Artikel aus der Snow 2011 als PDF

>>> REISE
GULMARG
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Die beiden Freireiter Stephan und Andi
ziehen diesmal los ins hinterste Indien.
20 Meter Neuschnee soll es hier
pro Winter geben.
TEXT Andi Prielmaier
BILD Stefan Kappl, Andi Prielmaier, Franz Faltermaier
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eben mir sitzt James: dunkle Mähne, stechend blaue Augen und Unterarme wie ein Preisboxer. Doch
James ist Skifahrer – so wie ich. Er
quetschte sich am Flughafen von Srinagar
zu mir ins Taxi mit einem „Wird billiger
so, mate“-Spruch. Also teile ich mir das Taxi mit James aus Australien. Schon das
dritte Mal sei er Gulmarg, nirgends sei es
besser – und diese Schneewände? Er reißt
seine blauen Augen auf, greift mit den
Händen in den vergilbten Stoffhimmel
des Taxis: „Riesig!“ Ich will James gerne
glauben, doch ich schaffe es beim besten
Willen nicht, denn die Temperaturen sind
eher frühlingshaft. Von Winter und
Schnee ist weit und breit nichts zu sehen.
Der Ankunftsflughafen für Gulmarg-Reisende heißt Srinagar und liegt auf 1700
Meter Höhe am Fluss Jhelam. Wegen der
vielen Wasserläufe wird Srinagar gerne
mit Venedig verglichen. Die Gegend sieht
mit ihren schneebedeckten Bergen, den
mächtigen Gletschern und den saftigen
Wiesen den Schweizer Alpen nicht unähnlich. Die Region wird deswegen auch
oft als „die Schweiz Asiens“ bezeichnet.
„Venedig, Schweiz, whatever – Hauptsache Schnee!“, meint Ski-Bum James. Und
den Schnee hat man sich nach der anstrengenden Reise auch verdient. Stops in
Istanbul und New Delhi blähen die Reisezeit auf. Völlig gerädert spuckt einen der
Flughafen dann im indischen Grenzgebiet
Kashmir aus. Pakistan auf der einen Seite
und Indien auf der anderen ringen hier
seit Jahren um die Bergregion. In den Straßen von Srinagar röhren olivfarbene Militärjeeps und Soldaten mit Kalaschnikows stehen an jeder Hausecke. Das zeigt:
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Wenn die Gondola
wegen massiver Schneemengen gesperrt ist, heißt
es rein in den Jeep und raus
in den Wald. Die „Treeruns“ funktionieren
immer: egal, ob bei starkem Schneefall oder bei
Sonnenschein –Fahrspaß
ist garantiert.
Die Nerven liegen blank in Kaschmir. Nur
eine Autostunde von Srinagar entfernt
liegt Gulmarg. Das ist unser Ziel.
Das Grau der Straße geht nahtlos über
ins Grau des Himmels, selbst die aus den
Wolkenschleiern herausragenden Berge
wirken grau und schmutzig. Neuschnee
sieht anders aus. Ich blicke zu James, der
zuckt nur mit den Schultern und weiß
auch keine Antwort. Unser Taxi, ein ausrangierter Militär-Jeep, schaukelt mich irgendwann in den Schlaf, Schneesorgen
hin oder her. Von den vielen Schlaglöchern in der Straße und haarsträubenden
Überholmanövern kriege ich kaum etwas
mit. Erst als mir ein intensiver Geruch in
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die Nase steigt, wache ich auf – eine Mischung aus Ingwer, Knoblauch und Tabak.
Vor meiner Nasenspitze schwebt ein Gesicht. Pechschwarzer Bürstenschnitt,
schmale Lippen, tiefe Furchen in den
Wangen, doch freundlich blickende Augen: „Passport please“, sagt der Militärpolizist. Alles geht diesmal gut. Das war
auf der Reise nicht immer so. In Istanbul
kassierte mich der Zoll wegen Terrorverdachts – in den Gaskartuschen meines Lawinenrucksacks hatten die Beamten
Sprengkapseln erkannt – und sich darin
verbohrt, dass ich nicht zum Skifahren
Richtung Pakistan unterwegs bin, sondern
halb Kaschmir in die Luft sprengen will.
Ein Missverständnis, das mich Stunden
der Aufklärung gekostet hat – und den
Anschlussflug nach New Delhi.
Die Straße windet sich jetzt steil nach
oben, das Grau bleibt grau, und hinter den
Reifen spritzt ein Brei aus Schneematsch
und Erde in langen Fontänen. James, der
Lump, stellt sich jetzt schlafend, um meinen skeptischen Blicken zu entgehen.
Nach unzähligen Kehren kommt Gulmarg in Sicht. Das 600-Seelen-Dorf liegt
zirka 2.700 Meter hoch auf einem Plateau
und wird von majestätischen Bergriesen
eingerahmt. Es sind die Ausläufer des südlichen Himalayas. Geprägt wird das Bild
des flachen, etwa drei Kilometer langen
Pistenraupen gibt hier keine,
dafür Rinnen, Rinnen und nochmal Rinnen.
Such dir eine aus …
Wiesentals von einer Bergkette, deren
höchste Erhebung der Mt. Apharwat mit
4.124 Metern ist. Markant: die unzähligen
Couloirs, die sich von den Bergen in die
Tiefe ziehen. Vom Skigebiet aus kann man
sogar den „deutschen Schicksalsberg“
Nanga Parbat sehen. Um diesen 8000er
rangen Engländer und Deutsche – jeder
wollte der Erste oben sein. Der „König der
Berge“ wird der Nanga Parbat genannt. Er
ist der neunthöchste Berg der Welt und
gilt unter Alpinisten als einer der am
schwersten zu erklimmenden Achtausender. 1953 gelang dem Tiroler Hermann
Buhl die Erstbesteigung.
Gulmarg bedeutet ganz romantisch: Blumenwiese. Mir wäre lieber, es hieße
Schneehaufen. Das würde auch gut passen, meint James und erzählt, dass die vom
Indusbecken heraufziehenden Tiefdruckgebiete hier unvermittelt auf einen Gebirgszug träfen, der den Wolkenströmen
den Weg abschneide. Erst wenn die Wolken wie Heißluftballone ihre Last abgeworfen haben, schaffen sie es, über die
Berge zu steigen. Für Gulmarg bedeutet
das bis zu 20 Meter Schnee in einem Winter.
Plötzlich hören die Schneematsch-Fontänen auf zu prasseln, die Geräusche werden gedämpfter, die Reifen rollen über
Schnee – alles weiß, alles gut. Der Motor
unseres Jeeps heult auf, wir rutschen rückwärts, denn der Wagen scheitert an der
Auffahrt zum Hotel. Zu viel Schnee! James
ist jetzt wieder wach und grinst triumphierend von Ohr zu Ohr.
Das Hotel Grand Mumtaz schaut nobel
aus. Hotelangestellte in Uniform eilen mir
entgegen, lächeln um die Wette und sin-
gen „Welcome, Sir!“ wie nicht enden wollende Mantras. Trotz der Hotelpagen und
des Vorsatzes „Grand“ verlangt das Hotel
Grand Mumtaz aber moderate Preise. Zur
Kolonialzeit tummelten sich die Briten in
Gulmarg und machten es wegen der schönen Landschaft zu ihrem Kurort. Die Inselherren golften in Gulmarg oder gingen
auf die Jagd – vielleicht um sich vom
Heimweh abzulenken. Wie damals wird
noch immer überwiegend mit Holz geheizt. Dieser Duft liegt jetzt in der Luft.
Es riecht nach offenem Kamin. Das verleiht dem Bergdorf eine heimelige Atmosphäre.
Der Run vom
Mt. Apharwat
nach Drang ist lang.
Und was sich reimt,
ist ja bekanntlich gut.
Phänomenal sind die
fast 2.000 m Höhendifferenz, die man
dabei staubender
Weise zurücklegt.
Am nächsten Morgen powere ich mit
Stephan mit ein paar kräftigen Doppelstockschüben direkt vom Hotel aus zur
Gondelbahn. Ursprünglich waren wir gemeinsam in München gestartet, doch in
New Delhi hatten wir uns verloren, weil
die Grenzbeamten – diesmal die indischen
– nicht entziffern konnten, was die türkischen über meine Lawinenpatronen in den
Pass gekritzelt hatten. Am Ende war der
Anschlussflieger weg – und mit ihm Stephan. Jetzt freuen wir uns beide, dass es
über Nacht geschneit hat – bis wir die Gondel erreichen und feststellen: Wegen Lawinengefahr geschlossen! Normalerweise
shuttelt die Bahn bis auf 4.000 Meter hoch.
In den 80er-Jahren beschloss die Regierung
von Kashmir, das Gulmarg-Tal touristisch
zu entwickeln und eine Gondel zu bauen.
Anfang der 90er wurden die Arbeiten wegen der Auseinandersetzung mit Pakistan
eingestellt. Erst 1997 gingen die Bauarbeiten unter dem Schutz der indischen Armee
weiter. Wegen des Grenzkrieges dauerte es
weitere sieben Jahre, bis die zweite Sektion
fertig gestellt werden konnte. Die Gondel
beginnt auf 2.650 Meter und führt über die
Mittelstation mit Restaurant bis auf 4.000
Meter hoch. Die Besonderheit hier und der
Grund, warum uns Gulmarg so magisch anzog: die vielen Rinnen, die sich links und
rechts von der Bergstation im freien Gelände ins Tal stürzen. Die Bergflanken sind
aufgefaltet wie ein Bettlaken. Doch heute
scheint es nix zu werden. Die Lawinenkommision nimmt ihren Job ernst und
sperrt die Gondel nach den Neuschneefällen. Aber wir haben einen Plan B: Stephan
greift zum Handy, Mohammed muss uns
jetzt helfen. 15 Minuten später sitzen wir
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Seit letzter Saison werden Heliflüge in
Gulmarg angeboten. Stephan: „Es könnte auch in
Kanada sein, dort ist es bloß doppelt so teuer …
deswegen bleib ich lieber hier.“
zusammengepfercht mit Guide Mohammed und dem Fahrer im Jeep. Selbst bei Lawinengefahr gibt es Ausweichmöglichkeiten – die Waldabfahrten unterhalb von
Gulmarg. Einziger Nachteil: Sie sind nur
mit dem Auto zu erreichen, die Serpentinenstraßen sind eng, und oft gibt es kein
Durchkommen wegen quer stehender
Kleinbusse.
Nach zehn Minuten Fahrt sind wir da.
Helm auf, Brille auf, die Bindung macht
klack-klack. Einmal kurz anschieben, abdrücken und schon tauche ich ein ins Tiefschneeparadies. Weißer Staub färbt unse-
re Bärte weiß, und wir pflügen durch den
Powder. Hier ein kleiner Drop, dort ein
schöner Anlieger – das ganze Areal gleicht
einem Spielplatz für Freerider. Stephan
will immer der Erste sein – ich kenne den
Regensburger seit Jahren. Ein größerer
Kindskopf ist mir noch nicht untergekommen. Jedesmal wenn ihm ein Husarenstück gelingt, kichert er wie eine Hexe.
Doch diesmal presse ich ihm einen fetten
Spray vor den Bug und freue mich diebisch darüber. Aber er wählt die bessere
Line, während ich mich verfahre und
durchs Unterholz schlagen muss. Das kostet Zeit. Stephan schwingt vor mir unten
ab. Wir klatschen uns in die Hände: eins
zu null für Stephan. Das lasse ich nicht auf
Die Abfahrt
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mir sitzen und fahre nach der zweiten Abfahrt ein Unentschieden raus. Mohammed
kurvt meist hinterher und scheint unsere
Matchraces wenig zu verstehen, kümmert
sich aber nicht weiter drum. Mit dem
Shuttle geht’s zum nächsten Run. Vor uns
ein vollbesetzter Kleinbus – hier bedeutet
das: innen rappelvoll, auf dem Dach sitzen
Passagiere zweiter Klasse und der Rest
hängt am Heck des Busses: die Passagiere
dritter Klasse. Unter wildem Gehupe und
indischem Singsang aus der Musikbox
überholen wir den Bus. Stephan filmt, die
Trittbrettpassagiere winken lässig mit einer Hand zu ihm rüber, die andere krallt
sich am Dachträger fest. Es schneit jetzt
wieder heftiger, die Windschutzscheibe
auf der Beifahrerseite ist völlig mit Schnee
verklebt. Auf die Frage, ob der Scheibenwischer kaputt sei, deutet der Fahrer
wortlos auf das Armaturenbrett, wo ein
krummer Metallstab mit Gummi liegt.
Und wieder taucht ein Reisebus vor uns
auf, kommt in der nächsten Kurve ins Rutschen und stellt sich in Zeitlupe quer. Jetzt
ist die Straße abgeriegelt. Ein weiterer Bus
rutscht beim Versuch zu bremsen von der
Straße und prallt gegen einen Schneehaufen. Doch alle behalten die Ruhe. Alltag in
Gulmarg und kein Grund zur Sorge. Es
wird geschaufelt, gezogen, improvisiert,
und nach einigen Minuten sind beide
Fahrzeuge wieder abfahrbereit. In unseren Breiten hätte das wegen eines garantiert immensen Aufgebots an Feuerwehr,
Polizei und Abschleppwagen sicherlich
mehrere Stunden gedauert. Mohammed
Die Big Mountain-Möglichkeiten sind
hier wie in Alaska, schwärmt unser
Pilot Jason beim Anflug, bevor mich der
Heli am Grat ausspuckt. „Rock’n Roll“,
quäkt es kurz darauf aus meinem
Walkie-Talkie. Jase, der Filmer im Heli
über mir, ist bereit. Ich schnalle meine
Stiefel noch ein wenig fester, zupfe an
meiner Skibrille und – los geht’s.
zeigt uns diesmal seinen Lieblings-„Treerun“: steile Passagen durchsetzt mit Pillows. Hier gibt es alles, was unser Freerider-Herz begehrt.
Die nächsten zwei Tage zeigt sich das
gleiche Bild: Schnee, Schnee und nochmals
Schnee. Frau Holle schüttelt ihre Kissen.
Wir unternehmen mit Guide eine Variantenabfahrt nach Drang. Das ist ein kleines
Bauerndorf unterhalb von Gulmarg. Hier
ist die Zeit stehengeblieben, von Internet
und Hi-Tech Zeitalter keine Spur. Am Eingang des Ortes empfangen uns Kinder, rennen uns hinterher, wollen schneller sein –
sie zu Fuß, wir auf den Skiern. Unten angekommen, stibitzen sie wie Raben unsere
Habseligkeiten und haben die höchste
Freude, als Stephan seinen Skistock nicht
mehr findet. Wir spielen und lachen mit ihnen, so leicht kann das Leben sein.
BIS GANZ RAUF
Aufgeregt hasten wir zur Gondel. Über
Nacht hat es noch einmal einen halben Meter geschneit. Dazu: blauer Himmel. Kann
es eine bessere Kombination geben? Wir
kramen in der Hosentasche und reichen an
der Kasse unsere zerknitterten Rupienscheine durch eine Luke, treten nervös
auf der Stelle wie ein Hundert-MeterSprinter, die sich vorm Start warm machen.
Was ist denn? Warum dauert es so lange? Der Kassen-Heini
zählt das Geld in Seelenruhe mit klebrigen
Fingern – und noch eint’s
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ab. Beim zweiten Run geht
es bis ganz nach oben. Die
Gondel bringt uns auf
knapp 4.000 Meter. Wir inhalieren die dünne Luft,
schauen rüber zum Nanga
Parbat. Diesen Giganten ohschlagenden Rotorblätter dröhnt durch
ne Wolken zu sehen, ist selten.
Ob da wohl gerade einer oben steht? Ich die Stille Gulmargs. Wir fliegen zu den
steige in die Bindung meiner fetten Lat- „Big Mountains“. Sanft setzt der Pilot den
ten. Hier können die Ski nicht breit genug Hubschrauber auf dem Berggrat ab. Stesein. Meine haben 12,5 Zentimeter unter phan schaut links aus dem Fenster und
der Bindung. Ich schaue zu meinem Buddy schreit: „Achtung!“ Der komplette Grat
Stephan, er schaut zu mir. Wir lachen. Der bricht ab, ein riesiges Schneebrett donnert
richtige Moment ist jetzt! Nirgendwo an- ins Tal und saugt den Heli mit in die Tiefe.
ders auf der Welt will ich sein. Eine kurze Wir fallen rückwärts, die Maschine kippt,
Querfahrt links vom Lift, dann ver- und uns sackt das Herz in die Hose, bis Pischwinden wir in einer der unzähligen lot Jason die Kiste wieder unter Kontrolle
Rinnen.
kriegt. Stephan und ich kichern hysterisch
vor Anspannung. Jason dreht sich zu uns
DIE STEIGERUNG: HELI-SKIING
um, streckt den Daumen nach oben und
Seit 2011 wird auch Heliskiing in Gulmarg grinst. „Du coole Sau“, denke ich mir.
angeboten, die Crew kommt aus NeuseeDer Heli hebt mit einem ohrenbetäuland, der Heli aus Indien. Sunpeak im Sü- benden Getöse ab, Stephan schreit irgendden ist eines der Ziele, die von der Heli- etwas zu mir herüber, aber ich kann ihn
crew angeflogen werden. Der Lärm der nicht verstehen. Der wirbelnde Rotor haut
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BILD Yves Garneaux
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Von der Bergstation mit Blick Richtung Norden kann man
den „König der Berge“, den Nanga Parbat sehen. Mit 8.125 Metern
gehört er zu den höchsten Bergen der Welt.
uns den Schnee um die Ohren, es fühlt sich
an, als würde ein Schneesturm über uns
hinwegfegen. Dann kehrt wieder Ruhe ein.
Wir stapfen ungefähr 50 Meter einen
verblasenen Grat nach oben. Wir befinden
uns über 4.200 Meter, da spürt man die
dünne Luft. Mit unserem Guide Tim besprechen wir unsere Lines. Dann positioniert sich Stephan 30 Meter links von mir.
Ich rufe zu ihm rüber: „He, von unten
schaut das immer ganz anders aus.“ Ste-
phan nickt, ich spüre seine Anspannung.
Unten steht Jase Hancox, der unsere Runs
für ein Promotion-Video für Gulmarg Heliski filmt. Jetzt tönt das vereinbarte Zeichen aus dem Funkgerät. Stephan grinst
nochmal zu mir rüber, dann drückt er sich
ab und taucht in den 45 Grad steilen Hang
unter mir ein. Ich sehe, wie er in langen
Turns, gefolgt von einer mächtigen
Powderfontäne, hinter einem Felsrücken
verschwindet – wie im Skifilm, denke ich.
Unten angekommen höre ich nur einen Jubelschrei von Stephan. Jetzt bin ich an der
Reihe. Ich schnalle meine Stiefel zur Sicherheit ein wenig fester, zurre den ABSRucksack fest, löse das Sicherungsband
am Auslösegriff. Ich präge mir meine Line
nochmals genau ein. Jetzt tönt aus dem
Funkgerät „Rock’n roll“. Hoffentlich kein
„roll“ denke ich, und los geht’s. Ich drücke
ein paar Schwünge in den schmalen Grat,
rechts und links neben mir rutscht der
Slalom-Parcours durch den
Naturstangenwald. Ob die
Pfefferbäume auch wegkippen?
Ich probier’s lieber nicht.
Stattdessen wähle ich eine enge Line.
Das bringt nochmal ein paar
Hunderstel-Vorsprung, damit bin
ich hoffentlich vor Stephan im Ziel …
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Freilebender Affe am
Monkey Hill
(der Hügel liegt direkt
am Ortsrand)
Rajas Hotel, kein 5 Sterne-Bunker, dafür
kultig. Für extreme Lowbudget Freeride-Freaks die richtige Destination.
Nach einem fetten Tag einfach abhängen und den besten Tee der Welt bei
Rajas schlürfen – na dann Prost!
Schnee talwärts, bevor ich mit einen Satz
in den steilen Hang unter mir springe. Ich
spüre den Druck des Schnees bei jedem
Turn unter meinen Füßen, höre, wie die
Gischt auf den Hang klatscht. Turn folgt
auf Turn. Als ich unten ankomme, klatschen Stephan, Jase und ich uns in die
Hände, wir freuen uns wie kleine Buben –
was für ein geiler Tag.
Am Abend sind wir noch immer high
von den Ereignissen des Tages. Wir treffen uns wie meistens in Gulmarg bei Rajas. Er führt ein kleines, renovierungsbedürftiges Hotel am Ortsrand. Er besteht
auf den Begriff „Hotel“, doch das ist für
sein kleines Hexenhäuschen unbescheiden hochgegriffen. Rajas ist eine Institution im Tal. Jeder kennt ihn, und sein Es-
sen ist irre lecker. Allerdings kann es
schon passieren, dass das Licht ausfällt
und man plötzlich im Dunkeln sitzt. Liebevoll verteilt Rajas, der mich ein wenig
an Bob Marley erinnert, dann Kerzen und
lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Das
ist es, was Gulmarg wirklich ausmacht: Es
gibt keinen Laufsteg für die neueste Skimode, keine Schirmbar, wo von früh bis
spät der Anton aus Tirol dröhnt und betrunkene Skifahrer herumtorkeln. In Gulmarg geht es um das, was zählt im Leben,
um Skifahren mit Freunden, um das Teilen von Erlebnissen. Rajas schaut zu uns
rüber, wir stoßen auf unsere Reise nach
Indien und auf unsere Freundschaft an.
Gulmarg ist eben mehr als „nur“ ein paradiesisches Freeride-Revier.
„He Stephan wie schaut’s mit Aufräumen aus? Wenn das deine Mutter sehen
würde.“ Die Zimmer in Grand Mumtaz
sind geräumig und meist mit Dusche
und zu moderaten Preisen zu haben.
Nach dem Umbau in diesem Jahr,
präsentiert sich das Grand Mumtaz
stilvoll. Unser Hotel-Tipp!
AIRLINE: München-Dheli-Srinagar,
Flugzeit etwa 17 Stunden, Preis um die
600 Euro, verschiedene Airlines, z. B.
Air India, Lufthansa
VISUM: spätestens 14 Tage vorher
online beantragen unter
www.indianvisaonline.gov.in/visa/
Preis ca. 60 Euro
SEHENSWERTES: Hausboot auf dem
TIPPS/SERVICE: Ein Guide ist
Dal Lake in Srinagar
UNTERKUNFT GULMARG: von 5 Euro in
Rajas Hotel bis 130 Euro fürs Doppelzimmer
im Grand Mumtaz (www.grandmumtaz.com)
SPRACHE: Kashmiri; man kommt aber mit
English sehr gut weiter
ALLGEMEINE INFORMATIONEN:
www.gulmarg.org
TOURISMUS: www.jktourism.org
WETTER UND SCHNEELAGE:
www.gulmargsnowsafety.com
HELISKIING: www.gulmarg
heliski.com
Basket Production
Link:
http://vimeo.com/
20847152 – Enjoy
your Ride – Alora!
REISEANBIETER:
www.freeride-gulmarg.com,
E-Mail: [email protected]
www.klinehimalaya.com
INFOBOX
Und wenn mal wieder die komplette Straße
wegen querstehender Jeeps blockiert ist,
dann hört man Busfahrer Mahmed in die
Menschenenge brummen: „Relax Brothers“.
unbedingt zu empfehlen.
Lawinenausrüstung und gute
Off-Piste-Kenntnisse sind ein Muss.
Ein bestimmter Bereich neben der
Gondel wird von einer Lawinenkommission überwacht, das Gebiet außerhalb dieser Zone ist freies Gelände
ohne jegliche Freigabe. Gewalzte
Pisten gibt es nicht, jeder Rider ist
selbstverantwortlich für sein Tun.
KLIMA/BESTE JAHRESZEIT:
Feuchtes und kaltes Wetter im Norden
von Kashmir, daher schnelle Wetterwechsel und häufige Niederschläge mit
großen Schneemengen. Beste Reisezeit
für Freunde des Powders ist Mitte Januar
bis Mitte März
WICHTIGER SICHERHEITSASPEKT:
Erst vor ein paar Wochen hat das
Auswärtige Amt die Reisewarnung für
Kashmir aufgehoben.
Die beiden Freireiter Andi P.
(links, mit spielenden Kindern
in Drang) und Stephan K. (rechts)