebenssituation der am Projekt beteiligten Familien bzw. Bedarfsgemeinschaften anhand vorliegender Falldokumentationen, diverser Expertengespräche und
ergänzender Interviews mit beteiligten Familien dargestellt.
4.1 Instabile Familien
Bei den am Projekt beteiligten 31 Familien gab es nur zwei Ein-Kind-Familien (6,45 Prozent)
und zwölf Zwei-Kind-Familien (38,71 Prozent). In den Projektfamilien wuchsen also 45,1 Prozent der Kinder in Familienverbänden mit ein oder zwei Kindern auf (Lünen insgesamt: 76
Prozent). Demgegenüber gab es neun Drei-Kind-Familien (29,03 Prozent), sieben Familien
mit vier Kindern (22,58 Prozent) und eine Familie mit fünf Kindern (3,23 Prozent). Obwohl
der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Lünen insgesamt 22 Prozent beträgt,
nahmen am Projekt nur wenige Migranten teil (6,5 Prozent). Vier Elternteile aus der Zielgruppe der "Risikofamilien" hatten eine Zuwanderungsgeschichte.
Die Instabilität der Familien lässt sich schon an wenigen Indikatoren aufzeigen. So lebten 24
Mütter nicht (mehr) mit dem Vater ihres/ihrer Kinder zusammen. Auch eine hohe Altersdifferenz zwischen den Partnern kann zu den Unsicherheitsfaktoren gezählt werden. In 15 der
beteiligten Familien bzw. Bedarfsgemeinschaften waren die Väter mehr als fünf Jahre älter
als ihre Partnerinnen. Acht Väter waren sogar mehr als zehn Jahre älter. Die größten Differenzen betrugen 26, 17 und 15 Jahre. Gleichzeitig gab es auch sechs Elternpaare, bei denen
die Väter zum Teil wesentlich jünger waren. Die größten Differenzen betrugen hier acht,
sieben und sechs Jahre.
Nachfolgend einige Beschreibungen der Fachkräfte zur Familiensituation der Beteiligten, sie
kennzeichnen die Situation der überwiegenden Mehrheit der Bedarfsgemeinschaften:
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"Kindsvater des 2002 geborenen Kindes ist 2012 gestorben. Mutter lebt mit neuem Partner in kleiner Wohnung."
"Kindsmutter lebt mit zwei Kindern und dem Vater ihres jüngsten Kindes in einem Haushalt. Beide haben sich getrennt. Der Kindsvater ist auf der Suche nach einer eigenen
Wohnung."
"Kindsvater ist im Gefängnis."
"Kindsvater lebt in neuer Ehe mit Kind."
"Kindsmutter wohnt im eigenen Haushalt mit vier Kindern, getrennt lebend vom neuen
Lebensgefährten."
"Kindsmutter lebt mit zwei Kindern und dem Vater ihres jüngsten Kindes in einem Haushalt."
"Eltern leben gemeinsam mit vier Kindern in eigener Wohnung, ein Kind ist in stationärer
Hilfemaßnahme SGB VIII untergebracht."
"Vater der beiden älteren Kinder ist verstorben."
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"Kindsmutter lebt in einer teilstationären Wohnform in einem Projekt eines Jugendhilfeträgers. Sie wohnt mit ihren Kindern in einer angemieteten Wohnung mit täglicher Unterstützung im Haushalt."
"Eltern leben getrennt. Mutter wohnt mit zwei erwachsenen Mädchen und zwei Schulkindern in einer düsteren Wohnung."
• "Die Familien verfügen über wenig Geld."
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"Wir beobachten einen sogenannten "Sozialadel", also Familien mit einer Jugendhilfegeschichte über mehrere Generationen."
"Die Personen kennen sich in der "Förderlandschaft Jugendamt" zum Teil besser aus als
Mitarbeiter des Jugendamts."
Nur sieben der am Projekt beteiligten Familien lebten während des Projektzeitraumes als
klassische Eltern-Kind-Familie in einer Mietwohnung zusammen. Allerdings gab es auch bei
diesen Familien bereits Erfahrungen mit Trennung und Scheidung.
4.2 Geringes Sozialkapital
Laut verschiedener Studien aus der Netzwerkforschung leisten persönliche soziale Netzwerke eine große Unterstützung bei der Bewältigung schwieriger Lebenslagen. Netzwerke stellen also ein wichtiges Sozialkapital dar. Nach Einschätzung der am Projekt beteiligten Experten in Lünen ist die Qualität dieser Netzwerke bei der Zielgruppe als sehr gering einzuschätzen.
Dieses wird durch typische Aussagen der Betroffenen unterstrichen:
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"Ich hätte gerne Freunde hier in Lünen, aber ich habe keine. Ich habe jetzt bloß durch die
Maßnahme des Jobcenters eine Freundin gefunden."
"Wir müssen niemand haben, der uns bei Laune hält."
"Interessiert hat mich das schon, zum Beispiel in einen Sportverein zu gehen. Aber da
kommt man nicht einfach so rein. Das funktioniert nicht."
"Ich werde doch sowieso nur gemobbt - da gehe ich nicht hin!"
Das geringe Sozialkapital der Betroffenen spiegelt sich in folgenden Beobachtungen und
Aussagen von Fachkräften wider:
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"Das Leben spielt sich im Wesentlichen in der Wohnung ab."
"Die Familien scheinen in Isolation zu leben: Sie haben kaum soziale Kontakte, sie leben
anonym."
"Häufig fehlt die Motivation, zum Teil haben sie resigniert. Sie geben eher auf, bevor sie
kämpfen."
"Die Personen haben von Haus aus wenig "kulturelles Kapital". Und das, was sie bisher
noch hatten, wird immer weniger."
"Es gibt häufig Erfahrungen mit Drogen und Alkohol."
"Man kann beobachten, dass die Familien keine Kenntnis von einer sozialen Infrastruktur
haben."
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"Häufig wurden schon schlechte Erfahrungen mit Ämtern gemacht, wie zum Beispiel Jugendamt, Jobcenter oder andere Institutionen."
"Viele verschlafen eine Tagesstruktur."
Sehr verkürzt lässt sich die Qualität der primären sozialen Netzwerke der "Risikofamilien" in
Lünen zum Zeitpunkt der Erhebung wie folgt beschreiben:
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informelle, primäre, soziale Kontakte der Betroffenen sind zum Beispiel im Stadtteil nur
sehr rudimentär vorhanden
zu (Sport-)Vereinen, Kirchengemeinden oder sonstigen Gruppen gibt es höchstens in
Ausnahmefällen Kontakt. Nur drei der 87 Kinder aus den 31 Familien gehören einem
Sportverein an und nur zwei Kinder haben Kontakte zu einem kommunalen Jugendzentrum.
Die nachfolgende Grafik bringt zum Ausdruck, dass die betroffenen Familien relativ isoliert
im Stadtteil leben und die vielfältigen Angebots- und Kontaktstrukturen nur sehr wenig nutzen. Bestimmt wird ihr Leben durch einen engen, oft konfliktträchtigen, innerfamiliären Bezug und durch wirkmächtige Institutionen wie Jobcenter, Jugendamt, Kindertagesstätte und
Schulen. Im Umgang mit diesen Institutionen erleben sich die Familie eher als Bittsteller oder
Opfer (Originalzitate: "Die mobben mich!", "Die unterstützen mich ja doch nicht!", "Die meckern immer!", "Von denen kommt sowieso keine Hilfe."). Oder sie erfahren sich selbst als
Gescheiterte, die zum Beispiel aufgrund von Schulversagen oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen einer ängstlichen Rückzugsmentalität folgen. Die Aussage eines Betroffenen:
"Wenn ich dauernd höre - Nein, das geht nicht - wird man dann hinterher auch ein bisschen
mutlos."
Dementsprechend beklagten die pädagogischen Fachkräfte und Fallmanager immer wieder,
dass die Eltern sich sehr passiv verhalten und kaum an Aktivitäten wie Elterncafés oder Elternabenden teilnehmen oder von sich aus die Initiative zur Verbesserung ihrer beruflichen
Perspektive ergreifen. Eine vielfach geforderte, potentialorientierte Vorgehensweise wird
somit für die Betroffenen, aber auch für die Fachkräfte, kaum spürbar bzw. umsetzbar.
Entsprechend ihrer schwierigen sozialen Lage schätzen die meisten befragten Eltern auch die
Situation im Stadtteil Gahmen als recht schwierig ein.
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"Ich finde, dass es hier eine schlechte Verkehrsanbindung gibt."
"Man hat hier in Gahmen eigentlich keine Einkaufsmöglichkeiten."
"Es gibt hier kritische Nachbarn."
"Wichtig wäre die Verbesserung der Spielplatzsituation."
"In Gahmen gibt es nicht mal die Möglichkeit, ein Eis essen zu gehen."
"Das einzige, was wirklich gut ist: Wir haben hier ein Jugendhaus, das Jugendcafé, wo
unsere Kinder auch hingehen."
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• "Das Jugendcafé ist schon mal schön. Die machen hier auch von der Kirche aus einiges mit den Kindern."
• "Aber sonntagmorgens, da kommt man aus Gahmen gar nicht weg."
Akteurslandkarte – SGB II/VIII Familien im Stadtteil Gahmen
4.3 Geringe Qualifikation und fehlende Nähe zum Arbeitsmarkt
Fast alle Familien und Bedarfsgemeinschaften leben schon seit sehr vielen Jahren überwiegend oder ausschließlich von Transferleistungen aus dem SGB II. So bekommen 15 Familien
oder Bedarfsgemeinschaften bereits seit 2005 oder früher Unterstützung. Weitere elf Familien seit dem Zeitraum 2006 – 2010. Nur in Einzelfällen ist ein Elternteil berufstätig oder übt
zumindest eine geringfügige Beschäftigung aus.
Neben persönlichen, sozialen oder gesundheitlichen Einschränkungen spielt die fehlende
schulische und berufliche Qualifikation eine große Rolle. So verfügen zum Beispiel nur zwei
der insgesamt 31 Mütter über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Beide sind allerdings
nach ihrer Ausbildung nicht berufstätig gewesen, weder vor der Geburt noch anschließend.
Die Kinder dieser Mütter waren 2013 im Alter zwischen 5 und 17 Jahren. Theoretisch wäre
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eine Berufstätigkeit also möglich. Aus individuell unterschiedlichsten Gründen wird diese
aber trotzdem nicht aufgenommen.
Drei Mütter aus der Zielgruppe erreichten einen Realschul- und fünf einen Hauptschulabschluss. Vier dieser Frauen waren auch vor der Geburt ihres ersten Kindes berufstätig. Ansonsten waren nur drei weitere Frauen der insgesamt 31 Mütter aus dem Projekt vor der
Geburt ihrer Kinder berufstätig. Das heißt, dass etwa zwei von drei Müttern über keinen
Schulabschluss, keine Berufsausbildung und keine Berufserfahrungen verfügen. Einer der
Gründe für die fehlende Berufserfahrung liegt sicherlich in der frühen Schwangerschaft vieler Mütter begründet. So bekamen acht der 31 Frauen ihr erstes Kind bereits mit unter 20
Jahren. 17 weitere Frauen waren bei der Geburt ihres ersten Kindes noch nicht 25 Jahre alt.
Aktuell sind fünf der 31 Mütter (16 Prozent) geringfügig beschäftigt. Positiv ist, dass elf Frauen im Rahmen des Projektes unter anderem an der Maßnahme des Jobcenters Kreis Unna
"Stark im Job. Gute Arbeit für Alleinerziehende im Kreis Unna" teilnehmen und sich dadurch
ihre Chancen auf eine längerfristige, verbesserte berufliche Perspektive etwas erhöhen.
Für die fehlende Nähe der Familien zum Arbeitsmarkt gibt es aus Sicht der Fachkräfte unterschiedliche Erklärungen:
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"Viele Eltern leiden unter psychischen Erkrankungen. Die Arbeitslosigkeit macht auch
krank!"
"Es gibt bei den Betroffenen eine Hemmschwelle in Bezug auf Mobilität."
"Unter Jugendlichen ist "arbeiten gehen" stigmatisierend."
"Es ist eine große Bildungsferne zu beobachten. Viele haben keinen Schulabschluss, keine
Ausbildung und sind Schulverweigerer oder Schulabbrecher."
"Bei einigen scheint die Auffassung zu herrschen: „Arbeiten ist nicht notwendig!"
4.4 Resignation und Hilflosigkeit
Im Vorfeld des Modellvorhabens wurden acht beteiligte Familien befragt, wie sie ihre Lebenssituation wahrnehmen. Hier einige Originalaussagen:
Stigmatisierung
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"Ich habe keine Chance: Ich bin alleinerziehend und habe drei Kinder."
"Dann haben die Polizisten zu mir gesagt: Wie kann man so blöd sein, Kinder groß zu ziehen? Und ich habe gesagt: Sie wissen doch gar nicht, warum das alles so gekommen ist.
Da können Sie mich doch nicht verurteilen!"
"Als `Harzer´ hat man sowie keine Chance!"
"Wenn man nur seine Adresse angibt, ist man schon abgeschrieben!"
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Schwächen
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"Organisieren ist nicht mein Ding!"
"Ich habe keine besonderen Stärken."
"Ich war alleinerziehend. Deshalb stand ich alleine da und kam mit der Situation nicht
zurecht."
"Ich sollte dort als Köchin arbeiten. Aber ich dachte nur: Das kann ich nicht. Ich habe
nicht Köchin gelernt, ich habe `Haushaltstechnische Gehilfin´ gelernt."
Erfahrungen mit dem Jobcenter
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Interviewer: "Wie oft haben Sie denn Kontakt mit denen?" Befragte: "So wenig wie möglich!"
"Man traut sich gar nicht, was zu fragen. Weil man Angst haben muss, dass man dann
angepflaumt wird."
"Wenn der nach meinem Alter fragt und ich sage, 42 Jahre. Dann heißt es: Ach nee, das
ist zu alt. Da gehört man dann schon zum alten Eisen!"
"Ich habe eigentlich noch nie ein richtiges Jobangebot bekommen."
"Da habe ich mich geweigert, fast 50 Kilometer zur Arbeit zu gehen."
"Die meisten Mitarbeiter sind total unhöflich, unfreundlich und gucken von oben herab,
als ob man sonst was wäre."
Erfahrungen mit dem Jugendamt
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"Das war schon ein bisschen blöde. Man kommt sich vor, als ob man zu dumm wäre, die
Kinder zu erziehen."
"Ich möchte gar keinen Kontakt mit den Behörden."
"Obwohl das Jugendamt da war, das hat gar nichts gebracht!"
"Das Jugendamt hat mir meine Kinder weggenommen."
Interviewer: "Und können Sie sich vorstellen, dass das Jugendamt Ihnen irgendwas geben könnte, was Sie brauchen?" Befragte: "Nein, eigentlich nicht."
"Man hat mir Hilfe vom Jugendamt angeboten, aber ich habe gesagt: Ich kann das alleine. Meine Älteste ist jetzt Neun. Ich habe das bis jetzt geschafft, ich kann das auch weiterhin schaffen."
"Ich hätte eine Familienhilfe gebraucht, als ich alleine gewohnt habe. Aber die haben
gesagt, nein, das funktioniert nicht. Da habe ich gesagt: Aber ich brauche doch Familienhilfe. Sie kriegen doch mit, was bei uns abgeht. (…) Ja, und dann habe ich meinen Sohn
ins Heim gegeben. Und erst dann haben sie was gemacht. Dann ist da jemand gekommen. Und mich haben sie regelrecht runtergebuttert. Da konnte ich nicht mehr. Ich bin
echt im Stich gelassen worden vom Jugendamt."
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5 Zwei Gesetzbücher, zwei Philosophien, zwei Organisationen,
zwei…
Das Handeln der Beschäftigten in den Jobcentern und in der Jugendhilfe ist geprägt von unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen und institutionellen Rahmenbedingungen, zum Beispiel den finanziellen und personellen Ressourcen, dem Betreuungsverhältnis pro Fachkraft
oder dem Qualifikationsniveau. Auch das berufliche Selbstverständnis sowie das sozialpolitische und gesellschaftliche Image beeinflussen die Akteure. Gleichzeitig wirkt sich die öffentliche Diskussion auch auf Erwartungen oder Befürchtungen der Betroffenen aus.
Das Alltagshandeln der Fachkräfte wird zudem durch persönliche Elemente bestimmt, wie
die eigene Grundhaltung, über Jahrzehnte geprägte Handlungsroutinen in einer Bundesbehörde oder Kommunalverwaltung, sowie fachliche Überzeugungen. Weiterhin prägen etablierte Abgrenzungs- und Kooperationsmuster das Verhalten innerhalb der Institutionen,
ebenso wie die Finanzierungszuständigkeiten, zum Beispiel zwischen unterschiedlichen Kostenträgern von Kommunen, Kreisen, Land oder Bund. Dieses sorgt bei allen Beteiligten im
positiven wie im negativen Sinne für "Verlässlichkeit und Orientierung". Anreize für ein
ganzheitliches, volkswirtschaftliches Denken und Handeln sind kaum gegeben.
Kennzeichnend für die Einstiegsphase des Modellvorhabens war somit eine Stimmung, die
sowohl bei den Beschäftigten als auch bei den Familien eindeutig Muster des "SchwarzerPeter-Spiels" aufwies. Nach dem Motto: "Schuld sind die anderen. Ich würde ja gerne, aber
leider lassen die Umstände/die Anderen das nicht zu!" Selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Handeln lässt sich leicht fordern, aber sowohl auf der Ebene der betroffenen Familien als auch innerhalb des Helfersystems dominierten eher Gefühle der Hilf- oder sogar
Machtlosigkeit.
5.1 Unterschiede erkennen – Ausgangslagen verstehen – Kooperationen entwickeln
Zwei Gesetzbücher, zwei Philosophien, zwei Organisationen, zwei… Diese doppelten Strukturen stellen für alle Beteiligten eine große Herausforderung dar, wenn es gilt, einen nachhaltigen Paradigmenwechsel zu etablieren - im Sinne einer konstruktiven Kooperationskultur
zwischen zwei oder mehr SGB-Bereichen.
Gemeinsame Workshops bieten eine gute Grundlage, damit sich - wie im Fall Lünen - die
Fachkräfte des Jobcenters Kreis Unna und des Jugendhilfedienstes mit ihren unterschiedlichen Handlungsansätzen und Rahmenbedingungen kennenlernen können.
Zentrale Unterschiede der jeweiligen Handlungsansätze sind:
Jobcenter Kreis Unna
Jugendhilfedienst Lünen
Orientierung am Buchstaben-Prinzip
Sozialraum-Prinzip
Heranführung an Beschäftigungsperspektiven Stärkung der Erziehungskompetenz oder Stabili-
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oder Vermittlung in Qualifizierungsmaßnahmen
Vermittlungszahlen sind ein zentraler interner
Erfolgsfaktor - arbeitsmarktferne Personen geraten aus dem Blick der Vermittler/innen
Bei der Vermittlung oder im Fallmanagement
steht eher der Einzelfall im Mittelpunkt der Betrachtung
Das Handlungsprinzip "Fördern und Fordern"
beinhaltet Sanktionsmöglichkeiten
sierung der familiären Verhältnisse
Vermeidung von Kindeswohlgefährdung - Sicherung der Teilhabechancen für die Kinder ist gesetzlicher Auftrag des SGB XIII
Jugendhilfe versucht erst einmal das familiäre
System insgesamt zu stärken
Wenn keine Kindeswohlgefährdung vorliegt, gilt
das Prinzip der Freiwilligkeit. Hilfe zur Erziehung
kann nur durch die Zusammenarbeit von Eltern,
Kindern und den Fachkräften der Jugendhilfe
gelingen
Neben eher trennenden Aspekten verfolgen das Fallmanagement des Jobcenters Kreis Unna
und die Fachkräfte des Jugendhilfedienstes eine gemeinsame Intention: Sie wollen die Betroffenen ermutigen, ihre Probleme in den Griff zu bekommen und an einer Veränderung
ihrer konkreten Situation aktiv mitzuwirken. Die Fachkräfte wollen zur Verbesserung der
Lebens- und Zukunftsperspektiven der betroffenen Familien oder Bedarfsgemeinschaften
beitragen oder zumindest den Kindern helfen.
Bestehen bleiben allerdings die in den entsprechenden Sozialgesetzbüchern formulierten
unterschiedlichen gesetzlichen Aufträge. Im Sinne des Prinzips "Fördern und Fordern" lautet
der Auftrag im SGB II § 1:
"Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen
Leistungsberechtigten und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung
aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können."
Im Gegensatz dazu sind im SGB VIII eher pädagogisch angelegte Intentionen aufgeführt. Das
Ziel in §1 Abs. 1 lautet:
"Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu
einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit."
Weiter wird in §1 Abs. 3 SGB VIII ausgeführt:
"Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere
1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu
beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen.
2. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen.
3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen."
Bei einer ganzheitlichen, systemischen Sichtweise wird allerdings sehr schnell deutlich, dass
die Grundintentionen in einem engen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Die sozialen Folgen
von Arbeits- und Perspektivlosigkeit belasten die familiäre Situation und wirken sich auf den
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Umgang der Eltern mit ihren Kindern aus. Umgekehrt tragen familiäre Spannungen, Erziehungskonflikte oder Auffälligkeiten der Kinder in Kindertagesstätte und Schule nicht gerade
dazu bei, dass Eltern sich um ihre beruflichen Perspektiven kümmern (können).
Die Herausforderung des Modellvorhabens bestand darin, gemeinsame Formen der Kooperationen zwischen den beiden Behörden in Absprache mit den Betroffenen zu entwickeln
und fallbezogen umzusetzen.
5.2 Lähmung und Rückzug
Deutlich wurde im Rahmen des Modellvorhabens sehr schnell, dass fehlende Absprachen
und unterschiedliche Botschaften oder Vereinbarungen (Hilfeplangespräch, Eingliederungsvereinbarung) der professionellen Helfersysteme bei den Betroffenen zu Lähmung und Rückzug führen. Das nachfolgende Schaubild entstand im Rahmen einer "Aufstellungsarbeit". Es
verdeutlicht die Stimmung, die durch fehlende Kooperation entstehen kann - trotz guter
Absichten und professionellem Handeln der Mitarbeiter des Jobcenters Kreis Unna und des
Jugendhilfedienstes. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff der "fürsorglichen Belagerung" geprägt.
Berücksichtigt werden muss an dieser Stelle, dass in der Regel viele weitere Institutionen
und Einrichtungen von den Betroffenen als "wirkmächtige" oder sogar bedrohliche Akteure
wahrgenommen werden: Zum Beispiel das Gesundheitsamt, Krankenkassen, freie Träger der
Jugendhilfe, Beschäftigungsprojekte, Kindertagesstätten, Schulen, Polizei, Wohnungsamt
oder der Vermieter. Sie alle treffen auf labile familiäre Systeme ohne Unterstützung durch
informelle, soziale Netzwerke mit multiplen Problemlagen.
Schaubild – Fürsorgliche Belagerung
Externe Beobachter
Jugendhilfedienst
Familien
Akteure aus
Sozialraum
Jobcenter
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Nachfolgend einige Statements der Familien und Fachkräfte. Sie dokumentieren aus unterschiedlichen Perspektiven die Beziehungsdynamik, die zwischen den beteiligten Akteuren
der verschiedenen "Helfer- und Beratungssysteme" und den Familien entstehen kann.
Die Familienperspektive:
• "Wir sind umzingelt, klein und Ausstellungsobjekte."
• "Ich kann mich mit anderen Familien absprechen und verbünden."
• "Ich will raus hier."
• "Ich hab das Gefühl, immer etwas im Rücken zu haben."
• "Es läuft immer jemand rum - warum, ist nicht klar."
Die Beobachterperspektive:
• "Nichts passt zusammen - es gibt keine Dynamik, alles ist statisch."
• "Im Fokus stehen immer die einzelnen Personen - niemals das Gesamtsystem."
• "So viele Menschen stehen im Umfeld - und trotzdem entsteht keine
Wirkung!"
Die Perspektive der Jugendhilfedienste:
• "Wie soll man in die Familien kommen?"
• "Die Familien vermeiden möglichst jeden Kontakt mit den Behörden!"
• "Die vom Jobcenter wollen doch nur, dass sie gute Vermittlungsergebnisse erzielen!"
• "Die vom Jobcenter haben es gut, die können einfach mit Leistungsentzug drohen - die Familien stehen dann bei mir auf der Matte und ich
muss das klären!"
Perspektive von Akteuren aus dem Sozialraum am Beispiel Sport:
• "Die sind in einer Lethargie, die wollen doch gar nicht."
• "Ich kümmere mich nur um meine Vereinsmitglieder."
• "Die bringen mir die ganze Mannschaft durcheinander!"
• "Die lassen es sich gut gehen und wir arbeiten."
Die Jobcenter-Perspektive:
• "Toll - die Familien sitzen jetzt da und ich muss die aktivieren!"
• "Wenn die Familien sich absprechen, gehe ich aber sofort dazwischen."
• "Die Jugendhilfe hat immer so viel Verständnis - es muss auch klare Ansagen geben, was geht und was nicht geht! Fördern und fordern!"
• "Wir vom Jobcenter sind immer die Dummen, wenn wir Sanktionen aussprechen!"
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5.3 Herausforderung für die Fachkräfte
Die Phase des Kennenlernens und der Konzeptentwicklung schaffte eine gute Kooperationsebene zwischen den Akteuren beider Helfersysteme. Trotz der großen Übereinstimmung der
beteiligten Fachkräfte stellte der vorzunehmende Paradigmenwechsel - die ganzheitliche
Betrachtung der Familien oder Bedarfsgemeinschaften und das volkswirtschaftliche Denken eine große Herausforderung für die Fachkräfte dar. Der Umsetzung standen vielfältige Hindernisse entgegen: So sind Rechtsvorschriften und Finanzierungsverfahren der Sozialgesetzbücher eher defizitorientiert und einzelfallbezogen ausgerichtet. Datenschutzbestimmungen
erfordern das Einverständnis der Betroffenen. Ganzheitliche Ansätze der Vorsorge werden
als freiwillige kommunale Leistung angesehen und fallen in andere Zuständigkeitsbereiche
(Jugendförderung) oder laufen unter zeitlich begrenzten Projektansätzen.
Mit anderen Worten, der Aufbau eines abgestimmten ganzheitlichen Hilfe- und Unterstützungssystems stellt für alle beteiligten Akteure auf den verschiedenen Ebenen eine große
Herausforderung dar. Es müssen einige Bedingungen erfüllt sein und es braucht eine Reihe
von Erfolgsfaktoren, damit der angestrebte Paradigmenwechsel erfolgreich umgesetzt werden kann.
6 Handlungskonzept in Lünen
Wie bereits aufgezeigt wurde, bedurfte das Kooperationsprojekt einer intensiven Phase von
etwa einem Jahr des Kennenlernens, der Konzeptentwicklung, der Erprobung und der Abstimmung. Vielfältige Hindernisse und Stolpersteine mussten benannt, bearbeitet oder umgangen werden. Nach und nach verständigten sich die beteiligten Fachkräfte gemeinsam mit
der Leitungsebene auf das folgende praxisbezogene Handlungskonzept:
6.1 Gemeinsame Ziele
Ein wichtiges Element des gemeinsamen Abstimmungsprozesses war die Verständigung auf
gemeinsame Handlungsziele, die sowohl mit dem SGB II als auch mit dem SGB VIII kompatibel sind.
1. Wir nehmen die Familien und Bedarfsgemeinschaften mit ihren Sorgen und Bedürfnisse
ernst und unterstützen sie bei der Suche nach neuen Lösungen.
2. Wir bringen das ganze System (Helfer, Familien, Akteure im Sozialraum) in Bewegung!
3. Unser Paradigmenwechsel heißt: "Weg von der Bestrafung hin zur Stärkung und Belohnung!" Dafür schaffen wir Anreizsysteme!
4. Wir erkennen und nutzen die Potentiale im Sozialraum. Milieubotschafter, Nachbarschaften, Kindertagesstätten, Schulen, Kirchen, Vereine und Gruppen können dazu beitragen, die sozialen Netzwerke der Familien zu stärken.
5. Wir entwickeln ein abgestimmtes, transparentes Kooperations- und Kommunikationsverfahren, um sowohl ganzheitliche als auch fallbezogene Abstimmungen zu ermöglichen.
6. Jeder bringt seine jeweiligen institutionellen und persönlichen Möglichkeiten und Kompetenzen ein!
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7. Wir schaffen Rückkoppelungsverfahren zwischen den Familien und den Professionellen!
6.2 Schritte der kooperativen Begleitung
Der Kernprozess der Zusammenarbeit lässt sich idealtypisch folgendermaßen abbilden:
Phase 1: Sensibilisierung
Schritt 1.1:
Kontaktaufnahme Kunde/Nutzer mit Institution (Jobcenter oder Jugendamt)
Wer:
Was:
Kunde/Nutzer der sozialen Dienstleistung, Jugendhilfedienst oder Jobcenter
a. In einem Gespräch zwischen dem Kunden/Nutzer und der Institution (Jobcenter oder Jugendamt) wird Bedarf für eine Leistung gesehen. Im weiteren Verlauf des Gespräches wird daher eine Situationsanalyse durchgeführt, die folgende Aspekte abdeckt:
- Bedarfe
- Potentiale
- Anreize
- Kooperationen
b. In der Analyse wird deutlich, dass ein Austausch mit dem Jobcenter bzw.
dem Jugendamt durchgeführt werden soll. Eine Kontaktaufnahme findet
statt, wenn eines der folgenden Kriterien zutrifft:
Jugendhilfe kontaktiert Jobcenter
Jobcenter kontaktiert Jugendhilfe
im Vorgespräch wird SGB II Bezug
bei Antragstellung: Option auf
deutlich
Kontaktaufnahme, wenn Kinder in
nach Fallkonsultation (Fachgeder Familie leben ("Haben Sie
spräch)
Kinder? Beziehen Sie Leistungen
vor Hilfeplangespräch
vom Jugendamt/HzE?")
bei einer Idee für Fördermaßnahbei Abschluss einer Leistungs-
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Schritt 1.1:
Kontaktaufnahme Kunde/Nutzer mit Institution (Jobcenter oder Jugendamt)
me
Material/Instrument/Hilfsmittel:
Hinweise:
Indikatoren:
vereinbarung
bei einem seltsamen Gefühl zum
Erziehungsverhalten
bei fehlender Mitwirkung
bei Sanktionserteilung
c. Das Gespräch endet mit dem Unterzeichnen einer Einverständniserklärung, die dem Jugendamt bzw. dem Jobcenter die Erlaubnis gibt, mit
der anderen Institution Kontakt aufzunehmen
Einverständniserklärung
Der Beratungs- und Begleitprozess beginnt mit der Kontaktaufnahme des Kunden mit einer der beiden Institutionen
Einverständniserklärung zur Kontaktaufnahme von Jobcenter und Jugendamt ist
unterschrieben
Schritt 1.2:
"Professionelles abklären" und Einladung
Wer:
Was:
Jugendhilfedienst, Jobcenter
a. In einem kurzen Gespräch klären Jugendhilfedienst und Jobcenter gemeinsam ab, ob der Kunde für eine Kooperation in Betracht kommt
b. Erscheint eine Kooperation sinnvoll, wird entschieden, wer die Verantwortung für die nächsten Schritte hat. Vereinbarung: Es ist die Person
verantwortlich, die
• den nächsten Routine-Termin mit dem Kunden hat oder
• eine besondere Vertrautheit/Beziehung mit dem Kunden hat
c. Der/die Verantwortliche lädt die andere Institution und den Kunden zu einem gemeinsamen Termin ein
Entwicklung eines Leitfadens über Chancen, Potentiale, etc., der den Mitarbeitern Anhaltspunkte für eine mögliche Kooperation liefert
Ausschlusskriterien werden in der Praxis eher durch den Jugendhilfedienst formuliert (Beispiel: Kind soll nicht mehr in Familie zurückkommen)
• Kunde ist ausgewählt
• Es gibt eine/n Verantwortliche/n für den Prozess (Einladung verschicken,
telefonischer Kontakt etc.)
• Die Mitarbeiter haben bereits eine Idee, welche Potentiale und Chancen der
Kunde besitzt
Material/Instrument/Hilfsmittel:
Hinweise:
Indikatoren:
Phase 2: Vereinbaren
Schritt 2.1:
Wer:
Was:
Material/Instrument/Hilfsmittel:
Hinweise:
Gemeinsames (Hilfeplan-)Gespräch
Jugendhilfedienst, Jobcenter, Kunden (Eltern und Kinder)
In einem gemeinsamen Gespräch aller Beteiligten werden weitere Perspektiven
entwickelt und darauf aufbauend Hilfemaßnahmen entwickelt
eventuell Leitfaden für Gespräch
Geklärt werden muss:
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Schritt 2.1:
Indikatoren:
Gemeinsames (Hilfeplan-)Gespräch
• Wer soll an der Runde teilnehmen? Nur die drei Parteien oder auch der
Maßnahmeträger, von dem das Kind/die Familie gegebenenfalls Unterstützung bekommt?
• Haben Jobcenter und Jugendhilfedienst bereits vor dem Gespräch eine Idee,
wo es hingehen soll? Oder wird die Idee erst im Gespräch entwickelt?
• Die Wichtigkeit der Gesprächsführung muss für alle Professionellen klar sein
• Verständigung, wie das Gespräch laufen soll:
Übernimmt eine Person die Moderation?
Haben alle die gleiche Rolle?
• Eine Leistungsvereinbarung wurde abgeschlossen bzw. ein Hilfeplanbogen
ausgefüllt
• Ziele und Wirkungsindikatoren wurden entwickelt (Woran kann ich feststellen, dass meine Arbeit zu einem festgelegten Zeitpunkt Erfolg gehabt hat?)
• Termine für Folgegespräche wurden vereinbart
Phase 3: Initiieren und Durchführen
Schritt 3.1:
Wer:
Was:
Gemeinsames (Hilfeplan-)Gespräch
Jugendhilfedienst, Jobcenter, Kunden (Eltern und Kinder)
Durchführung der geplanten Maßnahmen
Phase 4: Evaluieren und Weiterentwickeln
Schritt 4.1:
Wer:
Was:
Material/Instrument/Hilfsmittel:
Hinweise:
Indikatoren:
Gemeinsames (Hilfeplan-)Gespräch – Evaluation und Weiterentwicklung
Jugendhilfedienst, Jobcenter, Kunden (Eltern und Kinder)
In einem gemeinsamen Gespräch wird überprüft, ob die vereinbarten Ziele
(2.1.) erreicht wurden. Ziele und Unterstützungsleistungen werden weiterentwickelt
• Vereinbarte Ziele und Wirkungsindikatoren aus Hilfeplan-Gespräch (2.1.)
liegen vor
• Evaluierte Daten liegen vor (z.B. Anzahl der Bewerbungen, Kontaktaufnahme mit Institution X, etc.)
• Eventuell Leitfaden für Gespräch
•
•
•
Eine Leistungsvereinbarung wurde abgeschlossen bzw. ein Hilfeplanbogen
wurde ausgefüllt
Ziele und Wirkungsindikatoren wurden entwickelt
Termine für Folgegespräche wurden vereinbart
6.3 Instrumente und Verfahren zur Umsetzung
Einverständniserklärungen, Dreiecksgespräche, fallbezogene Analysebögen sowie gemeinsame Dokumentations- und Monitoring-Verfahren sind wichtige Instrumente, damit die kooperative Begleitung von Familien oder Bedarfsgemeinschaften gelingt. Regelmäßige gemeinsame Praktiker-Workshops trugen dazu bei, die genannten Instrumente zu entwickeln.
Neben den Akteuren des Jobcenters Kreis Unna und des Jugendhilfedienstes wurden bei
Bedarf weitere Fachkräfte zu den Workshops eingeladen, zum Beispiel Beschäftigte der ErSeite 24 von 45
ziehungsberatungsstelle des Caritasverbandes, der Jugendgerichtshilfe, der mobilen Jugendarbeit sowie Akteure aus dem Sozialraum (Familienhilfezentrum, Sportvereine, Stadtteileltern). Nachfolgend werden einige Instrumente kurz vorgestellt.
6.3.1 Einverständniserklärung
Einverständniserklärung
der Familien zu der Teilnahme am Projekt "Chancen für Familien"
Name, Anschrift der Familie
Ich nehme am Projekt "Chancen für Familien mit und ohne Migrationshintergrund" teil. Ich gebe
mein Einverständnis, dass für die Dauer des Projektes sowohl die Kosten für die Leistungen nach
SGB VIII (Jugendamt) und SGB II (Jobcenter) für meine Familie gemeinsam erhoben werden, um die
Auswirkungen des Projektes, an dem ich teilnehme, überprüfen zu können. Ich erteile ausdrücklich
dem Jobcenter Kreis Unna die Erlaubnis für die Dauer des Projektes, diese Daten an die Stadt Lünen,
Aufgabenbereich Jugendhilfedienst, zu übermitteln, sowie der Stadt Lünen, Aufgabenbereich Jugendhilfedienst, Daten an das Jobcenter zu übermitteln. Des Weiteren erteile ich dem Jobcenter
Kreis Unna und der Stadt Lünen (Aufgabenbereich Jugendhilfedienst) ausdrücklich die Erlaubnis,
auch notwendige Sozialdaten gegenseitig zu übermitteln, sofern dies im Rahmen des Projektes erforderlich ist.
Diese Einwilligung gebe ich zugleich für meine minderjährigen Kinder als personensorgeberechtigte
Person/Elternteil ab.
Mir ist bekannt, dass ich das Recht habe, jederzeit die Einwilligung für die gemeinsame Erhebung
dieser Daten und die Datenübermittlung mit Wirkung für die Zukunft zu widerrufen.
Datum
Unterschrift der Familie
6.3.2 Dreiecksgespräche
Mit Dreiecksgesprächen sind Hilfeplangespräche (SGB VIII) oder Termine zur Eingliederungsvereinbarung (SGB II) gemeint, zu der - nach Vorliegen einer Einverständniserklärung der
Betroffenen - die jeweilige Fachkraft aus dem anderen Hilfesystem hinzugezogen wird. Im
Vorfeld ist dabei zu klären, wer welche Rollen und Aufgaben im Rahmen dieser Dreiecksgespräche übernimmt:
•
•
•
•
•
Wer übernimmt die Moderation?
Welche Aspekte müssen gemeinsam betrachtet werden?
Wie kann eine gute Gesprächsatmosphäre aufgebaut werden?
Wie kann sichergestellt werden, dass Fragen, die nur eine Institution betreffen, in das
Gespräch einfließen können?
Wer dokumentiert die Gesprächsergebnisse?
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6.3.3 Denken in Perspektiven
Es zeigte sich in dem Modellvorhaben sehr schnell, dass es für die fallbezogene und fallübergreifende Arbeit sehr hilfreich ist, die familiäre Situation aus unterschiedlichen Perspektiven
zu betrachten. Dabei sollte der Blick verstärkt auf die Potentiale der betroffenen Familien
und besonders auf die langfristigen Entwicklungsperspektiven gerichtet werden, um aufeinander aufbauende Maßnahmen und Aktivitäten zu konzipieren. Ziel war es, im Arbeitsalltag
und in den Reflexionsroutinen der Mitarbeiter eine bestimmte Grundhaltung zu verankern:
Ein Denken in langfristigen Perspektiven und Wirkungen:
•
•
•
•
•
Was wird in den nächsten zehn oder 15 Jahren passieren?
Wie wird sich die Situation der Familie langfristig entwickeln?
Was muss heute unternommen werden, damit sich die Selbstständigkeit und Teilhabechancen der Bedarfsgemeinschaft oder einzelner Mitglieder der Familie in den
nächsten Jahren erhöhen können?
Woran erkennen wir die Wirkungen der Interventionen?
Welche Indikatoren sind leicht zu erfassen und langfristig aussagekräftig?
Das nachfolgende Beispiel zeigt ein Reflexionsblatt aus einem Praktiker-Workshop:
-
-
letzter Kontakt BB 12.07.2011
1. Kind (geb. 2002) 1Muskeldystrophie / Epilepsie
2. Kind (geb. 2005) 1
3. und 4. 2 Kind Zwillinge (geb. 2008)
* Arbeitsgelegenheit SGB II § 16d „Erwerb Führerschein“
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7 Empfehlungen zur Umsetzung
In den nun folgenden Transferempfehlungen wird aufgezeigt, dass kommunalpolitische Entscheidungsträger und Leitungskräfte der verschiedenen Hilfsdienste eine Schlüsselfunktion
in dem angestrebten Veränderungsprozess übernehmen sollten. Im Idealfall geht dem Ganzen ein kommunalpolitischer Dialog voraus, der zu einer bewussten, strategischen Entscheidung auf der jeweiligen politischen Ebene (Stadtrat, Trägerversammlung des Jobcenters)
führt.
Eine solche Entscheidung führt zwingend zu Konsequenzen in der Verwaltungsorganisation
und in der Kooperation mit den externen Partnern der Kommune. Um den aufgezeigten Ansprüchen gerecht werden zu können, ist gleichzeitig eine systematische, begleitende Fortbildung und Qualifizierung der Fachkräfte erforderlich. Monitoring wird dabei als ein wichtiges
Instrument der Steuerung betrachtet. Selbstverständlich sind auch die bestehenden Finanzstrukturen zu berücksichtigen und im Sinne der Kooperation weiterzuentwickeln.
7.1 Eine strategische Entscheidung fällen
Das Modellvorhaben "Chancen für Familien" und sein ganzheitlicher Kooperationsansatz ist
ein wichtiges, langfristig angelegtes sozialpolitisches Vorhaben. Es bedarf zunächst einer
grundsätzlichen strategischen Positionierung der kommunalpolitischen Entscheidungsträger
und der überörtlichen Institutionen, Kostenträger und Verbände. Praktisch kann die Umsetzung erfolgen, indem die Entscheidungsträger aus Politik, Verwaltung und Verbänden sich
ganz bewusst in einem gemeinsamen Strategieprozess dafür entscheiden, ganzheitliche, auf
Kooperation und Prävention ausgerichtete Kommunikations- und Umsetzungsstrukturen
aufzubauen. Die Bertelsmann Stiftung bietet entsprechende Strategie-Workshops an.
Selbstverständlich ist es hilfreich, wenn eine solche Entscheidung auf der Grundlage einer
soliden Bestandsaufnahme getroffen wird. Sie muss den Entscheidungsträgern die Dringlichkeit der Veränderung deutlich machen, vor allem aber die zu erwartenden Perspektiven und
Verbesserungen für die Betroffenen und für die Kommune. Dabei sollte eine ganzheitliche,
volkswirtschaftliche Betrachtungsweise nicht zu kurz kommen. Die zu präsentierenden quantitativen und qualitativen Daten und Fakten können gleichzeitig als Ausgangsbasis für den
Aufbau eines Monitoring-Systems dienen. Zu berücksichtigen sind dabei:
•
•
•
Allgemeine Strukturdaten (Bevölkerungsentwicklung, Demographie, Familienstruktur,
Bildung, Gesundheit)
Umfassende Leistungsdaten (SGB II, SGB VIII, SGB XII) einschließlich einer detaillierten
Kostenaufstellung (Welches Helfersystem leistet welche Investitionen oder Transferleistungen?)
Überblick über präventive Angebote und Netzwerke, gesetzliche Rahmenbedingungen
und Verknüpfungen
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•
Akteurslandkarte
Wer ist in welcher Form an der Erbringung von Leistungen beteiligt, besonders
im Bereich von SGB II und SGB VIII?
Welche ergänzenden Unterstützungssysteme (Kita, Schule, Vereine, informelle Initiativen) helfen bei der Förderung der betroffenen Familien?
Eine strategische Entscheidung der Kommunalpolitik für eine konsequente, systematische
Kooperation zwischen Jugendhilfe und Jobcenter sowie weiterer Partner ist idealerweise in
ein bestehendes gesamtstädtisches Strategiekonzept eingebunden. Ein gutes Beispiel findet
sich in Monheim am Rhein. Im Zielkonzept 2020 der Stadt ist als eines von fünf Schwerpunktthemen formuliert: "Kinder- und familienfreundliche Stadt Monheim am Rhein".
7.2 Strukturen schaffen und Verbündete finden
Wenn eine Kommune verbindliche kooperative Unterstützungsstrukturen zwischen Jobcenter, Jugendhilfe und weiteren Partnern etablieren will, dann müssen sich die Entscheidungsträger darüber im Klaren sein, dass dies zu veränderten Finanzierungsanforderungen beim
Jobcenter und in der Jugendhilfe führt, auch zu anderen Finanzflüssen zwischen öffentlichen
und freien Trägern der Jugendhilfe. Unter Umständen müssen auch bestehende Aufgabenverteilungen zwischen den Kooperationspartnern und zum Beispiel zwischen Bildungs- und
Erziehungseinrichtungen überprüft und neu definiert werden. Nachfolgende Beispiele zeigen
das breite Spektrum an Handlungsmöglichkeiten auf:
• Sozialraumbudgets für präventive Maßnahmen werden eingerichtet und zum Beispiel
genutzt, um präventive, kleinräumige Initiativen und Anlaufstellen für Eltern und Kinder auszubauen oder Netzwerke der frühen Hilfe zu qualifizieren.
• Sportvereine werden durch Kooperationsverträge zu Partnern der Jugendhilfe. So
kann zum Beispiel ein Fußballverein sein Gelände zu bestimmten Tageszeiten für
nicht-organisierte Jugendliche öffnen und einen Ausgleich für den zusätzlichen Betreuungsaufwand erhalten.
• Kindertagesstätten werden finanziell dabei unterstützt, eine Zertifizierung als "Bewegungskindergarten" durch den Landessportbund zu erhalten.
• Jobcenter und Jugendhilfe stimmen ihre Maßnahmen der Hilfen zur Erziehung und
der Förderung der Arbeitsaufnahme unter Berücksichtigung der einzusetzenden
Transferleistungen aufeinander ab.
Neben den finanziellen Auswirkungen hat eine kooperative Neuausrichtung auch umfassende fachliche Konsequenzen. Im Sinne eines konsequenten, präventiven Handlungsansatzes
stellen die kleinen Einheiten und informellen Netzwerke (Eltern, Freunde, Nachbarschaften,
informelle Kontakte, zivilgesellschaftliche Gruppen und Initiativen) wichtige Unterstützungssysteme dar. In der Netzwerkforschung wird in vielen Studien die hohe präventive Bedeutung informeller, sozialer Netzwerke verdeutlicht. "Unsichere Familien" (schwer erreichbar,
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kaum Teilnahme an freiwilligen Präventionsangeboten) haben aufgrund negativer Erfahrungen häufig eine ängstliche Rückzugsmentalität entwickelt, statt offensiv in sozialen Netzen
mitzuwirken und damit ihre persönlichen Teilhabechancen zu verbessern. Es gilt also, dafür
zu sorgen, dass die Potentiale kleiner, informeller, sozialer Netze wahrgenommen und in
ihrer Funktionsfähigkeit gestärkt werden.
Folgende Aspekte sorgen für eine breite kommunale Verankerung dieses Handlungsansatzes:
1. Freiwilliges nachbarschaftliches oder bürgerschaftliches Engagement erfährt in der
Kommune fachliche Wertschätzung und (öffentliche) Anerkennung. Dazu werden Nachbarschaftsvereine, Familienkreise, Stadtteilmüttergruppen, (Gesundheits-) Lotsen, Babyund Neubürger-Begrüßungsdienste, Migrantenorganisationen sowie Kultur- und sonstige
Initiativgruppen angeregt bzw. in ihrer präventiven Arbeit begleitet und unterstützt.
2. Kindertagesstätten, Familienzentren und Schulen erreichen alle Kinder. Sie dienen deshalb auch als Orte des Austausches und der informellen Begegnung für Eltern. Gezielte
Initiativen aus diesen Einrichtungen unterstützen gemeinsam mit weiteren Partnern (Jugendhilfe, Sport, Erwachsenenbildung, Wirtschaft) direkt oder indirekt die Präventionsarbeit. Beispiele sind etablierte Projekte wie: Lesepaten bzw. "Oma/Opa liest vor", Haus
der kleinen Forscher, Rucksackgruppen, Elterncafés, Familientische, Bewegungskindergärten, Sporthelferkurse.
3. In Anlauf- und Begegnungsstätten (Nachbarschaftszentren oder Angebote von Bildungsträgern, Kirchen, freien Trägern und Sportvereinen) können Menschen angesprochen
werden, die ihre Bereitschaft zum freiwilligen Engagement, zum Beispiel in der nachberuflichen Phase, gerne in den Dienst der "Kommunalen Präventionskette" stellen wollen.
Bewährte Ansätze gibt es im Zusammenhang mit den Akteuren von EFI (Erfahrungswissen für Initiativen) oder ZwAR (Zwischen Arbeit und Ruhestand). Diese übernehmen vielfältige Aufgaben im Bereich informeller Kontaktpflege, aber auch im Rahmen von Projekten (Elternkurse, Geburtsvorbereitungs- und Gesundheitskurse, Kinderbetreuung).
4. Durch Ansätze der Gemeinwesenarbeit bzw. des Quartiersmanagements werden die
kleinen, informellen Einheiten und sozialen Netzwerke gestärkt und die sozialräumliche
Verankerung von Gruppen wird gesichert.
Chancen des Kooperationsansatzes
Gelingende Kooperationsprozesse haben nach den Erfahrungen des Lüner Modells folgende
Ergebnisse:
• Das Miteinander der beiden Hilfesysteme führt aus Sicht der Familien und der Fachkräfte zu effizienteren Leistungsangeboten und zeigt schneller Wirkung.
• Beide Systeme unterstützen sich, in Absprache mit den Familien, bei der Zielerreichung.
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• Die Fachkräfte haben die Unterstützungsangebote des jeweils anderen Systems von
Anfang an im Blick und beziehen sie mit ein. Dies führt dazu, dass frühzeitigere,
ganzheitliche Interventionen möglich sind und gezielte individuelle Lösungen bzw.
passgenaue Hilfen für die Betroffenen entwickelt werden können.
• Die ganzheitliche Förderung der Familien führt langfristig zu einer besseren gesellschaftlichen Integration, zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse und zu einer
höheren Stabilität der Familien. Ziel ist es, dass die Familien frei von (Transfer-) Leistungen leben. Im Fokus steht dabei vor allem, die Teilhabechancen für zukünftige
Generationen zu erhöhen.
• Durch Einsparung von Ressourcen und die Reduzierung der Kosten wird ein volkswirtschaftlicher Nutzen erzielt.
• Die Fallzahlen gehen zurück.
Risiken und Gefahren des Kooperationsansatzes mit Entscheidern besprechen
Es kann passieren, dass die Kooperation von Jugendhilfe und Jobcenter eine Eigendynamik
entwickelt. Die Zusammenarbeit gelingt so gut, dass sich die Fachkräfte über die Interessen
der Familien und Bedarfsgemeinschaften hinweg verständigen, nach dem Motto: "Wir wissen, was für die Klienten gut ist!" Um der berechtigten Angst davor entgegen zu wirken, ist
von Anfang an darauf zu achten, dass das Prinzip der Freiwilligkeit (Einverständniserklärung)
und der Transparenz (Dreiecksgespräche) eingehalten wird.
Leitsätze:
• Der Aufbau verbindlicher, kooperativer Unterstützungsstrukturen zwischen Jobcenter,
Jugendhilfe und weiteren Partnern wird von den kommunalpolitischen Entscheidungsträgern eindeutig befürwortet (politischer Beschluss), offensiv begleitet (regelmäßige Berichterstattung) und in seinen organisatorischen und finanziellen Konsequenzen mitgetragen.
• Die Verwaltung wird von der Politik beauftragt, beim Aufbau dieser Strukturen ein wirkungsorientiertes Anreiz-System zu entwickeln. Ziel ist es, Prävention zu fördern, statt
später teure finanzielle Hilfen zu finanzieren.
• Zwischen den beteiligten Institutionen wird eine verbindliche Kooperationsvereinbarung
abgeschlossen, die Elemente beinhaltet wie den strukturellen Rahmen, den Umgang mit
Datenschutz, Dokumentationsverfahren, finanzielle und personelle Ressourcen für die
Neu- und Weiterentwicklung.
• Betreuungs- und Unterstützungssysteme orientieren sich an den sozialräumlichen Gegebenheiten. Sie binden die Potentiale der kleinen, informellen Einheiten gezielt in ihr
Handeln ein.
• Fachkräfte kooperieren nur auf der Basis von Einverständniserklärungen. Durch Dreiecksgespräche (Eingliederungsvereinbarungen, Hilfeplangespräche) findet gemeinsam
mit den Familien eine Verständigung über Ziele und Maßnahmen der Unterstützung
statt.
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7.3 Ganzheitlich denken auf Leitungsebene
Wenn der Paradigmenwechsel in einer Kommune wirklich gewollt ist, müssen die Leitungskräfte eine Verpflichtung eingehen. Nämlich daran mitzuwirken, dass besonders die "unsicheren Familien" und die "(Hoch-)Risikofamilien" eine ganzheitliche Unterstützung erfahren.
Das heißt, dass die Familien:
•
•
•
•
•
•
umfassende Informationen über und barrierefreien Zugang erhalten zu den vielfältigen
Angeboten der medizinischen, psychosozialen und finanziellen Unterstützung und Begleitung (Beratungsführer, Baby-Begrüßungsdienste, gut informierte Fachkräfte in Verwaltung, Einrichtungen und sozialen Diensten),
bei konkretem Unterstützungsbedarf frühzeitig auf kompetente, kultursensible, ehrenamtliche und professionelle Ansprechpartner bzw. Begleiter treffen,
als Leistungsbezieher in gemeinsamen Dreiecksgesprächen dabei unterstützt werden,
ihre Potentiale zu entdecken. Und lernen, neben der Lösung akuter Notlagen, von Anfang
an ihre langfristigen beruflichen und familiären Perspektiven mit in den Blick zu nehmen
(Wie soll unsere Situation in zehn Jahren aussehen?),
bei der Suche nach qualifizierten Betreuungsplätzen in Kindertagesstätten, Elterninitiativen oder in der Tagespflege unterstützt werden und eine bedarfsgerechte Versorgung
ermöglicht wird,
Orientierung und Begleitung erhalten, damit sich die individuelle und schulische Entwicklung ihrer Kinder verbessert und der Übergang von der Schule ins Berufsleben oder Studium gelingt,
darin unterstützt werden, die Chancen informeller sozialer Netzwerke zu nutzen.
Damit Leitungskräfte in diesem Sinne handeln, müssen sie davon überzeugt sein, dass sie
über Zuständigkeitsgrenzen hinweg solche kooperativen Unterstützungsstrukturen zwischen
Jobcenter, Jugendhilfe und weiteren Partnern entwickeln und umsetzen können.
Dies kann zum Beispiel bedeuten, dass ein neu entstandenes lokales Netzwerk "Frühe Hilfen", in dem Hebammen, Ärzte, medizinische und psychosoziale Dienste oder Ehrenamtliche
mitwirken, nicht nur als zusätzlicher Arbeitskreis gesehen wird, sondern für systematische,
fallbezogene Kooperationen mit dem Jobcenter oder anderen Partnern herangezogen wird.
Es gibt weitere Beispiele:
•
•
Finanzielle Anreize in Form von Sozialraumbudgets sorgen dafür, dass der Präventionsgedanke konsequent in einzelnen Stadtteilen oder in kreisangehörigen Städten und Gemeinden umgesetzt wird.
Gut ausgebildete Kinderschutzfachkräfte aus Kindertagesstätten werden kontinuierlich
für ihre Aufgabe sensibilisiert und besonders im Umgang mit unsicheren Eltern gestärkt.
Die Aufgaben von Jobcenter und Jugendhilfe sind ihnen bekannt und persönliche Kontakte schaffen leichte Zugänge zu den jeweiligen Fachkräften.
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•
Lokale Handlungskonzepte ermöglichen eine umfassende Einbindung der Freiwilligenarbeit und des bürgerschaftlichen Engagements in die Förderung von Kindern und Eltern.
Leitsätze:
• Leitungskräfte sind von dem Handlungsansatz der verbindlichen, kooperativen Unterstützungsstrukturen zwischen Jobcenter, Jugendhilfe und weiteren Partnern überzeugt.
Sie überwinden im traditionellen Denken und Handeln bestehende Hindernisse und entwickeln nach und nach zukunftsorientierte Umsetzungsverfahren.
• Leitungskräfte erhalten Rückendeckung von den kommunalpolitischen Entscheidungsträgern und werden dadurch in ihrem Handeln gestärkt.
• Leitungskräfte nutzen eine fundierte Datenbasis (Monitoring-System) als qualifiziertes
Steuerungsinstrument.
7.4 Mitarbeiter aktiv einbinden
Ein erfolgreich gestalteter Kooperationsprozess eröffnet den einzelnen Fachkräften die
Chance, zu einem stärker abgestimmten Miteinander zu gelangen. Strukturierte, verbindliche Austauschprozesse auf dem kurzen Dienstweg erleichtern die Arbeit. Außerdem erhöhen sie die Qualität der Arbeit und geben dem Einzelnen mehr Handlungssicherheit, zum
Beispiel durch verschiedene Sichtweisen auf die Familie bzw. Bedarfsgemeinschaft oder
durch die Einverständniserklärung. Daraus resultiert in der Regel auch ein Mehr an Erfolgserlebnissen und Arbeitszufriedenheit, was wiederum die Motivation steigert. So kann letztendlich für alle Beteiligten eine Win-win-Situation entstehen.
Ein funktionierendes, transparentes Kooperationsverfahren führt allerdings gleichzeitig zu
einem Mehr an gegenseitigen Einblicken in die individuellen und institutionellen Arbeitsweisen. Damit verbunden ist häufig die Sorge vor kollegialer Kontrolle, Erfolgsdruck und vor
Fremdbestimmung durch Vorgesetzte. Ähnlich wie bei den Kunden gilt auch hier das Transparenzgebot. Es ist notwendig, dass die Inhalte und die Art und Weise der Fallarbeit miteinander abgestimmt werden und eine regelmäßige gemeinsame Bewertung der Daten und
Fakten vorgenommen wird. Darüber hinaus ist unbedingt darauf zu achten, dass sich die
Beteiligten im Rahmen der Einführung des Kooperationsansatzes auch über die Leitziele und
die damit verbundene Grundhaltung verständigen. Hilfreich ist es, wenn dabei auch über die
vorherrschenden fachlichen Handlungsansätze (Sozialraumorientierung, Systemischer Beratungsansatz etc.) gesprochen wird.
Ist die Transparenz gesichert und werden alle Beteiligten in die Entscheidungsprozesse einbezogen, dann führt ein erfolgreich eingeführter Kooperationsansatz dazu, dass alle Beteiligten, bezogen auf den einzelnen Fall, über den gleichen Wissensstand verfügen. Damit ist
gleichzeitig eine bessere Fallsteuerung möglich und die Fachkräfte können sich auf ihre je-
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weiligen Kernaufgaben konzentrieren, ohne zum Beispiel Gefahr zu laufen, von den Klienten
gegeneinander ausgespielt zu werden.
Eine sinnvolle, aufeinander abgestimmte Aufgabenverteilung kann dazu führen, dass Doppelarbeit vermieden wird:
• Familien/Bedarfsgemeinschaften müssen nicht alles mehrfach darstellen.
• Fachkräfte können sich gemeinsam mit den Familien über mögliche Maßnahmeketten und Unterstützungsansätze verständigen.
• Langwierige, nachträgliche, kommunikationsempfindliche Abstimmungsprozesse
werden reduziert.
• Es wird leichter Transparenz hergestellt darüber, wer wann was unternimmt und mit
welcher Absicht.
• Es entwickelt sich eine "gemeinsame Sprache", die eine bessere, an den Bedarfslagen
orientierte Verständigung ermöglicht.
• Ineinander greifende Maßnahmeketten mit bedarfsgerechten Angeboten führen zu
schnelleren, kleinschrittigen und nachhaltigen Erfolgen.
• Die langfristigen Perspektiven der Familien und die Sicherung der Nachhaltigkeit der
Maßnahmen werden von Anfang an im Blick behalten.
• Ein systematisches, abgestimmtes Vorgehen reduziert den Verwaltungsaufwand.
Dabei sollte man folgende Risiken und Gefahren im Blick behalten:
• Zeitliche Befristung der Betreuung durch das Jobcenter: Zu berücksichtigen ist, dass
beim Jobcenter Kreis Unna die maximale Betreuung im Fallmanagement auf ein bis
höchstens zwei Jahre begrenzt ist, während die Unterstützung durch die Jugendhilfe
wesentlich länger angelegt sein kann. Hier gilt es, im Rahmen der längerfristigen
Maßnahmenplanung, den begrenzten Zeitraum von Anfang an einzuplanen.
• Fluktuation der Fachkräfte: Diese kann aus unterschiedlichen Gründen erfolgen. Eine
gute Dokumentation kann die dadurch entstehenden Reibungsverluste zum Teil auffangen. Allerdings benötigt der Aufbau einer Vertrauensbeziehung immer Zeit. Im
Verhältnis zu den Familien oder Bedarfsgemeinschaften kann es von Vorteil sein,
wenn eine Person aus dem Betreuungs-Tandem weiterhin zur Verfügung steht.
• Unterschiedliche Zielsetzungen und Finanzierungsanforderungen bei Jobcenter und
Jugendhilfe: Durch den ganzheitlichen Ansatz sollen nach Möglichkeit Lösungen gefunden werden, die dazu beitragen, die Familien oder einzelne Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft in ihrer Handlungskompetenz zu stärken. Regelmäßige fachliche
Reflexionsschleifen (Workshops, Teamgespräche) können dazu beitragen, dass die Intentionen unterschiedlicher Zielsetzungen verdeutlicht und nach sinnvollen Lösungen
gesucht werden kann.
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Leitsätze:
• Fachkräfte arbeiten nach verbindlich vereinbarten Qualitätsstandards (Beratung, Kommunikation, Dokumentation).
• Regelmäßige, strukturierte Reflexionsschleifen (Praktiker-Workshops, Teamgespräche)
sichern die fallbezogene und fallübergreifende Abstimmung zwischen den unterschiedlichen Helfersystemen.
7.5 Einen langen Atem haben
Das Verändern von etablierten, manchmal starren Verfahrensweisen und Unterstützungsstrukturen erfordert ein Denken in langen Zeiträumen. Aus der Organisationsentwicklung ist
bekannt, dass die Entwicklung und Etablierung von grundlegend neuen Handlungsmustern in
Organisationen in der Regel drei bis fünf Jahre dauert. Weitere ein bis drei Jahre sind notwendig, bis sich die angestrebten Veränderungen in Alltagsroutinen so verfestigt haben, dass
es keinen Rückfall mehr in "alte Zeiten" gibt (vgl. dazu Uwe Böning, Brigitte Fritschle: Veränderungs-Management auf dem Prüfstand. Eine Zwischenbilanz aus der Unternehmenspraxis.
Haufe-Verlag, 1997, ISBN 3448035122).
Um eine qualifizierte Prozesssteuerung zu verankern, braucht es eine klare Beschreibung der
Verantwortlichkeiten. Außerdem muss eine funktionsfähige Kommunikations- und Steuerungsstruktur erarbeitet werden. In Lünen hieß das:
• Einrichtung einer Steuerungsgruppe (nicht Leitung) zur Prozessoptimierung
• Durchführung regelmäßiger Praktiker-Workshops (Kennenlernen der Akteure, Systeme verstehen, Beziehungen pflegen, Weiterbildung)
• Einbeziehung anderer relevanter Akteure
• Einrichtung eines verbindlichen Dokumentations- und Monitoring-Systems
Leitsatz:
Der Aufbau von nachhaltigen Kooperationsstrukturen ist eine auf Dauer angelegte, anspruchsvolle kommunale Gestaltungs- und Steuerungsaufgabe.
7.6 Das Miteinander managen
Beim Aufbau einer kooperativen Kultur des Miteinanders kommt dem kommunalen Management eine zentrale Schlüsselrolle zu. Schließlich handelt es sich um eine komplexe
Querschnittsaufgabe, die nicht von einer Fachabteilung allein oder von einem Dezernat bewältigt werden kann. Wenn verbindliche, kooperative Unterstützungsstrukturen zwischen
Jobcenter, Jugendhilfe und weiteren Partnern umgesetzt werden sollen, dann muss das traditionelle Denken und Handeln in Zuständigkeiten verändert werden: zu Gunsten eines am
Bedarf von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern orientierten Vorgehens.
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Dazu ist es notwendig, in einem ressort- und organisationsübergreifenden Teilhabeprozess
ein klares Konzept zur Umsetzung zu entwickeln und zu verankern. Die unterschiedlichen
Leitungsebenen und die operativen Ebenen werden sinnvollerweise in einen solchen Prozess
einbezogen (Top-down- und Bottom-up-Unterstützung). Nachfolgende Aspekte finden dabei
idealerweise Berücksichtigung:
•
•
•
•
•
Alle relevanten Schlüsselpersonen aus den beteiligten Dezernaten und Institutionen haben ein klares Bild davon, welchen Nutzen eine verbindliche, kooperative Unterstützungsstruktur zwischen Jobcenter, Jugendhilfe und weiteren Partnern für ihren jeweiligen Arbeitsbereich und für die Kommune hat. Sie wissen aber auch, welchen Beitrag sie
dafür zu leisten haben (Sach-, Finanz- und Personalressourcen).
Es wird regelmäßig eine ressort- und organisationsübergreifende Abstimmung mit allen
beteiligten Dezernaten, betroffenen Arbeitskreisen und Gremien herbeigeführt.
Es gibt eine transparente Kontaktaufnahme und Kooperation mit potenziellen Partnern
(freien Träger, Partnern aus der Wirtschaft, sonstigen Organisationen der Zivilgesellschaft).
Es gibt klare Absprachen darüber, wer in dem Prozess welche Rolle hat (Leistungserbringer, Kooperationspartner, Kümmerer bzw. Projektverantwortlicher) und wer welche Aufgaben übernimmt.
Es ist geklärt, welche Kompetenzen (Moderation, Prozessbegleitung, Projektmanagement) von den mitwirkenden Beschäftigten erwartet werden bzw. welche Aufgaben eher
durch externe Akteure geleistet werden sollen.
Leitsätze:
• In der Kommune wird das traditionelle Denken in Zuständigkeiten von einem ressortübergreifenden Managementkonzept abgelöst.
• Eine verbindliche, kooperative Zusammenarbeit zwischen Jobcenter, Jugendhilfe und
weiteren Partnern wird durch einen Beschluss des Verwaltungsvorstandes der Geschäftsführung des Jobcenters als ressortübergreifende Querschnittsaufgabe in der jeweiligen
Organisation verankert.
• Transparenz sorgt dafür, dass Energien nicht in unnötigen Doppelstrukturen und zuwiderlaufenden Aktivitäten vergeudet werden.
7.7 Netzwerke initiieren und einbinden
Eine verbindliche, kooperative Unterstützungsstruktur zwischen Jobcenter, Jugendhilfe und
weiteren Partnern zu entwickeln, braucht - wie wir gesehen haben - eine eindeutige Positionierung von Politik und Verwaltung. Darüber hinaus gibt es viele freie Träger, Einrichtungen,
Dienste, Vereine, Gruppen oder Initiativen in einer Kommune, die eingebunden werden
müssen. Sie übernehmen gerade aufgrund ihrer Nähe zu den Betroffenen eine wichtige Mittlerfunktion. Dies bedeutet, dass die Verantwortlichen für den Aufbau und die Umsetzung der
kooperativen Unterstützungsstrukturen diese Akteure als wichtige Partner in ihre ÜberleSeite 35 von 45
gungen einbeziehen müssen. Dazu bedarf es der Initiierung und Steuerung entsprechender
Netzwerke.
Die staatlichen Stellen haben somit auch die Aufgabe, für eine funktionierende Zusammenarbeit in den Netzwerken zu sorgen. Dabei gilt es zu beachten, dass sich das Managen von
Netzwerken von den Führungsaufgaben eines Amtsleiters oder Dezernenten in einem hierarchischen System deutlich unterscheidet. "Führen" im klassischen Sinn bedeutet, Entscheidungen zu treffen, deren Umsetzung zu veranlassen und Ergebnisse zu überprüfen. Bei
Netzwerken bezieht sich die Aufgabe des Managens auf Prozesse des Aushandelns, des Gestaltens und Vereinbarens. Hier langfristig erfolgreich zu sein, heißt, Widersprüche auszuhalten und bei Zielkonflikten zwischen Gemeinwohl und Einzelinteressen immer wieder einen
Ausgleich herzustellen.
Erfolgreich agierende Netzwerker müssen Fach- oder Führungskräfte sein, die über die Fähigkeit verfügen, andere in Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Die es schaffen, diese
Prozesse der Beteiligung intern und extern zu konzipieren und zu gestalten, für eine transparente Kommunikation zu sorgen und zielorientiert zu handeln.
Die erfolgreiche Steuerung eines Netzwerkes erfordert somit:
•
•
•
•
ein verbindliches, ressortübergreifendes Steuerungs- und Kommunikationssystem
ein definiertes Selbstverständnis als Netzwerkmanager
klare Absprachen über die Rollen und Aufgaben der Beteiligten, vor allem zwischen Politik, öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe, Schulträgern und Schulaufsicht
eine Verknüpfung bzw. Weiterentwicklung bestehender Gremien, um Synergieeffekte zu
schaffen und Parallelstrukturen zu vermeiden, zum Beispiel nach§ 78 KJHG (Kinder- und
Jugendhilfegesetz), NÜS (Neues Übergangssystem NRW), KAOA (Kein Abschluss ohne Anschluss) oder im Rahmen regionaler Bildungsnetzwerke
Ein partizipativ, also auf Mitsprache angelegter Prozess der Netzwerkgestaltung ermöglicht
den beteiligten Akteuren, dass
•
•
•
•
sie sich mit ihren persönlichen oder fachlichen Interessen einbringen,
sie den Paradigmenwechsel zu ihrer Sache machen,
sie einen ihrer beruflichen, gesellschaftlichen oder politischen Position entsprechenden
Platz in dem Prozess einnehmen (Unter- oder Überforderung vermeiden),
ihre jeweiligen Rollen und Aufgaben klar vereinbart sind.
So kann der angestrebte Paradigmenwechsel - hin zu einer auf Prävention ausgerichteten
Kooperationskultur - durch verbindliche Netzwerkstrukturen abgesichert werden. Daran
beteiligt sind neben den Verantwortlichen der Jugendhilfe, des Jobcenters und der BildungsSeite 36 von 45
institutionen auch spezifische Akteure, wie zum Beispiel Hebammenpraxen, Gynäkologen,
Kinderärzte, Polizei, Baby-Begrüßungsdienste, Schwangerschaftsberatungsstellen oder Frühförderstellen.
Ein solches, in der Kommune etabliertes, Präventionsnetzwerk zur Förderung von Familien
und Bedarfsgemeinschaften kann zum Beispiel flexibel auf wechselnde Bedarfe reagieren
und entsprechende außerfamiliäre Angebote in den Bereichen Bildung, Erziehung, Betreuung und Beratung vorhalten. Bisher voneinander getrennt erbrachte Leistungen und Angebote können inhaltlich aufeinander abgestimmt werden. Dabei werden rechtliche Rahmenbedingungen berücksichtigt wie zum Beispiel
•
•
•
das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG)
das Kinderbildungsgesetz (KiBiz), § 14 NRW
oder Kooperationen im Bereich des Kinderschutzesanalog den § 8a und 72a SGB VIII,
Kinder- und Jugendhilfegesetz, sowie § 42 Abs. 6, Schulgesetz NRW
Leitsatz:
• Mit der Entscheidung für eine Kooperation ist die Aufgabe verbunden, dass die institutionellen Akteure - dazu zählen zum Beispiel Hebammen, Kinderärzte, Familienpflegerinnen, Pädagogen, Schulsozialarbeiter oder Beschäftigte in den sozialen Diensten und im
Jobcenter - eine Kultur des aktiven, gemeinsamen Hinschauens und des abgestimmten,
proaktiven Reagierens entwickeln.
• Kompetent gestaltete Netzwerkstrukturen sichern eine qualifizierte Kommunikation zwischen den beteiligten Partnern und tragen zur permanenten Weiterentwicklung des
Handlungsansatzes bei.
7.8 Mitarbeiter fachlich unterstützen
Klare strategische Entscheidungen der Politik, eine organisatorische Weiterentwicklung des
Jobcenters und der Kommunalverwaltung sowie funktionierende Netzwerk- und Kommunikationsstrukturen sind wichtige Eckpunkte, wenn der angestrebte Paradigmenwechsel nachhaltig gelingen soll. Letztlich wird das Gelingen eines solchen herausfordernden Veränderungsprozesses allerdings von den Menschen abhängen, die sowohl auf der strategischen als
auch auf der operativen Ebene für die Umsetzung der angestrebten Ziele zuständig sind.
Deshalb sind im Rahmen der Personalentwicklung begleitende Qualifizierungs- und Unterstützungsmaßnahmen notwendig: Sie sollen den Beschäftigten sehr gute Kenntnisse in Moderation, Projektmanagement, Führung und Controlling vermitteln und sie mit speziellen
Arbeitsmethoden vertraut machen, wie dem Empowerment, also dem Übertragen von Verantwortung, sowie dem Fallmanagement der Gemeinwesenarbeit. Hilfreich sind dabei auch
zusätzliche Einzel- oder Gruppen-Coachings sowie die Einführung der sogenannten "Kollegialen Beratung"
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Leitsätze:
• Projektverantwortliche sind gleichzeitig qualifizierte Netzwerkmanager. Als Fach- oder
Führungskräfte verfügen sie über die Fähigkeit, in der Verwaltung und im Netzwerk Beteiligungsprozesse zu konzipieren und zu gestalten. Sie sorgen für eine transparente
Kommunikation und handeln zielorientiert.
• Beschäftigte sind aufgrund ihrer Einstellungen und ihrer Qualifikationen fachlich und
konzeptionell in der Lage, den Paradigmenwechsel hin zu einer Kooperationskultur konstruktiv zu gestalten.
7.9 Monitoring und Datenanalyse
Damit zur Verfügung stehende Mittel an der richtigen Stelle sinnvoll eingesetzt und die Erfolge der Unterstützungsstrukturen langfristig sichtbar gemacht werden können, müssen
quantitative und qualitative Daten erhoben werden. Im Rahmen des Monitorings verpflichten sich die beteiligten Institutionen und Dienste in Kooperationsverträgen, Daten und Fakten regelmäßig offenzulegen bzw. zur Verfügung zu stellen. Dazu gehören:
•
•
•
•
Strukturdaten der Leistungsbezieher
Umfang der Transferleistungen
Anzahl und Art der Nutzer von offenen Angeboten und Dienstleistungen
Qualitative Erkenntnisse zu Bedarf und Nachfrageverhalten der Nutzer oder zu den
Wirkungen einzelner Angebotsformen etc.
Das Monitoring-System bildet die Entscheidungen des Strategieprozesses inhaltlich und
strukturell ab. Beispielsweise orientiert sich die Zusammenstellung der Daten und Fakten an
Ansätzen der Sozialraumorientierung und der interkulturellen Öffnung. Struktur- und Leistungsdaten werden entsprechend sozialräumlich und kultursensibel aufgearbeitet. Mithilfe
des SROI Modells (Social Return on Investment, siehe unten) wird dabei der Zusammenhang
zwischen erfolgtem Aufwand (Personal, Transferleistungen, Vorhaltung von Einrichtungen)
und den erzielten Wirkungen betrachtet. Damit verbunden ist auch eine kontinuierliche Bilanzierung der sozialen Folgekosten. Die regelmäßige Evaluation bzw. Wirkungsanalyse liefert der Politik qualifizierte Hinweise für die strategische Steuerung und ermöglicht gleichzeitig eine passgenaue Steuerung auf der operativen Ebene.
7.10 Wirkungen messbar machen – das SROI Modell
Die Summe der Transferleistungen für einzelne Familien, die Qualität der pädagogischen
Unterstützungsleistungen und Maßnahmen, der Umfang der Einbindung der Ressourcen des
Sozialraumes, aber auch die Qualität der Kooperationsbeziehungen zwischen den beteiligten
Institutionen oder Fachbereichen - all das sind Wirkungsindikatoren, deren regelmäßige Evaluation den intern und extern beteiligten Akteuren Orientierung und Sicherheit in Bezug auf
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den Gesamtansatz geben. Gleichzeitig sagt die Evaluation dieser Indikatoren etwas aus über
die zu erwartenden direkten und indirekten sozialen Folgekosten für die Kommune. Als adäquates Konzept hierzu wird das SROI Modell vorgeschlagen. Dazu folgende Hinweise:
S R O I (Social Return on Investment)
Wirkungen:
•
•
•
Durch die Analyse des SROI (Social Return on Investment) wird der volkswirtschaftliche Nutzen
der Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfedienst und Jobcenter dargestellt
Darüber hinaus werden die monetären und nicht-monetären Wirkungen des gesamten Hilfeund Helfersystems ermittelt
Kommunalpolitische Entscheidungsträger aus Politik, Verwaltung und Jobcentern erhalten konkrete Daten und Fakten zum Umfang und zu den Wirkungen von Transferleistungen nach dem
SGB II und SGB XIII
Umsetzung:
I.
Durchführung von zwei Workshops „SROI“
1. Einführung in SROI (Input)
2. Gemeinsame Erstellung einer „Impact-Map“ am Beispiel eines Nutzers/Kunden
• Wer sind die Interessenträger? (Stakeholder)
Zum Beispiel: Jobcenter, Jugendhilfedienst, Kindertagesstätten, Vereine
• Was investieren sie? (Input)
Zum Beispiel: Geld für Maßnahmen, Wohngeld, Hilfen zur Erziehung
• Welche Aktivitäten werden durchgeführt?
Zum Beispiel: Maßnahmen, Personal
• Was kam durch die Aktivität zustande (Output)?
Zum Beispiel: Maßnahme á vier Stunden täglich/fünf Stunden Betreuung pro Tag
• Was sind die Wirkungen? (Outcome/Impact)
Zum Beispiel: Personen beherrschen den Umgang mit einem Computer/Kind ist stabiler
• Was wäre auch ohne die Maßnahme geschehen? (Identifizierung des Deadweights)
Zum Beispiel: Wohngeld würde weiterhin ausgezahlt werden
• Anhand welcher Indikatoren lässt sich die Wirkung (Impact) messen?
Zum Beispiel: Ermittlung der Kosten im SGB-II-Bereich/Wirkungen vom Ehrenamt für einen Stadtteil darstellen
3. Zusammenführung der Daten und errechnen des SROIs
II. Erstellung eines SROI-Handlungskonzeptes
Leitfragen der Zusammenarbeit:
1. Wie kann SROI in den Arbeitsalltag von Jugendhilfedienst und Jobcenter integriert werden?
2. Welche Daten sind vorhanden und müssen mit welchem Aufwand evaluiert werden?
3. Was muss noch geleistet werden, um eine SROI-Analyse als Standard einzuführen?
III. Workshop zur Überführung in den Arbeitsalltag und Weiterentwicklung des SROI-Konzeptes
•
Begleitung der Akteure und Weiterentwicklung des SROI-Konzeptes
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Instrumente: Excel-Tabelle und Wirkungsindikatoren
Im Rahmen des KOMM-IN Projektes wurden zwei Instrumente entwickelt:
• Excel-Tabelle "NAME"
• Wirkungsindikatoren
Excel-Tabelle "NAME"
•
•
•
Die Excel-Tabelle "NAME" verknüpft die Daten von Jobcenter und Jugendhilfedienst unter
Berücksichtigung des Datenschutzes
In der Tabelle sind die für das Projekt erforderlichen Daten hinterlegt: Name, Kosten, etc.
Für ein langfristiges Monitoring zur Überprüfung der finanziellen Auswirkungen ist damit der
Bedarf gedeckt
Abbildung 1: Ausschnitt aus der Excel-Tabelle "NAME"
Wirkungsindikatoren
Im Rahmen der Praktiker-Workshops wurden Wirkungsindikatoren entwickelt, die Auskunft
über die Zielerreichung des Projektes geben. Diese sind im weiteren Prozess weiterzuentwickeln.
Harte Indikatoren:
• Senkung der Leistungen im Bereich Jugendhilfe und Jobcenter
• Rückgang der Fälle und Sozialfallzahlen
• Abschluss eines Arbeitsvertrages
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Weiche Indikatoren:
• Die Selbstständigkeit des Kunden/Nutzers wächst:
o vereinbart selbstständig Termine
o nimmt Termine pünktlich wahr
o wird selbst aktiv
• Das gemeinsame Dreiecksgespräch ist erfolgreich:
o der Kunde/Nutzer beteiligt sich aktiv am Prozess
o der Kunde/Nutzer ist motiviert
o das Gespräch wird offen geführt
o die vereinbarte Hilfe wird umgesetzt
o der Kunde/Nutzer hat Freude an Maßnahmen
• Weitere Indikatoren:
o Reaktion der Personen
o Feedback aus dem Umfeld
o Jugendhilfe/Jobcenter hat einen guten Ruf bei den Menschen vor Ort
Berücksichtigen muss man bei den hier aufgeführten Indikatoren, dass Erfolge in der Regel
erst mittel- oder langfristig zu erwarten sind.
Leitsatz: Ein etabliertes, leicht handhabbares Monitoring-System überprüft die bestehenden
Leistungen, Angebote und Maßnahmen regelmäßig in Bezug auf ihre Wirksamkeit.
8 Zusammenfassung
Das Projekt ist kein Selbstläufer, bei dem den Beteiligten die Ergebnisse in den Schoß gefallen sind. Aber getragen von Überzeugung und Realismus ist die Umsetzung jedoch erfreulich
reibungslos gelungen. Die Mühen des Alltags ließen sich überwinden, weil die Ziele stimmten, sich alle damit identifizieren konnten und persönliche Erfolge erzielt wurden. Das Projekt lässt sich sehr gut in den Arbeitsalltag integrieren. Es wird von den Beteiligten nicht als
zusätzliche Aufgabe empfunden, sondern als Erweiterung der Perspektive und Erleichterung
der praktischen Arbeit. Klare Regeln und Absprachen sorgen dafür, dass sich nicht nur die
informelle Zusammenarbeit verbessert, sondern auch eine abgesicherte und strukturelle
Veränderung erreicht wird. Die Organisation folgt der Funktion.
"Das Ende ist immer auch ein Neuanfang." Dieser optimistische Ausblick des Fachdezernenten für Jugend, Bürgerservice und Soziales der Stadt Lünen, Ludger Trepper, beschreibt sehr
treffend den Abschluss des Projektes "Chancen für Familien". Mit Beendigung der externen
Begleitung ist nun der Grundstein für eine Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfedienst und
Jobcenter Kreis Unna gelegt. Erste Erfahrungen wurden in gemeinsamen Gesprächen mit
den Familien gesammelt und stimmen alle Beteiligten sehr zuversichtlich. Sowohl die BeSeite 41 von 45
schäftigten der Jugendhilfedienste und des Jobcenters Kreis Unna als auch die bisher beteiligten Familien sind von den gemeinsamen Gesprächen positiv überrascht und erste handfeste Erfolge haben sich bereits gezeigt.
In den nächsten Jahren wird es darum gehen, die erarbeiteten Kommunikations- und Steuerungsstrukturen in Eigenregie zu festigen und qualitativ weiterzuentwickeln. Darüber hinaus
sind verschiedene Aspekte noch weiter zu bearbeiten und auszuweiten.
Abschließend sollen noch einmal die zentralen Erfolgsfaktoren und Herausforderungen dargestellt werden.
8.1 Wie Kooperation gelingen kann
Damit der Aufbau eines kooperativen Unterstützungssystems zwischen Jugendhilfe und Jobcentern gelingen kann, sind verschiedene Faktoren von Bedeutung. Die Praxis hat gezeigt,
dass die nachfolgenden Bedingungen besonders wichtig sind, wenn die Einführung von kooperativen Unterstützungssystemen gelingen soll:
•
Die Entscheidung erfolgt durch die Verwaltungsführung der Kommune und die Geschäftsführung des zuständigen Jobcenters. Die Verantwortlichen beider Organisationen
sind von dem kooperativen Handlungsansatz überzeugt, vermitteln dieses offensiv an ihre Beschäftigten und treten gemeinsam als Promoter des Implementierungsprozesses
auf.
•
Es gibt klare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten auf der mittleren Managementebene. Der "Prozess-Verantwortliche" ist mit entsprechenden Kompetenzen und Ressourcen ausgestattet. Die verantwortlichen Führungskräfte auf der operativen Ebene in
den jeweiligen Teilsystemen steuern und unterstützen das Projekt mit Überzeugung und
vollem Einsatz.
•
Es gibt sowohl auf der strategischen als auch auf der operativen Ebene eine gemeinsam
abgestimmte, verbindliche Zielformulierung, die kontinuierlich überprüft und nach Bedarf weiterentwickelt wird.
•
Es gibt eine Verständigung über den Umgang mit grundlegenden Fragen und Handlungsansätzen (Sozialraumorientierung, Fallmanagement, fallübergreifende und fallunabhängige Aktivitäten). Die Art der Kooperation mit freien Trägern, Unternehmen, Schulen,
Vereinen und Gruppen ist verbindlich geregelt und wird transparent gestaltet.
•
Die Einführungsphase erfordert große Aufmerksamkeit. In der Einführungsphase wird
den Projektbeteiligten in ausreichender Zeit erklärt, mit welcher Absicht ein kooperatives
Unterstützungssystem zwischen Jugendhilfe und Jobcenter aufgebaut wird und welchen
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Mehrwert man sich davon verspricht. Es gibt Praktiker-Workshops, kollegiale Beratung
und Unterstützung durch die unmittelbaren Führungskräfte, damit die Beschäftigten auf
der operativen Ebene die Möglichkeit haben, sich fallbezogen mit den konkreten Rahmenbedingungen, Hindernissen und Chancen des Kooperationsansatzes auseinanderzusetzen, die Verfahrensabläufe zu verinnerlichen und regelmäßig zu reflektieren.
•
Die Projektsteuerung erhält eine zentrale Bedeutung. Sie sollte paritätisch mit Mitarbeitern der verschiedenen Hierarchiestufen besetzt sein, für eine transparente Kommunikation sorgen und ein verbindliches, organisationsübergreifendes Dokumentationsverfahren absichern. Der Kommunikation kommt eine Schlüsselrolle zu. Je besser die Zusammenarbeit zwischen den Schlüsselpersonen beider Systeme funktioniert, desto besser
gelingt die Umsetzung und wird die Qualität der Ergebnisse sein.
•
Verbindliche und leicht zu handhabende Dokumentations- und Evaluationsverfahren sind
zentrale Steuerungselemente einer kooperativen Zusammenarbeit der beiden SGBBereiche. Die frühzeitige Einbindung der zuständigen Fachkräfte (IT-Experten, Controller,
wirtschaftliche Jugendhilfe, Jugendhilfeplaner etc.) sichert die zügige Erstellung entsprechender Dokumentationsverfahren.
•
Die Erstellung und Präsentation eines jährlichen Monitoring-Berichtes sichert die strategische Ausrichtung und dient der internen Steuerung auf der operativen Ebene. Gleichzeitig ist ein solcher Bericht eine wichtige Informationsquelle für alle Kooperationspartner und für die Politik.
•
Für die Akzeptanz des kooperativen Ansatzes über Systemgrenzen hinweg muss immer
wieder geworben werden. Idealerweise ist für die Beteiligten schon zu Beginn des Kooperationsprozesses klar, welche positiven Veränderungen für die betroffenen Familien
und Bedarfsgemeinschaften erzielt werden können und was der Prozess ihnen und ihrer
Aufgabenerfüllung bringt.
•
Es sollte Offenheit dafür bestehen, neue Handlungsansätze und Methoden auszuprobieren.
•
Die Einbindung externer Experten als Prozessbegleiter, Evaluatoren oder als Referenten
für Fortbildungen ist ein wichtiges Element des Kooperationsprozesses.
•
Der Aufbau des kooperativen Unterstützungssystems muss im Kontext mit bestehenden
kommunalen Reformaktivitäten erläutert werden. Wie passt der Ansatz in bestehende
Prozesse, zum Beispiel zur Förderung der Integration oder Inklusion oder des Aufbaus einer kommunalen Bildungslandschaft? Was ist der Unterschied? Welcher Nutzen kann
durch ein abgestimmtes Vorgehen erzielt werden?
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8.2 Was wir nächstes Mal anders machen würden
•
Die Rolle der Leitungskräfte von Anfang an stärker in den Blick nehmen:
Aufgrund des Pilotcharakters war am Anfang nicht klar, welch einen hohen Stellenwert
die Gruppen-, Bezirks- und Abteilungsleiter bei der Umsetzung des Kooperationsprojektes einnehmen. Diese haben viele Aufgaben: Die Ideen des Projektes gegenüber den
Mitarbeitern und externen Kooperationspartnern zu transportieren, Bedenken und Widerstände aufzugreifen und nach Lösungen zu suchen, eine zeitnahe Dokumentation der
fallbezogenen Kooperation abzusichern, mit der Leistungssachbearbeitung (Jobcenter)
und der wirtschaftlichen Jugendhilfe zu kommunizieren, mögliche Irritationen bei den
Familien und Bedarfsgemeinschaften zu klären sowie den individuellen Förderbedarf der
Beschäftigten zu transportieren.
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Datensammlung nicht unterschätzen: Es war bei Projektbeginn nicht eindeutig geklärt,
welche Daten in welcher Qualität für ein qualifiziertes Monitoring benötigt werden. Die
Beteiligten gingen davon aus, dass vorhandene Daten lediglich zusammengeführt werden müssten. Nach der Auswertung der vorliegenden Unterlagen und den Gesprächen
mit den Projektpartnern und den Schlüsselpersonen wurde klar, dass die Berechnungsgrundlagen und Datenquellen sehr unterschiedlich genutzt und interpretiert werden.
Häufig ist auch nicht klar, wer Monitoring-Berichte in welcher Form als Entscheidungsgrundlage bzw. Steuerungsbasis nutzt. Deshalb wurden ergänzend Daten mit Hilfe strukturierter Interviews und Fragebögen erhoben. Diese Vorgehensweise kostete mehr Zeit
und verursachte Aufwand, der im Vorfeld nicht eingeplant war.
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Transparenz herstellen und Beteiligung sichern: Kommunalpolitische Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung sowie weitere Schlüsselpersonen (Akteure aus Verbänden, Schulen, Vereinen) sollten von Anfang an in die Diskussion um die Entwicklung eines
Kooperationsmodells einbezogen werden. Dazu sind folgende Schritte hilfreich:
1. Strategie-Workshop: In einem Workshop setzen sich die kommunalpolitisch Verantwortlichen mit den Grundideen des Modellvorhabens auseinander und formulieren konkrete Ziele für ihre Kommune.
2. Ratsbeschluss bzw. Beschluss der Geschäftsführung oder der Trägerversammlung des Jobcenters: Durch Beschluss im Jugendhilfeausschuss oder Stadtrat sowie der Geschäftsführung oder der Trägerversammlung wird ein eindeutiges politisches Signal für die Umsetzung des Modellvorhabens gesetzt.
3. Bestehende Strukturen nutzen: Durch die Einbindung bereits bestehender Netzwerk- und Kooperationsstrukturen (Konferenzen mit Kita-Leitungen oder Schulleitungen, Vereins- oder Ehrenamtsnetzwerke etc.) wird unnötige Doppelarbeit
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vermieden. Außerdem kann durch den damit verbundenen "Schneeballeffekt" eine größere Breitenwirkung erzielt werden.
4. Beteiligungsaktionen: Foren, Fachkonferenzen oder Arbeitskreise bieten längerfristige Möglichkeiten, um Fachkräfte, Entscheidungsträger und Akteure der Zivilgesellschaft an der Umsetzung des Modellvorhabens teilhaben zu lassen. Gleichzeitig sichern sie die notwendige Transparenz des Modellvorhabens.
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Ressourcenplan aufstellen: Die Umsetzung des Modellvorhabens erfordert für den Einführungszeitraum, in Lünen waren es drei Jahre, einen zusätzlichen Einsatz von Ressourcen (Geld, Personal, etc.). Immer wieder gab es Phasen der schleppenden Umsetzung,
die mit Personalengpässen oder -ausfällen begründet wurden. Klare Vereinbarungen
über die zur Verfügung stehenden Zeitressourcen für das Projekt vermeiden unnötige
Diskussionen. Dabei sollte unterschieden werden zwischen fall- und projektbezogenen
Aufgaben.
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Finanzierung planen: Zusätzliche Mittel akquirieren, zum Beispiel Sozialraumbudgets für
präventive Angebote einrichten.
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Marketing intensivieren: Durch eine gezielte Marketingstrategie und eine regelmäßige
Öffentlichkeitsarbeit (Presseartikel, Newsletter, Info-Flyer, Homepage etc.) werden sowohl die Bevölkerung, als auch die Kooperationspartner über den jeweiligen Entwicklungsstand informiert.
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