Harley-Davidson LiveWire – Fahrbericht aus MOTORRAD 17/2015 – Da ist sie also, die Elektro-Harley. Mit Project LiveWire startet ausgerechnet der Gralshüter des Verbrennungsmotors einen elektrischen Versuchsballon. Keine Serie, noch nicht käuflich, aber ziemlich fertig und hoch spannend. Erste Fahreindrücke von einer speziellen Präsentation. Harley-Davidson, das ist V-Twin. Seit Generationen. Mächtig Hubraum, sattes Blubbern und seelenmassierende Vibrationen gehören zur Harley wie Schmelzkäse, Bacon und Zwiebelringe zum Hamburger. So war es, und so soll es bitte schön auch bleiben. Doch die Zeiten ändern sich. Nach Jahren des weltweiten Erfolgs stagniert der Absatz bei HarleyDavidson. Wer eine hat, der hat sie meist lange. Das spricht für die Marke und ist eigentlich eine gute, nachhaltige Sache. Aber eben schlecht fürs Geschäft. Das weiß man auch in Milwaukee, und deshalb müssen neue Modelle für neue Kunden her. Street 500 und 750 sollten es im Weltmarkt richten, aber schon seit geraumer Zeit denkt man auch in eine völlig neue, unerwartete Richtung. Als dann erste Videos und Ankündigungen einer elektrischen Harley-Davidson die Runde machten, waren viele verblüfft, und manch alteingesessener Harley-Jünger dürfte die Stirn in Falten gelegt haben. Schließlich bricht der Elektroantrieb völlig mit den Cruiser Kernkompetenzen von Hubraum, Sound und Vibrations. Ziemlich mutig jedenfalls, dass ausgerechnet Harley-Davidson diesen Vorstoß unternimmt, halten sich die etablierten Motorradhersteller beim Thema Elektro doch auffällig zurück, sieht man einmal von Nischenprodukten wie dem Elektroroller BMW C Evolution und KTM Freeride-E ab. Damit keine Missverständnisse aufkommen – LiveWire ist kein Serienfahrzeug. Vielmehr touren die aktuell rund 50 Prototypen um den Globus, um bei Probefahrten Feedback von Journalisten, Händlern und wenigen handverlesenen Bewerbern einzuholen. Ein kleiner Zeh im kalten Wasser des Elektromarktes, wenn man so will. Nicht weltbewegend, aber immerhin weit mehr, als man diesbezüglich von fast allen anderen Herstellern sieht. Nun also gastiert die "Experience Live-Wire"-Tour am Hockenheimring. Erstkontakt. Die LiveWire mag zwar auf den ersten Blick mit LED-Licht und eigenwilligen Rückspiegeln sowie dem rauen Leichtmetall-Gussrahmen futuristisch wirken. Wenn man aber bedenkt, dass den Designern bauartbedingt bei einem Elektromotorrad weitaus größere Freiheiten offenstehen als bei einem Verbrenner (wie einige Kleinstserien eindrucksvoll zeigen), erscheint das Design fast zurückhaltend. In natura jedenfalls wirkt die LiveWire sehr stimmig und elegant – und bis ins Detail durchkonstruiert. Hier ist nichts mit rustikalem Vorserien-Charme. Ungewöhnlich: Der Motor liegt längs im Fahrzeug, wodurch er sich schön in Szene setzen lässt. Der gedrungene optische Eindruck bestätigt sich beim Aufsitzen, der Einsitzer baut schön schmal und kompakt. Sitzposition und Ergonomie erinnern ein wenig an die Street 750, sind also für eine Harley auf der sportlichen Seite. Schmale Tankattrappe (unter ihr verbirgt sich die wassergekühlte Leistungselektronik), schmaler, nach vorne gerückter Lenker, mittige Fußrasten – damit ist die LiveWire eher ein kleiner Powercruiser als Highway-Gleiter. Anlassen erübrigt sich. Wir stellen auf "Run", der als Cockpit fungierende Touchscreen erwacht zum Leben. Zwei Fahrmodi stehen zur Verfügung, im Range-Modus soll die Reichweite 85, im Power-Modus etwa 60 Kilometer betragen. Harley-Davidson macht keine Angaben über die Kapazität der Akkus, wohl auch im Hinblick auf eine zu erwartende gesteigerte Reichweite bei einer etwaigen Serienproduktion. Die Ladezeit soll 3,5 Stunden betragen. Wir wählen den Power-Modus, halten den Startknopf, der Stromer ist fahrbereit. Weil der LiveWire-Terminplan prall gefüllt ist, gibt es nicht mehr als eine kleine Fotorunde auf den Zufahrtssträßchen um den Hockenheimring, die Fahreindrücke sind also genau so vorläufig wie das Motorrad selbst. Die Kalibrierung des Antriebs ist hervorragend gelungen, der Vortrieb lässt sich perfekt dosieren. Auf den ersten Millimetern noch linear und schön geschmeidig, schießt die LiveWire beim weiteren Aufdrehen des Stromgriffs heftig nach vorne. 74 PS, 70 Nm, das entspricht ziemlich genau den Werten einer Yamaha MT-07. Weil aber der Elektromotor sein maximales Drehmoment ab der ersten Umdrehung liefert, stehen die beeindruckenden Fahrleistungen quasi auf Knopfdruck bereit. Beim Schließen des Gasgriffs bremst der Motor kräftig und gewinnt so Energie zurück. Nach ein wenig Eingewöhnung lässt sich die LiveWire ganz entspannt fast ohne zu bremsen fahren. Das Fahrwerk der Prototypen ist voll einstellbar, das Setup wurde ziemlich straff gewählt. So bockelt die Elektro über die holprigen Wege um den Hockenheimring. Sie lenkt zwar auch etwas unharmonisch ein, gibt sich aber aufgrund des recht geringen Gewichts von 210 Kilo, das schwerpunktgünstig unten liegt, insgesamt sehr handlich. Die Schräglagenfreiheit reicht aus, ABS und Traktionskontrolle gibt es noch nicht. Und der Sound? Die Einbaulage des Motors erfordert ein Kegelrad zur Umlenkung der Antriebskraft. Dieses ist gerade verzahnt, was ein charakteristisches Heulen erzeugt – und das tönt gar nicht mal so leise. Klingt nicht schlecht, aber natürlich überhaupt nicht nach "Potato, Potato". Fazit? Viel zu früh dafür. Immerhin, der erste Eindruck der LiveWire überzeugt. Mit ihr zeigt Harley, dass sie Elektro können, wenn sie wollen. Klar, die Reichweite ist derzeit ein Witz, doch bis auf Weiteres teilt sie dieses Schicksal mit der elektrischen Konkurrenz. Schade, denn egal mit welchen Vorurteilen oder berechtigten Bedenken ob der Praxistauglichkeit man an ein E-Motorrad herangeht – fast jeder, der einmal mit einem gefahren ist, steigt danach fasziniert wieder ab. Die Zukunft lässt wohl noch ein wenig auf sich warten, aber Harley-Davidson zeigt, dass sie mitspielen wollen. Technische Daten Harley-Davidson LiveWire Motor Drei-Phasen-Wechselstrommotor 55 kW (74 PS) bei 8500/min, 70 Nm Zahnriemenantrieb Fahrwerk Leichtmetall-Brückenrahmen aus Aluguss Upside-down-Gabel, voll einstellbar Scheibenbremse vorn, Scheibenbremse hinten Maße und Gewichte Gewicht: 210 Kilogramm fahrfertig Radstand: 1486 mm Reichweite: 63 bis 85 Kilometer (Werksangabe) Copyright: MOTORRAD, Motor Presse Stuttgart GmbH & Co. KG
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