Belletristik Roman Catalin Dorian Florescu breitet mit barocker Fabulierlust die Geschichte zweier Familien aus. Sein neues Buch spielt in New York sowie im Donaudelta und spannt sich über ein ganzes Jahrhundert Lebenspralles Erzählfeuerwerk Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück bringt. C.H. Beck, München 2016. 327 Seiten, Fr. 25.90, E-Book 17.–. Von Manfred Papst Dieser Mann ist ein Naturereignis. Wer schon einmal erlebt hat, wie Catalin Dorian Florescu – fast nie ohne seine Dächlikappe – aus seinen Büchern vorträgt, kann das bestätigen. Er liest nicht einfach das Eingangskapitel vor wie die meisten seiner Kollegen, sondern präsentiert eine dramatisierte Strichfassung. Zumindest will er das tun. Er ist akribisch vorbereitet. Aber schon nach wenigen Sätzen fällt er sich selber ins Wort. Extemporiert, improvisiert. Es trägt ihn aus der Kurve. Florescu liest so, wie Sonny Rollins Saxofon spielt. Und so schreibt er auch. Das ist mitunter zeitraubend. Vor allem aber ist es ein Glück für uns Leser. Denn an Autoren, die wie dieser sprachmächtige Fabulierer aus dem Vollen ihrer Phantasie schöpfen können und wollen, herrscht in unseren skeptischen Zeiten kein Überfluss. Besonders deutlich wird Florescus Erzählfreude in seinem neuen Roman. Es ist sein insgesamt sechster und nach «Zaira» (2008) sowie «Jakob beschliesst zu lieben» (2011, verdientermassen ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis) der dritte, der im renommierten Verlag C.H. Beck erscheint. Über mangelnde Resonanz kann der Autor sich nicht beklagen: «Jakob beschliesst zu lieben» ging rund 80 000mal über den Ladentisch. Für Schweizer Verhältnisse ist das eine geradezu sensationelle Zahl. Und als Schweizer Autor darf Florescu inzwischen gelten. Er wurde 1967 im rumänischen Temeswar geboren und kam als Fünfzehnjähriger nach Zürich, wo er seither lebt. Er hat sich das Deutsche als Sprache für sein literarisches Schreiben 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016 erobert und die hiesige Literatur wie zahlreiche andere Secondos und Secondas enorm bereichert. Bisweilen merkt man Spurenelementen in seiner Prosa an, dass Deutsch nicht seine Muttersprache ist – doch das wirkt nicht störend, sondern so charmant wie ein leichter Akzent, ein Silberblick, ein Lispeln. Märchenhafter Stil Grosses hat sich Catalin Dorian Florescu in seinem neuen Roman vorgenommen. Die Handlung spannt sich über ein Jahrhundert, über drei Generationen und über zwei Kontinente. In den ungeraden Kapiteln sind wir zunächst im brodelnden New York um 1900, in den geraden im verschlafenen Donaudelta. Mit Geduld und Geschick führt der Autor die beiden Erzählstränge schliesslich zusammen: Uns dämmert allmählich, dass der erfolglose Künstler Ray und die Fischerstochter Elena, die sich just am 11. September 2001 in New York kennen lernen, einander die Geschichten ihrer Eltern und Grosseltern erzählen – um sich zu erklären und um ungeachtet aller Schwierigkeiten ein gemeinsames Glück zu finden. Dass Elena genau an dem Tag die Asche ihrer Mutter von den Twin Towers streuen will, als diese unter der Attacke islamistischer Terroristen zusammenbrechen, mag reichlich konstruiert anmuten. Aber Florescu liebt solche Unwahrscheinlichkeiten, sie gehören zu seinem Märchenstil, und sie tun seiner erzählerischen Improvisationskunst so wenig Abbruch, wie das Thema einer kitschigen Ballade den musikalischen Entdeckungsreisen eines Sonny Rollins im Wege steht. In diesem Roman geht es nicht um die – zugegebenermassen manchmal wacklige – Architektur des Ganzen, sondern um die Fülle des Erzählens. Und darin ist Florescu ein Meister. Wie er aus der Per- spektive eines jungen, armen Zeitungsverkäufers, der unter der Brooklyn Bridge steht und vom Vaudeville träumt, das New York in der Neujahrsnacht von 1898 auf 1899 schildert, ist hinreissend. Wir lieben diesen kleinen Kerl, der ein Sänger wie Caruso und ein Entfesselungskünstler wie Houdini werden will. Er ist eine Gestalt, die einem Roman von Dickens entstammen könnte. Wir leiden und fiebern mit ihm. Aber auch die Geschichten aus Rumänien lassen uns nicht kalt. Da herrscht eine ganz andere Zeitmessung, ein ganz anderer Zeitsinn. Im hektischen New York zerfallen die Sekunden in ihre Bruchteile. Im Donaudelta ist ein halber Tag die kleinste Einheit. Und dem zyklischen Weltbild entsprechend heissen Grossmutter, Mutter und Tochter alle Elena. Die mittlere Elena hofft auf eine gute Partie in Amerika. Doch ihre Geschichte geht böse aus. Die junge Frau erkrankt und landet 1937 in der letzten Leprakolonie Europas. Es ist ergreifend, wie Florescu diese vergessene Welt schildert. Ohnehin beeindruckt, wie der Autor Phantasie und Recherche verbindet. Rumänien kennt er aus seiner Erinnerung und aus Familiengeschichten. Immer wieder ist er in seinen Büchern in das Land seiner Kindheit zurückgekehrt. Bisweilen konnte einem die Verklärung dieser von Mythen und Sagen geprägten archaischen Welt fast zu viel werden. Man fürchtete künstliche Folklore, auch das schematische Gegeneinandersetzen von reicher, aber kühler Zivilisation im Westen und malerischer Armut im Osten. Dieser Gefahr des in der Schweizer Gegenwartsliteratur sehr verbreiteten Secondo-Klischees ist Florescu nicht erlegen. Er macht zwar aus seinem Herzen keine Mördergrube. Einmal mehr schwelgt er in Märchen, Mythen, Sagen. Aber es gibt da ein Gegengewicht. Der Roman ist geerdet in unserer Gegenwart HULTON ARCHIVE / GETTY IMAGES von gewaltigen Migrationswellen. Wir empfinden sie vielleicht als Ausnahme. Hier lernen wir sie als Regel kennen. Die Geschichte wiederholt sich. Das zeigt uns Catalin Dorian Florescu in starken Bildern. Auf dem Bazar der Worte Sprachskepsis prägt unsere Moderne, und sie tut das nicht ohne Grund. Wir haben gelernt, unseren Worten und Ge schichten zu misstrauen. Aber wir soll ten diese Haltung nicht zum Dogma erheben. In der Gegenwartsliteratur braucht es die Reduktionisten, die Kriti ker, die Zweifler. Aber es braucht eben auch unverdrossene Erzähler wie Catalin Dorian Florescu. Einen, der sich nicht nur in ratlose Intellektuelle versetzen kann, sondern auch in versoffene Vet teln, Coiffeusen, Ganoven, Magier, Ha fenarbeiter und Störmetzger. Ein entscheidendes Stilmittel dieses begnadeten Autors ist die Aufzählung. Wie ein Händler auf dem Bazar breitet er seine Waren aus. Da leuchtet und riecht alles durcheinander, in sinnlicher Fülle. Ungeduldige Leser mag das antiquiert anmuten. Wer sich aber auf Florescu einlässt, wird in seinen Büchern – und ganz besonders in seinem neuen Roman – genau das lieben. Die lebenspralle Fülle, den Reichtum an Details. Nur ein Beispiel für viele: Der Teufel, erzählt Florescu, hat in Rumänien neunzehn Namen. «Avizua, Abaroca, Oarda, Nes cua, Muha, Aspra, Hluchica, Sarda, Vinita, Zoita, Ilinca, Merana, Feroca, Fumaria, Nazara, Hlubic, Nesatora, Gentia, Samca.» Wenn Schwangere einen Zettel mit diesen Namen auf sich tragen, sind sie gegen die Dämonen ge schützt. Aber wenn sie sie ignorieren, dann stirbt das Neugeborene. In seinem grossen Essay über Charles Dickens hat George Orwell sein Urteil auf eine griffige Formel gebracht: «Scheuss liche Architektur, aber wunderbare Was serspeier». In seiner trockenen Art mein te er den Satz als hohes Lob. Wir zitieren es hier ebenfalls in diesem Sinn. Bei Ca talin Dorian Florescu gibt es so viele wunderbare Wasserspeier, dass uns die Geometrie des Romans gar nicht be schäftigt. Wir lassen uns forttragen von diesem Erzähler und hoffen, dass seine Geschichten niemals aufhören. ● Einer der Schauplätze in Catalin Dorian Florescus neuem Roman: das wimmelnde New York um 1900 (hier: Williamsburg Bridge). 27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
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