12 — 2015 rep ort • Flüchtlinge im Mit telmeer 53 Regeln für Retter G dramatische begegnungen Die Zahl der Flüchtlinge, die übers Mittelmeer nach Europa kommen, steigt rapide. Die Auswirkungen spüren zunehmend auch die Segler, in den Häfen wie auf See. Wie sollen, wie müssen sie reagieren? f o to s : C o r b i s / M . M o l l i c a ( l . ) , C o r b i s / Im a g e P r e s s G r o u p / P. P e t r ov ( r . ) Auf einem Flüchtlingsboot drängen sich die Menschen egen 5.30 Uhr wird das britische Segler-Ehepaar aus dem Schlaf geholt. Sein Boot ankert in einer Bucht vor der griechischen Insel Symi. Stephanie und Andy Kershaw-Marsh quälen sich aus der Koje. Als sie mit der Taschenlampe in die pechschwarze Nacht leuchten, ent decken sie Furchtbares: gut ein Dutzend Flüchtlinge, die im Meer treiben. Instinktiv tun sie das Richtige: Während Andy mit dem Dingi losfährt, um den Menschen zu Hilfe zu kommen, versucht Stephanie, per Funk die griechische Küstenwache zu erreichen. Als das nicht gelingt, ruft sie per Handy das Maritime Rescue Coordina tion Centre (MRCC) im britischen Falmouth und meldet den Notfall, den dieses sofort an die griechischen Kollegen weiterleitet. Anschließend rettet ihr Mann sechs der Flüchtlinge aus dem zum Glück im September noch warmen Mittelmeer, fünf weitere schaffen es mit letzter Kraft ans Ufer. Die Menschen sind in Panik, teils desorientiert. Die britischen Segler versorgen sie notdürftig mit Wasser und Schokoriegeln. Noch am Strand erzählen sie, dass Schlepper draußen, etwa einen Kilometer vor der Bucht, plötzlich „Police, Police!“ riefen und sie einfach über Bord ins Wasser drängten. 2700 Euro hatte jeder gezahlt, um von der Türkei in die EU geschmuggelt zu werden, in einem Holz-Fischerboot mit großem Außenborder. Stunden vergehen. Erst gegen 11 Uhr am Vormittag läuft ein Schiff der griechischen Küstenwache ein und nimmt die Flüchtlinge an Bord. Solche dramatischen Begegnungen zwischen Seglern und Flüchtlingen sind bislang die Ausnahme. Denn der Menschenschmuggel findet meist nachts statt, wenn die Crews in Häfen sind oder ankern; nur selten kommt es daher zu Begegnungen dieser Art. Allerdings steigt die Zahl der Flüchtlinge seit etwa anderthalb Jahren rasant. Der Hauptgrund dafür ist so einfach wie tragisch: Auf Druck der EU wurde den Flüchtlingen im Osten der Türkei der Weg über die „Grüne Grenze“ nahe des Flusses Evros und in Bulgarien durch Zäune sowie massive Polizeipräsenz verstellt. In der Folge weichen sie nun in großer Zahl auf die gefährlichen Routen über das offene Meer aus. Mit fatalen Folgen, wie die EU-Grenzschutz-Agentur Frontex in ihrem jüngsten 1. Soforthilfe leisten Hat das Schiff ein Mayday abgesetzt, dieses bestätigen und falls nötig weiterleiten. Ansonsten annähern, um einzuschätzen, ob eine Not situation vorliegt. Besteht konkrete Lebensgefahr, muss Hilfe geleistet werden, gege benenfalls auch durch das Abbergen von Menschen auf das eigene Schiff. Küsten wache-Einsatzkräfte vor Ort raten dazu aber erst als al lerletztes Mittel, denn es be steht die Gefahr, dass sich auf den Schiffen noch be waffnete Schlepper befinden. 2. Behörden informieren Im Seenotfall möglichst zeit gleich die Küstenwache oder ein MRCC benachrichtigen – entweder über Kanal 16 oder über spezielle KurzwahlNotrufnummern per Mobil telefon (Italien: 1530, Grie chenland: 108, Türkei: 158. Vorsicht: Sie funktionieren nur in den nationalen Han dynetzen!). Die Telefon nummern der einzelnen MRCCs finden Sie unter www.yacht.de; Webcode #98221. Gelingt dies nicht, das deutsche MRCC in Bre men informieren unter 0049 (0) 421 536 870. Die Retter empfehlen ohnehin, diese Nummer im Handy zu spei chern. Sie leiten den Notfall dann sofort an nationale Rettungszentralen weiter. 3. Vor Ort bleiben Beim Schiff der Flüchtlinge auf Standby bleiben und falls nötig Medikamente, Rettungsausrüstung, Wasser, Lebensmittel zur Verfügung stellen. Die eigene Yacht für eine mögliche Rettung vor bereiten (Dingi, Schlepp leinen, Badeleiter klar u. ä.). 4. Sachlage Dokumentieren Fotos und Videos können helfen, später ihre Schilde rung zu untermauern. Falls weitere Schiffe in der Nähe sind, per Funk um Hilfe ersuchen. 6. Eigenes Anlanden n u r i m a bs o l u t e n Notfall Ist ein rasches An-Bord-Neh men der Flüchtlinge drin gend nötig, bevor Hilfe ein trifft, dies möglichst mit den informierten Hilfskräften absprechen, damit Sie nicht in den Verdacht geraten, selbst als Schlepper tätig geworden zu sein. Den nächsten sicheren Hafen an steuern. Dies sollte, wenn möglich, ein EU-Hafen sein, also im türkisch-griechi schen Grenzgebiet auch ein griechischer Hafen, falls die Crew nicht in der Türkei ausklariert hat! Auf keinen Fall die afrikanische Küste anlaufen. 7. Die Flüchtlinge nicht bedrängen 5. Keine unnötigen Risiken eingehen Das eigene Schiff und die Crew muss laut internatio nalem Recht nicht durch eine Rettung gefährdet werden! Jahresbericht feststellt: „2014 ist das Jahr, in dem Menschenschmuggel über See von einem Saison- zu einem ganzjährigen Phänomen geworden ist.“ Meist kommen die illegalen Boote in den Sommermonaten, aber mittlerweile wagen sich die Schlepper für ihre lukrativen Touren auch im Winter auf das kalte, raue Meer. Nach Angaben der Grenzschützer stieg die Zahl der registrierten Fälle insgesamt um Sie helfen Menschen in Not. Woher sie stammen, ob sie rechtlich Flüchtlinge sind oder nicht – diese und ähn liche Fragen müssen Behör den an Land entscheiden! 177 Prozent an, in Italien und Griechenland haben sich die Fallzahlen sogar verdreifacht. Das UN-Flüchtlingswerk berichtet, dass 2014 allein über den Seeweg rund 220 000 Flüchtlinge kamen und 3600 Tote zu beklagen waren. In den sonst ruhigen ersten dreieinhalb Monaten waren es 2015 allerdings schon 40 000 Flüchtlinge und 1600 Tote. Die Gründe dafür sieht man jeden Tag in den Nachrichten. Laut UN-Angaben sind vor 54 rep ort • Flüchtlinge im Mit telmeer 12 — 2015 55 12 — 2015 die wege nach europa Kriegen, Terror, Hunger und Armut derzeit 51,2 Millionen Menschen auf der Flucht – das sind so viele wie zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Während die EU noch mit sich ringt, wie man gemeinsam mit dem Ansturm umgeht, etwa durch Asylantrags-Stellen in Afrika und einer europäischen Verteilungsquote, schaffen die Schlepper immer größere Kapazitäten und entwickeln immer perfidere Methoden. Häufiger als bisher werden zum Beispiel um die 60, 70 Meter lange rotte Frachter eingesetzt, die Hunderte Menschen transportieren. Frontex berichtet, dass die labilen Schiffe von den Schleppern neuerdings nur in die Nähe der Hoheitsgewässer des Ziellandes manövriert werden. Dort setzen die Schlepper einen Notruf ab. Anschließend entfernen sie sich und überlassen es der Küstenwache oder der Berufsschifffahrt, die Flüchtlinge zu retten. Oft ist kaum noch Treibstoff an Bord, oder die maroden Boote sind kurz vor dem Sinken. Verfahren rasch die maximale Haftgrenze von 25 Jahren erreicht. Segler, die in solche Vorfälle involviert werden, sorgen sich, auch nur den Verdacht der Mittäterschaft oder der Beihilfe zu er wecken. Und dazu haben sie allen Grund, wie YACHT-Rechtsexperte Dr. Heyko Wychodil weiß. „Es gab in der Vergangenheit immer wieder Fälle, in denen Skipper fälschlich unter diesen Verdacht geraten sind“, sagt er. „Besonders wenn Flüchtlinge auf das eigene Schiff übernommen werden und ein ausländischer Hafen angelaufen wird, besteht dieses Risiko. Dann kann das Schiff beschlagnahmt werden, und es drohen hohe Gerichts- und Anwaltskosten vor Ort.“ Einen weiteren Rat erhielt der deutsche Profi-Charterskipper Wolfgang Kahl im griechischen Symi. Wie im Fall des englischen Ehepaars waren dort nachts Flüchtlinge angelandet und baten ihn am nächsten Morgen um Hilfe. „Ich habe dann die griechi- Mit Abstand die meisten Flüchtlinge kommen über das zentrale Mittelmeer von Libyen nach Italien. Aber auch auf den anderen Routen nehmen die Zahlen zu Die Hauptrouten W I tal ie n Ägäis Verteilung des Flüchtlingsstroms auf die einzelnen Landesteile: Die meisten Flücht linge landen auf Sizilien an Laut dem UN-Flüchtlingswerk nehmen Fluchten von der Türkei auf die griechischen Inseln stark zu (2015: 14 000 Fälle bis April) Ent wicklung der Flüchtlingsz ahlen Seeweg 112 000 98 000 Landweg 84 000 70 000 56 000 42 000 28 000 14 000 0 Q1 Q2 Q3 Q4 Q1 Q2 Q3 Q4 Q1 Q2 Q3 Q4 Q1 Q2 Q3 Q4 Q1 Q2 Q3 Q4 Q1 Q2 Q3 Q4 Q1 Q2 Q3 Q4 2008 2009 2010 2011 2012 2013 B r o s c h ü r e f ü r S k i p p e r a u f w w w. p r o a s y l . d e u n t e r d o w n l o a d s S t a t i s t i k : w w w. u n o - f l u e c h t l i n g s h i l f e . d e , w w w. f r o n t e x . e u r o p a . e u 2014 K a rt e n / g r a f i k e n : ya ch t assersportler dürften in Küstennähe eher auf kleinere Boote treffen, mit bis zu 40 Flüchtlingen, die im Schutze der Nacht vor allem auf den griechischen Inseln des Dodekanes zwischen Lesbos und Rhodos anlanden. Das größte Risiko einer Begegnung besteht südwestlich von Sizilien, dort verläuft der meistfrequentierte Menschenschmuggelweg. Weitere Hauptrouten erstrecken sich von den Küsten Afrikas und des nahen Ostens nach Sizilien, Malta und den Ägadischen Inseln. Im östlichen Mittelmeer wird mittlerweile auch mit meist gestohlenen Yachten operiert, Versicherungen berichten von derartigen Fällen aus der Türkei. Die Eigner müssen dann sogar zunächst damit rechnen, als Mittäter verdächtigt zu werden, bis geklärt ist, dass sie das Schiff zur Tatzeit nicht selbst genutzt haben. 2014 wurde ein deutscher Eigner erwischt, als er etwa ein Dutzend Flüchtlinge von der türkischen Küste nach Symi schmuggelte. Er sitzt mittlerweile in Haft. In Griechenland ist Menschenschmuggel heute der zweithäufigste Haftgrund. Dort wurde 2014 das Gesetz verschärft, die Täter erwarten drakonische Strafen: mindestens zehn Jahre Gefängnis. War der Versuch für die „Passagiere“ gefährlich, können noch 15 Jahre pro Kopf dazukommen. So ist in vielen sche Küstenwache informiert, die wenig später kam und die Menschen auflas.“ Außerdem beschlagnahmten die Beamten fünf türkische Gulets, die an der Pier des Insel hafens lagen. Kahl fragte bei den Männern und bei ihren Kollegen in der Türkei nach, wie er sich bei Begegnungen mit Flüchtlings booten denn verhalten solle. Er sagt: „Sie rieten davon ab, die Menschen an Bord zu nehmen. Es komme vor, dass noch die bewaffneten Schlepper an Bord sind. Stattdessen rieten sie, sofort die Küstenwache und die Behörden zu informieren und in der Nähe des Flüchtlingsbootes zu bleiben.“ Anwalt Wychodil empfiehlt, sich bestmöglich abzusichern. „Die Übernahme der Flüchtlinge sollte wirklich der allerletzte Schritt sein. Es hilft dann ungemein, die vorgefundene Situation durch Fotos und VideoMaterial gut zu dokumentieren, um eine spätere Schilderung glaubhaft zu untermauern. Und wenn möglich, versuchen Sie, Zeugen zu gewinnen und beziehen Küstenwache oder Behörden ein. Auch können Schiffe in der Nähe um Hilfe gebeten werden.“ Aus solcherart Praxiserfahrungen und den Empfehlungen der Küstenwachen und Verbänden wie dem UN-Flüchtlingswerk oder Pro Asyl haben wir ein Ablauf-Prozedere für den Fall einer Begegnung mit Flüchtlingsbooten abgeleitet (siehe Seite 29). Es ist ein komplexes Thema, behaftet mit einer gewissen Unsicherheit, grob vereinfacht formuliert: Helfen kann rechtliche Risiken bergen, Hilfe zu unterlassen wiederum verstößt gegen die Vorschriften von Solas, IMO und Seefahrtsgesetzen. Abgesehen von solchen Debatten brachte es ein italienischer Kapitän einmal auf den Punkt: „Wer sieht, in welchem Zustand diese Menschen bei uns ankommen, kann erst ermessen, wie groß ihr Leid gewesen sein muss.“ Andreas Fritsch
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