Rainer Proch Karl Liebknechts Positionen Sein Kampf gegen die

Fernuniversität Hagen, Historisches Institut
Rainer Proch
Karl Liebknechts Positionen
Sein Kampf gegen die Burgfriedenspolitik
der Sozialdemokratie 1914-1916
anhand der Kriegskreditsdebatte
Hausarbeit, 2. Semester Geschichte
Fachbereich:
Einführungskurs:
Erziehungs-, Sozial- und Geisteswissenschaften
Neuere deutsche Geschichte:
Deutschland zur Zeit des Kaiserreiches
Dozent
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PD Dr. Wolfgang Kruse
1
Inhaltsverzeichnis
I.
Einleitung ................................................................................................................. 3
1. Forschungsstand und Materiallage..................................................................................... 3
2. Fragestellung mit Begründung der zeitliche Eingrenzung................................................. 4
II.
Der Burgfriedensschluss .......................................................................................... 5
1.
Vorgeschichte Vom Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 bis zur Ausrufung
des Kriegszustandes in Deutschland am 31.07.1914 ............................................... 5
2.
Vier Tage im August 1914 – bis zur Bewilligung der Kriegskredite....................... 9
III.
Liebknechts Positionierung im Kampf gegen den Burgfrieden ............................. 11
1.
Grundlagen ............................................................................................................. 11
2.
Der 4. August- und dessen unmittelbare Vorgeschichte ........................................ 13
3.
Sammlung der Kriegskreditgegner- Liebknechts Zugehen auf den linksradikalen
Parteiflügel ............................................................................................................. 15
4.
„Ich habe mich eines schweren Fehlers schuldig gemacht“ - Liebknechts
Stuttgarter Bekenntnis ............................................................................................ 17
5.
Die Novemberthesen - vergeblicher Versuch, Mitstreiter für ein Separatvotum zu
finden...................................................................................................................... 19
6.
2. Dezember 1914, Liebknecht stimmt mit Nein: radikale Wende oder
konsequente Fortsetzung seiner Politik.................................................................. 21
7.
Die weiteren Versuche einer innerparteilichen und parlamentarischen
Oppositionsarbeit bis zur dritten Kriegskreditabstimmung am 20. März 1915 ..... 22
8.
Der Kampf gegen die offiziellen Parteiinstanzen wird eröffnet ............................ 24
9.
Die „kleine Anfrage“.............................................................................................. 25
10.
Die Zimmerwalder Konferenz ............................................................................... 27
11.
Die Oppositionelle Basis wird breiter - Die Dezemberabstimmung gegen die
Kriegskredite .......................................................................................................... 27
12
„Nieder mit dem Krieg, Nieder mit der Regierung“ – über den Spartakusbund zur
Maidemonstration................................................................................................... 30
13
Entweder - oder? – die Gretchenfrage der deutschen Sozialdemokratie ............... 33
Anhang: Literaturliste .............................................................................................................. 35
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I.
Einleitung
Geschichtliche Betrachtung bedarf der zeitlichen und emotionalen Distanz um objektiv sein
zu können. Umso näher ein Ereignis der geschichtlichen Betrachtung voranging, umso diffuser und unterschiedlicher sind oft die Auslegungen und Interpretationen. Das mag damit zusammenhängen, dass Handlungsstränge von dort bis in die Gegenwart reichen und gesellschaftliche Gruppen noch von Verantwortung dafür betroffen sind. Oft muss sich in der Gegenwart für vergangenes gerechtfertig werden, und/oder man leitet heutiges Handel aus Vergangenem her. Im 20. Jahrhundert liegen die direktesten Wurzeln der Gegenwart. Das heutige
Deutschland definiert sich aus den geschichtlichen Ereignissen dieser Zeit. Alles das, was
heute unter dem Begriff „moderne westliche Zivilisation“ zusammengefasst wird, entstand
nach der und durch die schreckliche Aufklärung zweier Kriege. Die Totalität dieser Ereignisse
korrespondiert mit den daraus resultierenden Folgen, die heute noch immer tägliche Realität
sind. Diese Arbeit will im Allgemeinen einen relativ kurzen Zeitraum beleuchten und im speziellen eine Person in ihrer Rolle als Subjekt und Objekt in der Geschichte.
Im August 1914 schuf der Ausbruch des ersten Weltkrieges für die deutschen Sozialdemokraten eine Situation, in der sie sich positionieren mussten. Dies geschah auf unterschiedliche
Art und Weise und in die verschiedensten Richtungen. Die Bandbreite der Reaktionen reichte
von praktischer Politik, die versuchte „das Beste“ aus der Situation zu machen, bis hin zu
konsequentem Antimilitarismus.
Karl Liebknecht ist heute Symbol und Instrument für vieles, für Antimilitarismus und Zivilcourage einerseits, als Vorkämpfer stalinistischer Gesellschaften andererseits. Selten macht
man sich die Mühe, hinter der symbolischen Fassade die Person im Spannungsfeld der Zeit zu
untersuchen, Widersprüche zu akzeptieren und nicht pauschal zu verurteilen. „Im Nachhinein
ist man immer schlauer“ ist das Privileg der heutigen Betrachtung, und so hat man heute retrospektiv scheinbar einen genaueren Blick.
Diese Arbeit legt dar, wie der Sozialdemokrat Karl Liebknecht in dieser Zeit reagierte, inwieweit er seine Positionen veränderte und belegt dabei die Statik der grundsätzlichen sozialdemokratischen Positionen, von denen er im beschriebenen Zeitraum nicht wesentlich inhaltlich abgewichen ist. Diese Arbeit verdeutlicht, dass der Bruch der Sozialdemokratie zwar ein
zwangsläufiger war, dieser aber nicht durch die Positionen und deren Radikalisierung eines
Karl Liebknecht ausgelöst wurde, sondern vom sozialdemokratischen Substanzverlust der
süddeutschen und gewerkschaftlichen Teile der Sozialdemokratie getragen und befördert
wurde.
1. Forschungsstand und Materiallage
Der Zeitraum zu Beginn des ersten Weltkrieges ist durch reiches Material an Quellen und
Sekundärliteratur dokumentiert. Diese Arbeit stütz sich dabei bezüglich der Quellen in erster
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Linie auf die neunbändige Ausgabe der gesammelten Reden und Schriften Karl Liebknechts
aus dem Dietz Verlag Berlin. Um den aktuellen Forschungsstand zu erfassen, sind die Arbeiten von Dieter Groh: „Negative Integration und revolutionärer Attentismus“, von Susanne
Miller: “Burgfrieden und Klassenkampf“ und Wolfgang Kruse: „Krieg und nationale Integration, Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15“ ausgewertet worden. Darüber hinaus sind einige Gedanken aus der Biografie Karl Liebknechts
von Helmut Trotnow berücksichtig worden.
2. Fragestellung mit Begründung der zeitliche Eingrenzung
Diese Arbeit dokumentiert das Wirken des deutschen Sozialdemokraten und Reichstagsabgeordneten Karl Liebknecht im Zeitraum von 1914 bis 1916, wobei die zeitliche Eingrenzung
durch zwei Ereignisse motiviert wurde. Einerseits dem Attentat auf den österreichischen
Thronfolger in Sarajevo im Juni 1914 und andrerseits der Verhaftung Karl Liebknechts auf
der Berliner Maidemonstration von 1916. Dieser Zeitraum eignet sich besonders zur Charakterisierung der verschiedenen Richtungen und Positionen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie, die sich durch die Auseinandersetzung mit der Tatsache des ausbrechenden ersten
Weltkrieges ausbildeten und offen legen mussten. Der Vorkriegsattentismus der Sozialdemokratie, der scheinbare Einhelligkeit suggerierte, wurde durch die „eherne Tatsache des Krieges“ beendet, um die Differenzen innerhalb der Partei zu offenbaren. In dieser Arbeit soll gezeigt werden, welche Positionen Karl Liebknecht einnahm und vertrat.
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II.
1.
Der Burgfriedensschluss
Vorgeschichte
Vom Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 bis zur Ausrufung des Kriegszustandes in Deutschland am 31.07.1914
Während der 28. Juni 1914, der Tag des Attentats auf das österreichische Thronfolgerpaar in
Sarajewo, von der Bevölkerung Europas mit Verwunderung und Entsetzen aufgenommen
wurde, setzte derselbe Tag verschiedenste Prozesse in Gang, auf deren Durchführung sich der
europäische Militarismus teilweise Jahrzehnte vorbereitet und deren Abwehr ebenso lange
von der internationalen Linken diskutiert und postuliert wurde.
„Mit den Serben muss aufgeräumt werden, und zwar bald“1 war die Reaktion von Kaiser
Wilhelm II. auf den Versuch des deutschen Botschafters in Wien, Tschirsky, zur Mäßigung
aufzurufen. Und auch die deutsche Militärführung sah endlich den Anlass gekommen, präventiv gegen Russland und, auf Grund des Schlieffenplanes zwangsläufig, auch gegen
Frankreich vorzugehen. Auf allen Seiten schien der Tag gekommen, „alte Rechnungen“ zu
begleichen. So sah man auch in Wien das Attentat als willkommene Gelegenheit, Serbien, als
Hindernis der österreichisch-ungarischen Balkanpolitik, aus dem Weg zu räumen. Aber auch
innenpolitische Ursachen liegen den damaligen Prozessen zu Grunde. In einer schon länger
nach einem Anlass suchenden Entwicklung, führte in Deutschland der innenpolitische Druck
zu außenpolitischen Konsequenzen. Spätestens nach dem guten sozialdemokratischen Wahlergebnis von 1912, wurden der Regierung die innenpolitischen Forderungen nach Reformen,
z.B. des preußische Dreiklassenwahlrechts, in ihrer Machtgefährdung deutlich. Bei den
Handlungsabwägungen schien gegenüber den geforderten innenpolitischen Änderungen ein
europäischer Krieg wohl als das „kleinere Übel“. Ganz in der Art der Bismarckschen Reichseinigungskriege, wurde hier die ultima ratio Krieg als Rettungsanker für überkommene politische Strukturen instrumentalisiert.
Nicht zuletzt sah das deutsche Kaiserreich die Möglichkeit gekommen, eine „angemessenere“
Positionierung im Reigen der europäischen Kolonialmächte zu erreichen und führende europäische Kontinentalmacht zu werden.
Als stärkste Reichstagsfraktion seit 1912, standen anfangs diesem Block der Kriegsbefürworter und -beförderer die antimilitaristischen deutschen Sozialdemokraten entgegen, allerdings keinesfalls in ähnlicher Geschlossenheit. Nach 1913 fehlte der deutschen SPD die charismatische Persönlichkeit eines August Bebels, der es verstanden hatte, die verschiedensten
Strömungen, vom Revisionismus Bernsteins bis zum Linksradikalismus Rosa
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I. Geiss: Julikrise und Kriegsausbruch 1914. Eine Dokumentation, Hannover, 1963/64, Bde. 1, Nr.2, S.59
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Luxemburgs, von der integrativen Politik Ludwig Franks bis zur Fundamentalopposition Karl
Liebknechts in der Partei zusammen zu halten.
So ist es sicherlich auch nicht verwunderlich, dass unter dem Eindruck dieser extremen politischen Ereignisse, unter dem Dach der SPD die unterschiedlichsten Reaktionen zu Tage traten.
So hatte bereits 1913 der zweite Vorsitzende der Generalkommission der Freien Gewerkschaften und Mitglied der SPD Reichstagsfraktion, Gustav Bauer, eine eher „praktische“
Haltung zu möglichen Kriegen. Zwar löste seine im Konjunktiv formulierte These, es könnte
auch „eine bestimmte Sorte [...] von Kriegen“ geben „die im Interesse des Proletariats liegen“2 auf der SPD Fraktionssitzung, neun Monate vor Kriegsbeginn, noch starken Widerspruch aus. Trotzdem wurden erste Ansätze einer versöhnlicheren, kompromissbereiteren und
nach innenpolitischer Integration suchenden Politik gegenüber der „Welt von Feinden“3 deutlich, die schließlich am 2. August 1914, auf der Tagung der Verbandsvorstände der Gewerkschaften, zur ersten formellen Etablierung der Burgfriedenspolitik führte, indem die Gewerkschaften zusagten, „alle schwebenden Lohnkämpfe einzustellen und jede Streikunterstützung
zu sistieren“4. Auch bei den sozialdemokratischen Vertretern der süddeutschen Länder war
schon in den Vorjahren ein Abdriften von der bebelschen Maxime: „diesem System keinen
Mann und keinen Groschen“ zu beobachten, hatten diese doch schon die Budgets ihrer Länderparlamente mitgetragen. Und so erscheint folgerichtig, dass der süddeutsche Abgeordnete,
Ludwig Frank, auch unter möglichem Bruch der Fraktionsdisziplin, „unter allen Umständen
durchzusetzen“ suchte „dass die Fraktion für die Kriegskredite stimmt. Im Notfall die Süddeutschen allein.“5.
Eine weitere große Gruppe innerhalb der SPD waren die Unentschlossenen, die zwischen Patriotismus und Parteiprinzipien wankten, die sich dem nationalistischen Taumel der Strasse
nicht entziehen konnten oder wollten. Da, wo von sozialdemokratischer Seite ein Wille, ja
eine Sehnsucht zur Integration vorhanden war, fand sie auf bürgerlicher Seite ihr Pendant,
nämlich ein Bestreben, die Sozialdemokratie „mitzukriegen“, wie es der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg so treffen formulierte. Diesem Sog, mit dem Ziel die Sozialdemokraten in ein kleinbürgerliches Denken, aber nicht in bürgerliche Lebensverhältnisse einzubetten und damit politisch zu paralysieren, konnten sich viele Genossen nicht verschließen.
Versprach er doch scheinbar die seit dem Sozialistengesetz gemachten Fortschritte in Bezug
auf gesellschaftliche Mitbestimmung und ökonomischen Lebensstandart festzuschreiben und
nach dem Krieg weiter auszubauen.
Als weitere Gruppe innerhalb der Sozialdemokratie ist die Linke der Partei zu nennen, deren
Vertreter auch in dieser Situation ihre Position der konsequenten Fundamentalopposition ge-
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Protokoll komplett abgedruckt in: Karlludwig Rintelen: Links blinken und rechts abbiegen, in: Zwecklegenden. Die SPD und das
Scheitern der Arbeiterbewegung, Verlag 1900, Berlin, 1996, S. 63-67
Bauer 1911 zitiert nach Karlludwig Rintelen: Links blinken und rechts abbiegen, in: Zwecklegenden. Die SPD und das Scheitern
der Arbeiterbewegung, Verlag 1900, Berlin, 1996, S. 59
s. Miller Susanne, Burgfrieden und Klassenkampf, Droste, Bonn-Bad Godesberg, 1974, S. 49
Grünebaum, „Ludwig Frank – Ein Beitrag zur Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie“, Bd. I, Stuttgart 1947, S. 299
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gen die Reichsregierung und den Antimilitarismus beibehielten. Ihre Einstellung begründet
sich aus dem Erfurter Parteiprogramm und Antikriegsbeschlüssen der Sozialistenkongresse.6
Klar definiert Liebknecht schon 1907 die imperialistischen Motive des kommenden Weltkrieges als „Kampf um die Beute, um den Profit zwischen den Kapitalistenklassen der Weltmächte“.7 An dieser Position sollte sich auch bis 1914 nichts ändern.
Auffällig ist auch die geringe Beachtung, mit der die Sozialdemokratie auf das Attentat von
Sarajevo reagierte. Weder Philipp Scheidemann noch Hermann Molkenbuhr, ihres Zeichens
Vorsitzende der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und auch nicht Friedrich Ebert, einer der Parteivorsitzenden, waren im Juli 1914 in Berlin und hatten auch keine Eile mit der
Anreise. Während die diplomatischen Geheimkanäle heiß liefen, befand sich z.B. Friedrich
Ebert im Urlaub auf Rügen. Alles in allem kann man wohl davon ausgehen, dass in der Mehrheit der Sozialdemokratie die Kriegsgefahr eher als gering eingeschätzt wurde. So schrieb
unter anderen8 die zum linksradikalen Flügel der SPD gehörige Rosa Luxemburg, deren
Glaubwürdigkeit auf Grund ihres linken pazifistischen Image sicherlich besonders groß war,
noch am 28. Juli 1914 in einem Artikel der „Sozialdemokratischen Korrespondenz“, dass die
Leitung der deutschen Politik und besonders Wilhelm II. keinen Krieg wollen.9
Allerdings reagierte die Parteizeitung der deutschen Sozialdemokratie „Vorwärts“ am 25. Juli
1914 auf die Kriegsgefahr ganz traditionell und veröffentlichte neben dem österreichischen
Ultimatum an Serbien auch einen Aufruf des SPD Parteivorstandes, in dem dieser „im Namen
der Menschlichkeit und der Kultur flammenden Protest gegen dies verbrecherische Treiben
der Kriegshetzer“10 erhob und zu Massenprotesten gegen den drohenden Krieg aufrief.11 So
beteiligten sich zwischen dem 26. und 31. Juli 1914 immerhin „ca. eine dreiviertel Million
Menschen an mindestens 288 Antikriegsversammlungen in 163 Städten und Gemeinden.12
Allerdings war das Ziel, nur die deutsche Regierung zu motivieren, gegen die Kriegsbestrebungen Österreich-Ungarns vorzugehen. Dem deutschen Reich eigene Kriegsbestrebungen zu
unterstellen, lag der Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie zu diesem Zeitpunkt fern. So
verwundert auch die Miteilung der Reichsregierung vom 26. Juli 1914 an Hugo Haase, nicht
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„Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten
Ländern verpflichtet[...]alles aufzubieten[...] den Ausbruch eines Krieges zu verhindern. [...] Falls der Krieg dennoch ausbrechen
sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten“ Manifest des Außerordentlichen Internationalen Sozialistenkongresses zu Basel, 24./25. 11.1912 abgedruckt in Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Dokumente und Materialien
zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Band II/1, Dietz Verlag, Berlin, 1958, S.3-8
Liebknecht, Karl, Klassenkampf gegen den Krieg in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band I, Dietz Verlag, Berlin, 1958, S. 422
z.B. Haase, Ströbel s. dazu Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am
Vorabend des Ersten Weltkrieges. (Ullstein 3086) Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1973 S. 644
s. Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten
Weltkrieges. (Ullstein 3086) Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1973 S. 643-644.
zitiert aus: Carola Stern, Heinrich A. Winkler: Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1990, Fischer Taschenbuch Verlag,
Frankfurt a. Main, 1995, S. 74.
wohl von Haase angeregt und nur durch die Abwesenheit von Ebert, Scheidemann und Molkenbuhr in dieser Konsequenz zustande
gekommen, s. dazu Miller, Susanne: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg. Hrsg.
Von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Droste S.39-40
Wolfgang Kruse: Sozialismus, Antikriegsbewegungen, Revolutionen in Wolfgang Kruse: Eine Welt von Feinden, Der große Krieg
1914-1918, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2000, S. 198
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7
„dass die Regierung nicht beabsichtige, diese Versammlungen zu unterdrücken“.13 Im Gegenzug versicherte Albert Südekum am 29. Juli 1914 anlässlich einer Unterredung mit dem deutschen Reichskanzler, Bethmann Hollweg, für die SPD, „dass – gerade aus dem Wunsch heraus, dem Frieden zu dienen- keinerlei wie immer gearteten Aktionen (General- oder partieller
Streik, Sabotage u. dgl.) geplant oder auch nur zu befürchten seien“14 und nahm damit die von
der Reichsregierung zum Burgfrieden ausgestreckte Hand. Mit der Gewissheit des deutschen
Reichskanzlers Bethmann Hollweg, dass „von der Sozialdemokratie und dem sozialdemokratischen Parteivorstand [...] nichts besonderes zu befürchten“ sei, beendet der am 31. Juli 1914
verhängte Kriegszustand ein diffuses Bündel von sozialdemokratischen Aktionen, die sich
zwar pauschal gegen Krieg und Militarismus gerichtet haben, sich in ihrer Kritik an der deutsche Politik aber eher zurück hielten. Nun wurde scheinbar offiziell die Integration der „vaterlandslosen Gesellen“ eingeleitet.
Ein Vorgang, der15 auf eine schon länger währende Transformation von revolutionär
internationalistischen Parteizielen zu reformistisch, staatssozialistischen und integrativen16
Zielen zurück geht.17 Trotzdem macht es den Eindruck, die Konsequenz dieser
Richtungsänderung, nämlich die daraus zwangsläufig folgende Bewilligung der Kriegskredite
und die uneingeschränkte Solidarität mit der Reichsregierung, war der Fraktionsmehrheit
Ende Juli 1914 noch nicht klar und gegenwärtig.18 Dominierendes Motiv war es, endlich das
Stigma der Reichsfeinde und „vaterlandslosen Gesellen“ einzutauschen gegen eine gleichberechtigte Position innerhalb der gesellschaftlichen Entscheidungsebene. Dass dieses Ziel nur
durch „sozialdemokratischen Substanzverlust“19 zu erreichen war und sich die Fraktion zu
diesem Zeitpunkt damit nicht unbedingt in Meinungsübereinstimmung mit der Parteibasis
befand, ist bewusst von der Fraktionsmehrheit aus politischem Kalkül in Kauf genommen
worden.
Nun sollte die geschickte Taktik Bethmann Hollwegs Früchte tragen. Vor die Wahl gestellt,
die Zerschlagung ihrer Organisation zu riskieren, was auch bedeutete, möglicher kriegsbedingter Massenarbeitslosigkeit und Hungersnot unorganisiert ausgeliefert zu sein, folgten die
meisten Mitglieder der deutschen Sozialdemokratie der argumentativen Linie, Europa vor
dem Zarismus zu bewahren. Als dann am 1. August die Ermordung von Jaurés bekannt
wurde, war es der Ruf „´Rache für Jaurés!´ [...], der es vielen deutschen Sozialdemokraten
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zitiert aus: Miller, Susanne: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg. Hrsg. Von der
Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Droste S. 41
zitiert aus: Miller, Susanne: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg. Hrsg. Von der
Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Droste S. 42
wie oben aufgezeigt
s. dazu Kruse, Wolfgang. Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses
1914/15. Klartext, Essen 1993 S. 224
„ the vote for the war credits on 4. August 1914 is but the logical end of a clear line of development“ Carl E. Schorske, German
Social Democracy 1905-1917. The Development of the Great Schism in Harvard Historical Studies, Harvard 1955, S. 285
s. dazu Miller, Susanne: Zum 3. August 1914, in: Friedrich-Ebert-Stiftung(Hrsg.), Archiv für Sozialgeschichte IV. Band, Verlag für
Literatur und Zeitgeschehen, Hannover, 1964 S.518
s. dazu Kruse, Wolfgang. Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses
1914/15. Klartext, Essen 1993 S. 224
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8
erleichterte, dem ´Nieder mit dem Zarismus!´ seit dem 2. und 3. August ein ´Nieder mit
Frankreich!´ hinzuzufügen und sich gleichzeitig als gute Sozialisten zu fühlen“.20
2.
Vier Tage im August 1914 – bis zur Bewilligung der Kriegskredite
Der am 31. Juli 1914 ausgerufene „Zustand drohender Kriegsgefahr“, schränkte die öffentlichen Handlungsräume der Sozialdemokratie erheblich ein und reduzierte sie auf Fraktionsund Parlamentsebene. Angesichts der drohenden Kriegsgefahr befand sich die SPD
Reichstagsfraktion in einer Position des bewussten Verdrängens aller Indizien, die für eine
offensive Kriegspolitik des deutschen Kaiserreiches sprachen. Ihr Verhalten lässt sich aus
heutiger Sicht wohl nur mit dem unbewussten Bestreben erklären, zu verhindern, dass sie, bei
Erkennen der Kriegszielpolitik der Reichsregierung, von ihren eigenen antimilitaristischen
und internationalistischen Parteiprinzipien in die Pflicht einer forcierten Antikriegspolitik
genommen worden wären. So hielt auch die Sozialdemokratie die Vorstellung vom „gerechten“ Verteidigungskrieg aufrecht, um ihre integrativen Bestrebungen in Einklang zum Parteiprogramm bringen zu können. Die schicksalsergebene Hoffnung, dass die Reichsleitung sich
letztlich doch um die Erhaltung des Friedens bemühen werde, stellte sich spätestens am 1.
August 1914, dem Tag der Kriegserklärung an Russland und Frankreich, als Wunschdenken
heraus.
War die mögliche Position der SPD Reichstagsfraktion zur Kriegskreditsfrage anlässlich des
Treffens mit den SPD-Vorständen am 31. Juli 1914 noch relativ umstritten und die Entscheidung anscheinend noch offen, kam es nur zwei Tage später auf der Tagung der Verbandsvorstände der Gewerkschaften zur eindeutigen Etablierung der Burgfriedenspolitik, als diese zustimmten, „alle schwebenden Lohnkämpfe einzustellen und jede Streikunterstützung zu sistieren“21. Bei der Konstruktion der sozialdemokratischen Rechtfertigungsstrategie kam der geschickt von Reichskanzler Bethmann Hollweg als „Bösewicht“ aufgebaute Zarismus gerade
recht. Letzte Barrieren wurden dann am 3. August 1914 gebrochen, als der SPD Reichstagsabgeordnete Hermann Müller, gerade von einem Treffen mit französischen Genossen zurückgekehrt, erklärte, diese würden wahrscheinlich für die französischen Kriegskredite stimmen,
weil sie davon überzeugt seien, dass Frankreich einen Verteidigungskrieg führe. Mit dem augenscheinlichen Zusammenbrechen der Internationalen vollzog sich auch der Stimmungswandel der SPD Reichstagsfraktion. Diese beschloss dann, unter heftigen Kontroversen zwischen „Fundamentalopposition und Integration“22, auf ihrer Fraktionssitzung am 3. August
1914 mit einer überwältigenden Mehrheit von 78 zu 14 Stimmen23, die Bewilligung der
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Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten
Weltkrieges. (Ullstein 3086) Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1973, S. 663
s. Miller Susanne, Burgfrieden und Klassenkampf, Droste, Bonn-Bad Godesberg, 1974, S. 49.
Kruse, Wolfgang. Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15.
Klartext, Essen 1993, S. 84
die Zahl der Gegenstimmen schwankt in den Quellen zwischen 14 und 16 s. dazu Matthias, Erich und Pikart, Eberhard: Die
Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1914 bis 1918, Hrsg. Von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus
und der politischen Parteien Erste Reihe 3/II, Droste, Düsseldorf, 1966, S. 3
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Kriegskredite und damit auch formell eine bedingungslose Integration in die deutsche Einheitsfront.
Der 4. August 1914 wurde der Tag der Umsetzung dieser Beschlüsse. Er wurde für die deutsche Sozialdemokratie zum „umfassenden Bekenntnis [ihrer] [...] Untertänigkeit“24 unter die
Regierungsgewalt des deutschen Kaiserreiches. Diese Unterwerfung führte soweit, dass nach
dem Einspruch Bethmann Hollwegs gegen den Passus in der SPD Erklärung, dass die Fraktion den „entschiedensten Widerstand leisten werde, falls der Krieg den Charakter eines Eroberungskrieges annehmen werde“25, dieser ohne nennenswerten Widerstand geändert
wurde.26 Symbolhaft ist auch das für die sozialdemokratische Fraktion sicherlich beispiellose
Beklatschen und Beifallrufen einiger ihrer Abgeordneter27 während der Reichskanzlerrede in
der ersten Plenarsitzung.28 Und so besiegelte das erstmalige Aufstehen der sozialdemokratischen Fraktion, beim gemeinschaftlich im Reichstag ausgesprochenem ’Kaiserhoch’ auf
‘Volk und Vaterland‘, den Burgfriedensschluss im deutschen Reich29 und symbolisiert
scheinbar die „vollständige nationale Bekehrung“30 der deutschen Sozialdemokratie. Der
Eindruck der Einheitlichkeit der sozialdemokratischen Haltung wurde noch dadurch bestärkt,
dass die Stimmenthaltungen zweier Abgeordneter31 in der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt
blieben. Auch das Verlesen der „pro - Kriegskredite“ Erklärung der SPD Reichstagsfraktion
durch den linken Abgeordneten und Parteivorsitzenden Haase, konnte in der Öffentlichkeit
nur als einhellige Bestätigung auch der linken Fraktionsseite gewertet werden. Darüber hinaus
kam es dazu, dass am 4. August 1914 die Erkenntnis Kaiser Wilhelm II., „ich kenne keine
Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“, auch noch durch ein von der Sozialdemokratie
mitgetragenes „Ermächtigungsgesetz“32 bestätig wurde, welches jegliche parteipolitische
Einflussnahme auf parlamentarischer Ebene gesetzlich verhinderte und die Parteien damit zur
selbstbeschlossenen Handlungsunfähigkeit verdammte und ihre Existenz, soweit man sie über
ihre Handlungsfähigkeit definiert, tatsächlich aufhob.
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Ströbel, Kriegsschuld S. 9, zitiert aus Kruse, Wolfgang. Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des
sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15. Klartext, Essen 1993 S. 86
Matthias, Erich und Pikart, Eberhard: Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1914 bis 1918, Hrsg. Von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Droste, Düsseldorf, 1966S. 4 Anm. 5)
und damit auch der einzige Satz innerhalb dieser Erklärung der von einem Gegner der Kriegskreditvorlage, nämlich Kautsky,
stammte.
Südekum, Heine, Frank, Wendel u.a.
s. dazu Matthias, Erich und Pikart, Eberhard: Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1914 bis 1918, Hrsg. Von der
Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Droste, Düsseldorf, 1966S. 4 Anm. 5
beim offiziellen Schwur anlässlich der feierlichen Eröffnung der Reichstagssession: mit dem Kaiser ´durch dick und dünn durch Not
und Tod´ zu gehen, im Berliner Stadtschloss am selben Tag, war die Sozialdemokratische Fraktion nicht anwesend, diese hatte aber
vorher versucht, die Verlesung der Thronrede in den Reichstag zu verlegen „dann werde die Sozialdemokratie erscheinen und sich
auch vom Hoch auf den Kaiser nicht ausschließen“ Conrad Haussmann: Schlaglichter. Reichstagsbriefe und Aufzeichnungen, hg.
V. u: Zeller, Frankfurt 1924, S.3
Kruse, Wolfgang. Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15.
Klartext, Essen 1993 S. 88
Josef Simon und Fritz Kunert s. dazu: Kruse, Wolfgang. Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15. Klartext, Essen 1993 S. 250 Anm. 324
neben der Abstimmung über die Kriegskredite kam das ´Gesetz über die Ermächtigung des Bundesrates zu wirtschaftlichen
Maßnahmen und über die Verlängerung der Fristen des Wechsel- und Scheckrechtes´ zur Abstimmung, welches einem Verzicht des
Parlaments auf Mitwirkung an entscheidenden kriegswirtschaftlichen Fragen entspricht, s. dazu Groh, Dieter: Negative Integration
und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges. (Ullstein 3086) Frankfurt/M.,
Berlin, Wien: Ullstein 1973, S. 685-686
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III.
Liebknechts Positionierung im Kampf gegen den Burgfrieden
1.
Grundlagen
Der Sozialdemokrat Karl Liebknecht war zum Zeitpunkt des Attentats von Sarajewo 43 Jahre
alt und seit 1912 gewählter Abgeordneter im deutschen Reichstag. Geboren als Sohn von
Wilhelm Liebknecht (1826-1900), dem „Soldaten der Revolution“, der 1869 zusammen mit
August Bebel (1840-1913) die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands (SDAP) gegründet hatte, trat er 1900 der SPD bei. Sein Kampf als sozialdemokratischer Politiker begann
1904, als er erstmals an einem Parteitag der SPD teilnahm und richtete sich von Anfang an
konsequent gegen den bestehenden Militarismus. Diesen hatte er als Machtmittel von „Kapital und Reaktion“ identifiziert, der mit „Drill und Disziplin“ das Proletariat „durch Furcht und
Schrecken“ zu zwingen sucht, „seinen eigenen Feinden“ zu dienen.33 Für ihn war Militarismus, neben dessen Funktion als Verteidigungs- und Angriffsinstrument, immer auch Mittel
zur Stabilisierung der inneren Ordnung des deutschen Kaiserreiches und somit direkter Widerpart der nach Emanzipation des Proletariats strebenden Sozialdemokratie. Auf dieser Erkenntnis beruhte sein ständiger Kampf gegen den preußischen Klassenstaat, den deutschen
Imperialismus und den despotischen Zarismus in Russland. Er versuchte, speziell die Jugend
durch Aufklärung dem Einfluss der militärischen Erziehung zu entziehen. Da diese Agitation
von herrschender Seite nicht unbemerkt blieb, kam es vom 9. bis 12. Oktober 1907 in Leipzig
zum Hochverratsprozess gegen Karl Liebknecht. Dieser „suchte [...] im Prozess [...] nicht die
juristische, sondern die politische Auseinandersetzung34, indem der studierte Jurist und Anwalt versuchte, den Prozess zum Podium seiner antimilitaristischen Agitation zu machen.35
Resultat war eine Verurteilung zu 18 Monaten Festungshaft.
Aber auch in Kreisen der Sozialdemokratie traf seine antimilitaristische Agitation nicht nur
auf Gegenliebe. Der beim Prozess gegen Liebknecht als Zeuge vernommene August Bebel
erklärte, dass „dieses Hervorheben einer besonderen antimilitaristischen Agitation [...] praktisch falsch und taktisch unrichtig ist“.36 Schon hier wurde die unterschiedliche Bewertung
und Gewichtung des Militarismus von Karl Liebknecht und im Gegensatz dazu einem
Grossteil der SPD-Führung deutlich.37 Hier zeigten sich erste Ansätze des späteren Konflikts,
der bei der Diskussion um die Bewilligung der Kriegskreditvorlage im August 1914 seinen
vorläufigen Höhepunkt erreichen sollte. Der Attentismus der sozialdemokratischen Parteiführung führt im Gegenzug zur starken Popularisierung Liebknechts und ließ ihn zum Symbol
des deutschen Antimilitarismus werden. Die hohe Bekanntheit und sein Engagement führten,
trotz seiner Festungshaft, am 16. Juni 1908 zur Wahl Liebknechts zum Abgeordneten der
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s. dazu Helmut Trotnow: Karl Liebknecht Eine politische Biographie, dtv, München 1982, S. 78
Helmut Trotnow: Karl Liebknecht Eine politische Biographie, dtv, München 1982, S. 84
interessante Parallelen ergeben sich hier zum Hochverratsprozess gegen seinen Vater Wilhelm Liebknecht und August Bebel von
1872, der auch ein Ergebnis des Kampfes gegen den Bismarckschen Militarismus im Zusammenhang mit dem deutsch - französischen Krieg 1870-1871 war
zitiert aus: Helmut Trotnow: Karl Liebknecht Eine politische Biographie, dtv, München 1982, S. 89
darüber hinaus wurden auf verschiedensten Parteitagen der SPD Anträge Karl Liebknechts ´so auf dem Bremer Parteitag von 1904
und dem Essener Parteitag von 1907´ abgelehnt, die eine Forcierung der antimilitaristischen Propaganda zum Ziel hatten.
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SPD im preußischen Landtag. Der krasse Widerspruch zwischen der geringen Anzahl von
sieben sozialdemokratischen Abgeordneten - nicht einmal 2 % der 424 Landtagssitze - und
dagegen dem Stimmenanteil von 23,87 % aller Wähler,38 bestärkte Liebknechts Kampf gegen
Preußen und das preußische Dreiklassenwahlrecht. Er war von der Unmöglichkeit überzeugt,
grundsätzliche Veränderungen auf parlamentarischem Wege erreichen zu können. Auf dem
Parteitag der SPD 1910 in Berlin sagte er: „das demokratische Wahlrecht ist wirkungslos,
solange draußen, außerhalb des Parlaments, die Machtverhältnisse nicht verschoben sind“.39
Er maß dem außerparlamentarischen Kampf40 größte Bedeutung bei und gab damit im gleichen Atemzug aber auch allen integrative Bestrebungen41 der sozialdemokratischen Parteiführung und ihren lokalen Vertretern eine klare Absage. Hier liegt neben dem konsequenten Antimilitarismus eine weitere Wurzel für Liebknechts spätere Ablehnung der Burgfriedenspolitik der deutschen Sozialdemokratie.
Dass die Reichsregierung im Falle einer möglichen Kriegsgefahr bemüht sein wird, latent in
der Sozialdemokratie vorhandene „chauvinistische(r) Instinkte“42 zu entfesseln, war
Liebknecht klar. Im Zuge der Marokkokrise 1911 brachte er aber seine Überzeugung zum
Ausdruck, dass das Proletariat sich „den Sand aus den Augen“ reiben und die Situation „klar
und scharf“ erkennen wird, um „seine Macht in die Waagschale des Friedens [zu] werfen“.43
Er forderte das Proletariat auf, „die Hand am Schwertknauf zu halten[...] Nur angespannteste
Wachsamkeit und andauernde Bekundung der proletarischen Bereitschaft zum rücksichtslosen Krieg gegen den Krieg“ könnte die auf Europa lastenden Kriegsgefahren „endgültig niederringen“.44
Im gleichen Zusammenhang zeigten sich weitere kompromissbereite Verhaltensmuster der
Parteiführung der SPD, als diese45 die von dem Sekretär des Internationalen Sozialistischen
Bureau (ISB), Camille Huysmann, geforderte Einberufung desselben aus „Rücksicht auf die
bevorstehenden Reichstagswahlen“ ablehnte und damit den nationalen Wahlerfolg der deutschen Sozialdemokratie über die Friedensbemühungen der Internationale stellte.
Dieses Verhalten der SPD Parteiführung und die daraus resultierenden Auseinandersetzungen
auf dem Jenaer SPD Parteitag desselben Jahres, motivierten Karl Liebknechts Beschäftigung
mit Fragen des Krieges und der Kriegsverhütung. Exemplarisch dafür ist die von ihm im Zuge
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Dieter Fricke: Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869-1917, Dietz Verlag Berlin, 1987, Band 2, S. 767,
darüber hinaus auf dem Parteitag der SPD, Berlin 1913 „Es ist doch der helle Wahnsinn, [...] zu glauben, wir sollten mit Hilfe des
Dreiklassenwahlrechts die Dreiklassenmehrheit im Abgeordnetenhaus stürzen können. Das ist ausgeschlossen.“, Institut für
Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Karl Liebknecht Gesammelte Reden und Schriften, Band VI, Dietz Verlag,
Berlin 1964, S. 5
„Wir müssen uns vollkommen klar sein, dass der entscheidende Schlag geführt wird außerhalb des Parlaments“ Parteitag der SPD,
Berlin 1913, Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Karl Liebknecht Gesammelte Reden und Schriften,
Band VI, Dietz Verlag, Berlin 1964, S. 5
diese zeigten sich z.B. deutlich, als am 11.8.1908 die bayrische Landtagsfraktion der SPD und am 13.8.1908 die badische Fraktion
für die entsprechenden Budgets der Länderparlamente stimmten und damit bewusst SPD Parteitagsbeschlüsse brachen
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band IV, Dietz Verlag,
Berlin, 1961, S. 452
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band IV, Dietz Verlag,
Berlin, 1961, S. 452
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band IV, Dietz Verlag,
Berlin, 1961, S. 453
speziell Hermann Molkenbuhr der als einziger aus dem Parteivorstand zur dieser Zeit in Berlin war
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12
des Balkankrieges gehaltene Antikriegsrede am 17. November 1912 in Budapest. Auf dieser
spricht er den in Europa herrschenden Klassen die Fähigkeit „Frieden halten [zu] können und
Frieden halten [zu] wollen“46 ab. Die Proletarier könnten am Krieg kein Interesse haben, denn
nach dem Krieg „werden sie zurückkehren und in die alte Sklaverei eingespannt werden“.47 Er
hoffte, dass es unmöglich sein werde einen Krieg zu führen, „wenn die Masse des Volkes [...]
keine Begeisterung für den Krieg empfindet“48 und wenn das Volk den „entschlossenen Willen besitzt, den Weltfrieden aufrecht zu erhalten“.49 Man kann Liebknecht zumindestens im
Bezug auf seinen Antimilitarismus reformistische Ansichten unterstellen, lehnte er doch zu
diesem Zeitpunkt offensichtlich Kriege zur Herbeiführung eines revolutionären Umbruchs
und den dadurch herbeizuführenden Zusammenbruch des kapitalistischen Systems ab.
Liebknechts Antimilitarismus und Fundamentalopposition korrespondierten immer weniger
mit der in der SPD verfolgten Strategie zur Integration und parlamentarischen Mitarbeit.
Liebknecht war unbewusst zum Einzelkämpfer geworden, der sich weder hundertprozentig
mit der linken oder rechten Parteilinie, noch dem SPD Zentrum in Einklang bringen ließ.
Vielleicht prädestinierte es ihn deswegen als Vermittler zwischen deutschen und französischen Genossen aufzutreten, die schon länger das Generalstreikspostulat bei Kriegsausbruch
kontrovers diskutierten. Im Angesicht der drohenden Kriegsgefahr reiste Liebknecht am 12.
Juli 1914 nach Condé sur l´Escaut in Nordfrankreich. Die dortige deutsch-französische Friedenskundgebung sollte zum letzten Lebenszeichen der sozialistischen Internationale vor
Kriegsausbruch werden. Unter Rufen wie „Vive l´Allemange!“, „Vive Liebknecht“ und „Nieder mit dem Krieg“ beschwor Karl Liebknecht den Internationalismus als Mittel im Kampf
gegen Militarismus und Krieg.
2.
Der 4. August- und dessen unmittelbare Vorgeschichte
Karl Liebknecht kam am 3. August nach Berlin.50 Wie viele sozialdemokratische Genossen
hatte er den Juli für Urlaub51 genutzt. Aus dieser relativ sorglosen Haltung gegenüber den
Ereignissen seit dem 28. Juni 1914 lässt sich auf die starke Unterschätzung der latent vorhandenen Kriegsgefahr schließen. Auch das Entscheidungsverhalten der SPD Reichstagsfraktion
bezüglich der Kriegskreditvorlage hatte Liebknecht nicht in Frage gestellt und mit ihm gingen
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Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band V, Dietz Verlag,
Berlin, 1963, S.424
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band V, Dietz Verlag,
Berlin, 1963, S.425
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band V, Dietz Verlag,
Berlin, 1963, S.428
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band V, Dietz Verlag,
Berlin, 1963, S.428
die Zeit zwischen dem 12. Juli 1914 und dem 3. August 1914 lässt sich für Liebknecht in den Quellen nicht nachweisen, sogar in
seiner Schrift „Klassenkampf gegen den Krieg“ erwähnt er nur die Nachmittagssitzung der SPD vom 3. August 1914 so dass wohl
davon ausgegangen werden kann dass sein Eintreffen in Berlin am Nachmittag des 3. August 1914 war s. dazu Helmut Trotnow:
Karl Liebknecht Eine politische Biographie, dtv, München 1982, S. 184
„die Führer der deutschen Sozialdemokratie und die Hauptredakteure der Parteiblätter [...] waren in den berühmten deutschen
Sommerferien, in denen man selbst mit der Weltgeschichte Burgfrieden macht“ Wachenheim, Hedwig: Die deutsche Arbeiterbewegung 1844-1914, Opladen Westdeutscher Verl. 1971, S. 515
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die meisten Genossen und sicherlich auch die Mehrheit der Bevölkerung, von einer mehrheitlichen Ablehnung der Kriegskredite durch die SPD aus.52
Wenn Hedwig Wachenheim sagt: „die Reichstagsfraktion ist mit Ausnahme der bewussten
Reformisten in die Bewilligung der Kriegskredite hineingeschlittert“,53 so mag dass nicht
unbedingt für die gesamte Fraktion gelten, für Karl Liebknecht auf jeden Fall. Die Vorgänge
um den 3. August 1914 beschreibt Liebknecht im Nachhinein als „Pulverisierung des radikalen Flügel“54 der Fraktion. Zwar war die Minderheit der sozialdemokratischen
Reichstagsfraktion, die Kriegskreditgegner um Liebknecht, „so fest in der traditionellen sozialdemokratischen Fundamentalopposition zur bestehenden Ordnung verankert, dass sie darin
nicht tiefgehend zu erschüttern war“55, hatte aber für den Abbruch der Fraktionsmehrheit von
der Parteilinie kein Entgegnungskonzept. Liebknecht hoffte, dass die Beschlüsse der Fraktionssitzung Ergebnis einer „vorübergehenden Panik“ wären, die „alsbald korrigiert“56 werden.
Die Möglichkeit für ein separates Votum bestand zwar theoretisch, wurde aber auf Grund der
„heilige[n] Verehrung“ der Partei und Fraktionsdisziplin besonders auf dem „radikalen Flügel“57 ausgeschlossen. So tappte die Linke in eine Art Disziplinfalle, musste sie sich doch
jetzt der Fraktionsdisziplin unterwerfen, die sie in den anderen Jahren so vehement von den
Süddeutschen gefordert hatte.58 In einer stark emotionsgeladenen Debatte kam es zur
mehrheitlichen Bewilligung der Kriegskredite, der die konzeptionslose Parteilinke an diesem
Tage nichts Entscheidendes entgegensetzen konnte. Der Widerstand beschränkte sich neben
der verbalen Auseinandersetzung auf das Redigieren eines Erklärungsentwurfs von
Liebknecht, zusammen mit Lensch und Ledebour, „in aller Hast – nur Minuten standen zur
Verfügung“, der mit „der Verweigerung der Kredite schloss“.59
Motiv für die fatalistische Zustimmung mag neben dem Glauben an einen kurzen Krieg und
der Angst vor Repressalien und Volkszorn60 auch die Hoffnung gewesen sein, die Fraktion
werde innerhalb des Krieges schnell ihre Position revidieren um zur sozialdemokratischen
Linie zurückzukehren. So stimmte also Liebknecht innerhalb einer geschlossenen sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am 4. August 1914 für die Bewilligung der Kriegskredite.
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„noch wenige Tage vor dem 3. Auguste 1914 wiegten sich viele Genossen in dem Wahne, dass die Ablehnung der Kriegskredite für
die Mehrheit der Reichstagsfraktion selbstverständlich und zweifellos sei“ Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED:
Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band VIII, Dietz Verlag, Berlin, 1966, S. 19. Zu diesen Genossen dürfte
Liebknecht auch selbst gezählt haben.
Wachenheim, Hedwig: Die deutsche Arbeiterbewegung 1844-1914, Opladen Westdeutscher Verl. 1971, S. 515
Karl Liebknecht: Betrachtungen und Erinnerungen aus großer Zeit, in Marx-Engels-Lenin-Institut beim ZK der SED: Karl
Liebknecht Ausgewählte Reden, Briefe und Aufsätze, Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 429
Kruse, Wolfgang. Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15.
Klartext, Essen 1993, S.61
“ (Karl Liebknecht: Betrachtungen und Erinnerungen aus großer Zeit, in Marx-Engels-Lenin-Institut beim ZK der SED: Karl
Liebknecht Ausgewählte Reden, Briefe und Aufsätze, Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 429
Karl Liebknecht: Betrachtungen und Erinnerungen aus großer Zeit, in Marx-Engels-Lenin-Institut beim ZK der SED: Karl
Liebknecht Ausgewählte Reden, Briefe und Aufsätze, Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 429
Anlass war, als am 11.8.1908 die bayrische Landtagsfraktion der SPD und am 13.8.1908 die badische Fraktion für die entsprechenden Budgets der Länderparlamente stimmten und damit bewusst SPD Parteitagsbeschlüsse brachen.
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band VIII, Dietz Verlag,
Berlin, 1966, S. 20
Noske: die Abgeordneten hätten für die Kriegskredite gestimmt“ um nicht vor dem Brandenburger Tor zu Tode getrampelt zu
werden“ Adolf Hofer: er wäre “nicht lebendig aus Ostpreußen herausgekommen wenn wir dagegen gestimmt hätten“ zitiert nach
Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges. (Ullstein 3086) Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1973, S. 681
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14
3.
Sammlung der Kriegskreditgegner- Liebknechts Zugehen auf den linksradikalen
Parteiflügel
Aus der, durch das unerwartete Abstimmungsergebnis über die Kriegskredite, bei deren Gegnern hervorgerufenen Agonie, erwachte wohl als eine der ersten, Rosa Luxemburg. Hatte Sie
am Nachmittag des 4. August 1914 noch einen Selbstmord61 erwogen, berief Sie für den
Abend zur Krisensitzung in Ihre Wohnung. Ziel war es, Strategien zu entwickeln, um auf die
„vom Krieg berauschte Partei“62 einwirken zu können. Als Ergebnis wurde eine Erklärung
unter der Überschrift „Warum wir nicht aus der Partei ausgetreten sind“ verfasst, die an mehr
als 300, als oppositionell bekannte Funktionäre zur Unterschrift versendet wurde. Die Resonanz war ein Desaster, nur der später zum rechten Parteiflügel gewechselte Paul Lensch war
bereit zu unterzeichnen. Auch Liebknecht, der von Lensch angesprochen wurde, verweigerte
die Unterschrift. Liebknecht erklärte später dazu, dass er der Erklärung Luxemburgs keinesfalls wegen der Radikalität die Unterschrift verweigerte, sondern weil er bis zu diesem Zeitpunkt damit rechnete, “dass die Partei baldigst in schwerste Verfolgung geraten würde“ und
er ihr nicht in den „Rücken fallen“ wollte.63 Liebknecht liefert damit ein Indiz dafür, wie groß
seine Loyalität gegenüber der sozialdemokratischen Parteiführung und den traditionellen sozialdemokratischen Idealen und Maximen in diesem Moment noch war. Es ist auch davon
auszugehen, dass ihm die Konsequenzen aus dem Übertritt der SPD ins Regierungslager zu
diesem Zeitpunkt noch nicht völlig klar waren.
Aber die Realität des Krieges lieferte schnell erste Indizien, die den Charakter eines Verteidigungskrieges64 in Frage stellten. Die Annexionen von Luxemburg und Belgien waren im anfänglichen Kriegstaumel von den meisten sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten verdrängt worden. Doch der Widerspruch zwischen der von der Reichsregierung suggerierten
russischen Bedrohung und massiven Kriegshandlungen gegen Frankreich, war nicht zu negieren. 65
Als dann Ende August die von Liebknecht geforderte „demonstrative Versammlungspropaganda gegen die Annexionshetze“66 vom Parteivorstand der SPD abgelehnt wurde, entschloss
sich Liebknecht, nach einer am 31. August 1914 in Rosa Luxemburgs Wohnung abgehaltenen
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s. dazu Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten
Weltkrieges. (Ullstein 3086) Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1973, S. 712
s. dazu Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten
Weltkrieges. (Ullstein 3086) Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1973, S. 713
s. dazu Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band IX, Dietz
Verlag, Berlin, 1968, S. 277
den Liebknecht nicht ablehnte sondern für legitim hielt s. dazu: „Brief Liebknechts: Ihnen brauche ich nicht zu sagen, dass wir das
Recht und die Pflicht zur nationalen Selbstverteidigung und Selbstbehauptung nicht im Mindesten angezweifelt haben und anzweifeln“ in Wohlgemuth, Heinz: Burgkrieg, nicht Burgfriede! Der Kampf Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs und ihrer Anhänger um
die Rettung der deutschen Nation in den Jahren 1914-1916. Berlin, Dietz, 1963, S. 210
der Kriegskreditbewilliger Eduard David sagt dazu: „Wir fallen mit der ganzen Heeresmacht über Frankreich her und indessen wir
Belgien verwüsten, überfluten die Russen Ostpreußen. Das ist wirklich unbegreiflich und unverantwortlich“ in: Das Kriegstagebuch
des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914 bis 1918, in Verbindung mit Erich Matthias bearb. V. Susanne Miller, Droste,
Düsseldorf, 1966, S. 26
Liebknecht, Karl, Klassenkampf gegen den Krieg in Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band VIII, Dietz Verlag, Berlin, 1966, S. 46
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15
Beratung,67 mit ihr zusammen zu einer eigenständigen Agitationstätigkeit gegen den Krieg.
Liebknechts Widerstand fokussierte sich dabei in erster Linie auf den Versuch, die Annexionsbestrebungen des deutschen Reiches aufzudecken und anzuprangern um die SPD Parteispitze zu einer öffentlichen Proklamation68 dagegen zu veranlassen. Da dieses Vorhaben trotz
Zusage69 von der Parteiführung nicht umgesetzt wurden, bestärkte sich Liebknechts Eindruck
von der Irreversibilität des Umschwungs der Sozialdemokratie, weg vom traditionellen Postulat der Fundamentalopposition gegen die Reichsregierung.
Da die deutsche sozialdemokratische Presse der Fraktion der Kriegskreditgegner so gut wie
verschlossen blieb, nutzte Liebknecht eine private Reise nach Belgien,70 um gegen die öffentlich dargestellte Einmütigkeit der deutschen Sozialdemokratie im Ausland zu agitieren. Er traf
dabei in Brüssel auch den Sekretär des Internationalen Sozialistischen Bureau (ISB), Camille
Huysmann und nutze die Gelegenheit, um mit belgischen Genossen zusammen zu treffen.
Bestrebt, die zerbrochene II. Internationale wieder zu beleben, diskutierte er den Bruch der
belgischen Neutralität. Vor Ort erhielt er Informationen, die die deutsche Version des Kriegsbeginns in Frage stellten.71 Geradezu dramatisch müssen Liebknechts Eindrücke im, von
Deutschen, zerstörten Löwen gewesen sein, so dass er nach seiner Rückkehr den schwedischen Parteiführer Hjalmar Branting zu motivieren sucht, eine gemeinsame Demarche aller
neutralen Mächte an die kriegsführenden Staaten zu veranlassen. Ein Versuch von dem
Liebknecht selber meint, dass er „phantastisch“ im Sinne von illusionär ist.72
Hatten die Ereignisse um den 4. August 1914 Liebknechts Verständnis von der deutschen
Sozialdemokratie in Frage gestellt, wurde er in Belgien das erste Mal mit der unmenschlich
rohen Realität des Krieges konfrontiert. Eine Konfrontation, die für einen Menschen wie
Liebknecht, dessen bisheriges Leben ein ständiger Kampf gegen den deutschen Militarismus
gewesen ist, nicht ohne Folgen bleiben konnte. Die belgischen Ereignisse verbanden die parlamentarische Kriegskreditsdebatte mit der Realität des Krieges und sind der Anlass für
Liebknecht, den Antagonismus zwischen Fraktionsdisziplin und Antimilitarismus zu Gunsten
des Letzteren zu lösen. Ab jetzt galt für ihn eine Maxime, die seinen persönlichen Antimilitarismus über alles andere stellte und keine parteipolitischen Kompromisse mehr dulden würde.
Hatte sich Karl Liebknecht noch am 5. August 1914 aus parteipolitischen Erwägungen geweigert, einen Aufruf Rosa Luxemburgs zu unterzeichen, veröffentliche er jetzt73 zusammen
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an dieser nahmen neben Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg auch die SPD Reichstagsabgeordneten Georg Ledebour und Paul
Lensch teil. Diese lehnten aber eine Beteiligung an den Aktionen ab.
Liebknecht: „selbst die erfreulichsten Bemerkungen unserer Parteipresse gegen die Annexionspolitik können eine demonstrative
und offizielle Stellungnahme nicht ersetzen“ Liebknecht, Karl, Klassenkampf gegen den Krieg in Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band VIII, Dietz Verlag, Berlin, 1966, S. 46
s. dazu Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Karl Liebknecht Gesammelte Reden und Schriften Band VIII,
Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 46
vom 4. bis 12. September 1914 reiste Liebknecht nach Belgien um nach dem Verbleib einer Verwandten seiner russischen Frau zu
forschen
Camille Huysmann über Liebknecht: „He went away convinced that the Belgians had not organized bands of francs tireurs, that they
had not assassinated the German wounded and that the German executions in Belgium were unjustifiable“zitiert aus Helmut
Trotnow: Karl Liebknecht Eine politische Biographie, dtv, München 1982, S. 356 Anm. 40
s. dazu Helmut Trotnow: Karl Liebknecht Eine politische Biographie, dtv, München 1982, S. 190.
10. September 1914
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mit ihr, Clara Zetkin und Franz Mehring eine Erklärung74 für die sozialdemokratische Presse
des neutralen Auslandes, in der sie sich eindeutig von der Darstellung der Augustereignisse
durch Vertreter der Fraktionsmehrheit distanzierten.75
Die Ursachen der späteren Parteispaltung kamen hier offen zu Tage, traf einerseits die Antikriegspropaganda der Linken immer unversöhnlicher auf den Zweckchauvinismus der Fraktionsmehrheit und ließ die Konsequenz des Antimilitarismus den Linken immer weniger Raum
zum Einlenken, wurde andererseits auf Seiten der Fraktionsmehrheit ein Auseinanderdividieren der Partei bewusst und scheinbar teilnahmslos in Kauf genommen. So bildete die beginnende Ausgrenzung Liebknechts aus der Reichstagsfraktion ex negativo die Klammer, die den
„Noch-Zentristen“ immer intensiver mit dem linksradikalen Parteiflügel um Rosa Luxemburg
verband.
4.
„Ich habe mich eines schweren Fehlers schuldig gemacht“ - Liebknechts
Stuttgarter Bekenntnis
Im September 1914 zerplatzten alle deutschen Blitzkriegsträume. Die Schlacht an der Marne
offenbarte die krasse Fehleinschätzung der modernen Kriegssituation durch die deutsche
Heeresführung unter Helmuth von Moltke. Der Traum der Frontsoldaten, Weihnachten wieder zu Hause zu sein, wurde zur Illusion. Aus dem Bewegungskrieg wurde ein verheerender
Material- und Menschenleben verzerrender Stellungskrieg, mit tagelangen Artillerieduellen.
Der Schlieffen-Plan war entgültig gescheitert. Es begann, angefangen bei den Soldaten, eine
zögerliche Desillusionierung, die die schreckliche Realität des Krieges immer mehr in das
Blickfeld der Bevölkerung rückte.
In diesen kritischen Focus geriet Liebknecht am 21. September 1914 auf der Sitzung der sozialdemokratischen Vertrauensmänner in Stuttgart. Diese, zuerst als Mitgliederversammlung
unter dem Thema: „Gegen die Annexionshetze“ geplante Versammlung, geriet zur Abrechnung mit der SPD Reichstagsfraktion und ihrer Politik. Dabei wurde auch die, zwar oppositionell denkende, aber nicht handelnde Fraktionsminderheit nicht ausgenommen.76
Gerade von Stuttgarter Genossen, deren kritische Einstellung in der Partei bekannt und „Programm“ war, wog die Kritik besonders schwer. Nachdem Liebknecht, stellvertretend für die
SPD Reichstagsfraktion, der Verkauf und Verrat der Partei vorgeworfen wurde, entgegnete
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abgedruckt in: Autorenkollektiv: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe 2, Band 1,
1914 - 1917, 2. Auflage, Dietz Verlag, Berlin 1958, S. 31)
interessant, dass es sich hierbei um eine Reaktion auf Bekenntnisse von Dr. Südekum und Richard Fischer handelt, die sich über
eine mögliche Gefährdung der Parteieinheit durch ihre offensichtlich äußerst subjektiven Darstellungen keine Sorgen zu machen
schienen
Jacob Walcher, Teilnehmer, über die Versammlung: es sei ihnen unverständlich, warum sich Liebknecht gefügt habe und weshalb
er und die anderen nicht gegen die Kriegskredite gestimmt und so wenigstens in etwa die Ehre der deutschen Sozialdemokratie gerettet hätten. Nach ihrer Auffassung habe die Minderheit dadurch, dass sie in historischer Stunde versagte, eine schwere Schuld auf
sich geladen...“ zitiert aus Autorenkollektiv: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe 2,
Band 1, 1914 - 1917, 2. Auflage, Dietz Verlag, Berlin 1958, S. 35 Anm. 1)
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dieser, dass erste mal Vorwürfe zu bekommen, nicht „radikal und entschieden genug“77 gewesen zu sein. „Ihr habt völlig recht [...], dass ich es versäumt habe mein Nein in den Sitzungssaal hineinzuschreien...“78 erklärte er, um zu versprechen, dass er „in Zukunft einen kompromisslosen Kampf gegen den wilhelminischen Krieg und die Kaisersoldaten führen werde“.79
Dieses Bekenntnis gab Liebknecht in vollem Bewusstsein ab, sich damit grundsätzlich „in
Opposition gegen die offizielle Parteiorganisation stellen zu müssen“.80
Das erste Mal finden wir eine so eindeutig kompromisslose Selbstdarstellung von
Liebknechts Einstellung, so dass schon hier ein zukünftiger Bruch der Fraktions- und Parteidisziplin unausweichlich scheint. Wie die „eherne“ Tatsache des Krieges alltägliche Realität
geworden war, wird in Stuttgart auch die Dichotomie der Parteiausrichtung verbal und
öffentlich als unumkehrbar markiert.
Dass Liebknechts Belgische und Stuttgarter Bekenntnisse, von der Parteiführung nicht unwidersprochen bleiben würden, lag auf der Hand. Und so sah sich Liebknecht in dieser Zeit einem ständigem Rechfertigungs- und Disziplinierungsdruck von Seiten der Parteispitze ausgesetzt, der in seiner Vorladung zur Sitzung des Parteivorstandes am 2. Oktober 1914 mündete.
In dem anschließenden Briefwechsel zwischen Liebknecht und dem Parteivorstand stellen
sich die neuen Positionen Liebknechts anschaulich da. Keine Rede ist mehr von der panischen
Verwirrung während der ersten Kriegskreditabstimmung und einer daraus resultierenden irrtümlichen Entscheidung. Liebknecht schreibt: „das Märchen von feindlichen Invasionen gegen Deutschland – ´war einmal´“ „es liegt ein grober deutsch-österreichischer Präventiv- und
zugleich Eroberungskrieg vor“81 und macht deutlich, dass eine, aus seiner Sicht gebotene,
Wiederbelebung der Internationalen ein Verwerfen des Standpunktes der Fraktionsmehrheit
voraussetzt und die Partei „von der Haut bis zum Mark regeneriert werden“82 müsse.
Es wäre falsch, Liebknecht eine Radikalisierung zu unterstellen. Der hier deutlich werdende
Prozess markiert eher eine Steigerung seiner Konsequenz. Liebknecht bemerkt immer deutlicher das endgültige Abdriften der Fraktionsmehrheit von der traditionell antimilitaristischen
und fundamentaloppositionellen Parteilinie und begegnet diesem Vorgang mit immer klareren
und grundsätzlich kompromissloseren Positionen seinerseits. Diese unterscheiden sich zwar in
der Eindeutigkeit des Ausdrucks, aber nur unwesentlich inhaltlich von Liebknechts früherem
Standpunkt.
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Autorenkollektiv: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe 2, Band 1, 1914 - 1917, 2.
Auflage, Dietz Verlag, Berlin 1958, S. 35
Autorenkollektiv: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe 2, Band 1, 1914 - 1917, 2.
Auflage, Dietz Verlag, Berlin 1958, S. 35
Autorenkollektiv: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe 2, Band 1, 1914 - 1917, 2.
Auflage, Dietz Verlag, Berlin 1958, S. 35
Autorenkollektiv: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe 2, Band 1, 1914 - 1917, 2.
Auflage, Dietz Verlag, Berlin 1958, S. 35
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Karl Liebknecht Gesammelte Reden und Schriften Band VIII, Dietz
Verlag, Berlin 1966, S. 49
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Karl Liebknecht Gesammelte Reden und Schriften Band VIII, Dietz
Verlag, Berlin 1966, S. 34
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Somit war es nur folgerichtig, dass Liebknecht zusammen mit Adolf Hofer, Adolph
Hoffmann, Paul Hoffmann und Heinrich Ströbel auf der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses am 22. Oktober 1914 gegen eine inhaltlich rechtssozialistische Erklärung
stimmte und demonstrativ den Saal verließ, um damit erstmals in einem deutschen Parlament
eine - gegen die Position der Mehrheitssozialdemokratie gerichtete - Linie zu vertreten.83
5.
Die Novemberthesen - vergeblicher Versuch, Mitstreiter für ein Separatvotum zu
finden
Ein am 12. November 1914 im Vorwärts abgedruckter Artikel, in dem die Parteiführung der
Sozialdemokratie ankündigt, die zweite Kriegskreditsdebatte am 2. Dezember 1914 kurz zu
halten und auch keine umfassende Diskussion darüber in der SPD Reichstagsfraktion zu führen, führt noch am selben Tag zu einer Reaktion Liebknechts. Nachdem Liebknecht am Vortag von seinem eigenen Reichstagswahlkreis in Potsdam auf einer Mitgliederversammlung
mit 150 Teilnehmern zur Verweigerung der Kriegskredite aufgefordert worden war,84 kündigte er in einem Brief an den Vorstand der sozialdemokratischen Reichtagsfraktion seinen
„Widerstand gegen den geschilderten Plan“ an und machte damit deutlich, dass er nicht weiter
gewillt war, die kontroverse Debatte um die Bewilligung der Kriegskredite außerhalb der
Öffentlichkeit zu führen. Liebknecht war klar, dass ein eventuelles Stillschweigen der Fraktionsminderheit als Schwäche, aber auch als Billigung des aus dem Burgfrieden folgenden
Parteifriedens ausgelegt worden wäre. Gerade dieser Parteifrieden wurde von den Kriegskreditbefürwortern zur Disziplinierung der Fraktionsminderheit benutzt. Der geforderte innerparteiliche Frieden entwickelte sich zum umfassenden Maulkorb der Parteilinken und erstreckte sich über deren komplette Kommunikationsmittel, incl. der Presseorgane. Das immer
homogener werdende Bündnis zwischen Partei-, Gewerkschafts- und Militärinstanzen transformierte zum Propagandainstrument der Mehrheitssozialdemokratie mit dem Versuch, alle
Meinungsopponenten Mundtot zu machen, um das Bild der nationalen Einmütigkeit aufrecht
zu erhalten und verlor dabei Tag für Tag mehr an kritischer Distanz zur Regierung.
Mittlerweile war die sozialdemokratische Partei- und Gewerkschaftsorganisation soweit im
innerdeutschen Kriegssystem verwoben, dass eine Meinungsänderung unmöglich wurde. Somit legitimierte die ersehnte integrative Perspektive eine immer stärkere Verflechtung mit
dem früheren Klassenfeind. Da auch Liebknecht eindeutige und schlecht zu dementierende
Positionen bezogen hatte, lief alles auf eine Konfrontation zur Reichstagssitzung am 2. Dezember 1914 hinaus.
83
84
s. dazu Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Karl Liebknecht Gesammelte Reden und Schriften Band VIII,
Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 156-159
s. dazu Kruse, Wolfgang. Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses
1914/15. Klartext, Essen 1993, S. 182)
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Zur Vorbereitung der Debatte und mit der Hoffnung, weitere Kriegskreditgegner zu einem
Minderheitenvotum zu bewegen, entwarf Liebknecht die sogenannten Novemberthesen.85 In
diesen Thesen bettet Liebknecht die Entstehung des Krieges in einen umfangreichen Kontext
geschichtlicher-, politischer und besonders auch wirtschaftlicher Ereignisse und versucht,
ganz dem Geschichtsdeterminismus Marx´ verpflichtet, die Zwangsläufigkeit in der Entwicklung darzustellen. Für ihn waren das Deutsche Reich und dort besonders die Schwerindustrie und das Finanzkapital, die treibenden Kräfte des Expansionsstrebens. Dieses Expansionsstreben führe zwangsläufig zum Rüstungswettlauf, der auf seinem Höhepunkt im Krieg
ende. Weitere Ursachen sah Liebknecht in den „halbabsolutistischen“ Verfassungszustände in
Preußen, die die Entscheidungen über Krieg und Frieden undemokratisch, also ohne Einfluss
der breiten Masse, von oben herab fällten.
Auch das preußische Landjunkertum sah im Krieg, wie Liebknecht schrieb, die einzige Möglichkeit zur „Vernichtung der Arbeiterbewegung“.
Um die Argumente der Kriegskreditbefürworter zu entkräften, setzte er sich auch mit deren
Thesen auseinander. Der Kulturkriegsthese, mit der die Befürworter den Krieg rechtfertigten,
setzte er den Fakt entgegen, dass zu diesem Zeitpunkt die Hauptauseinandersetzungen zwischen Deutschland, Frankreich und England stattfänden, sich also nicht Länder unterschiedlicher, sondern gerade „gleicher“, nämlich „kapitalistischer Kultur“ gegenüberständen, wobei,
aus Liebknechts Sicht, gerade das Preußen-Deutschland, nicht prädestiniert zur Führung eines
Kulturkampfes wäre. Abschließend stellte er die Kulturkampfthese als Mittel zur „Mobilisierung der edelsten Instinkte des deutschen Volkes“ zu Kriegszwecken dar.
Hatte Liebknecht gehofft, mit diesem theoretischen Gerüst die diffuse Meinungsvielfalt im
Block der Kriegskreditgegner zu bündeln, um ein Minderheitsvotum im Parlament zu erreichen, wurde er schnell eines besseren belehrt. Bei einem Treffen in der Wohnung von Georg
Ledebour86 am 28. November 1914, genau einen Tag vor den entscheidenden Fraktionssitzungen, offenbarte sich die bunte Meinungsvielfalt und Unentschlossenheit der Anwesenden.
Ledebour lehnte die von Liebknecht vorgeschlagene Erklärung ab, bestritt den prinzipiellen
Charakter der Frage und befand sich damit im Widerspruch zu den Übrigen. Lensch hielt die
Kreditablehnung zwar für richtig, gab aber zu bedenken, dass „durch den Augustbeschluss der
Fraktion, eine bestimmte politische Situation geschaffen sei“, die man jetzt als „Grundlage
[...] nehmen“ müsse. Auch diese Position war umstritten. Die übrigen hielten zwar die Kreditablehnung für eine prinzipielle Pflicht, wollten sich aber nur ab einer Anzahl von 15 Mitstimmenden beteiligen. Daraufhin ließen alle, bis auf Henke und Liebknecht, den Plan eines
Minderheitenvotums fallen und die Sitzung nahm ein „chaotisches Ende“.
Liebknecht versuchte zwar noch während den Fraktionssitzungen der nächsten Tage Gleichgesinnte zu finden, was aber misslang. Sein „letzter Mohikaner“ war Henke, mit dem er am
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Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Karl Liebknecht Gesammelte Reden und Schriften Band VIII, Dietz
Verlag, Berlin 1966, S. 161.
anwesen waren neben Ledebour, Albrecht, Bock, Geyer, Henke, Herzfeld, Kunert, Lensch Vogtherr und Liebknecht,
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30. November „nochmals weitläufig konferierte“,87 um auch diesen letzten Mitstreiter zu verlieren. Letzte Möglichkeit Liebknechts blieb der Kampf für die Freigabe der Abstimmung
über die Kriegskredite. Ein in diesem Sinne auf der Fraktionssitzung am 30. November 1914
abgegebener Antrag wurde, nachdem Henke ihn zurückgenommen und Liebknecht ihn wieder
aufgenommen hatte, gegen sieben Stimmen abgelehnt.88
6.
2. Dezember 1914, Liebknecht stimmt mit Nein: radikale Wende oder konsequente Fortsetzung seiner Politik
„Im Dezember ging ich dann, die programmzerstörende Fraktionsdisziplin zum Teufel jagend, zur öffentlichen Ablehnung der Kredite im Plenum des Reichstages über“.89 Dieser
Ausspruch markiert, mit der dazugehörigen Reichstagsabstimmung über die Kriegskreditvorlage am 2. Dezember 1914, ein Zurückehren Liebknechts zur vollen Handlungsfähigkeit und
zur Konsequenz und Eindeutigkeit seiner politischen Vorkriegspositionen. Weder im Einklang mit der Fraktionsmeinung, noch mit dem Kalkül der Parteilinken90 stellte er sich der
Kausalität seiner eigenen Entwicklung. Das Ergebnis wurde währen der Reichstagsabstimmung fast übersehen, so dass der Reichstagspräsident seine schon verkündete Einstimmigkeit
korrigieren musste: „mit Ausnahme eines Abgeordneten“.
Damit war Liebknecht der maximalste Durchbruch, des durch den Belagerungszustand und
den Partei- und Burgfrieden verordneten Maulkorbs, gelungen. Eine symbolhaftere Handlung,
die geradezu Handlungsaufruf für alle Kriegsgegner und Kampfansage an alle Befürworter
sein musste, ist wohl nicht denkbar. Aus Belgien erklärte Camille Huysmann, der Sekretär des
Internationalen Sozialistischen Bureau (ISB), „Ihre Haltung hat in der ganzen Welt den besten
Eindruck hervorgerufen, und wir sind Ihnen ganz besonders dankbar“, der Holländer Hendrik
van Kol dankte „für diese Handlung, auf die der internationale Sozialismus stolz sein kann“
und die holländische Parteiführerin Helen Ankersmit bestimmte Liebknecht zum Hoffnungsträger von „Tausenden und Tausenden unter dem Proletariat aller Länder“.
Die Kontinuität Liebknechtscher Positionen reflektiert sich auch in der Kontinuität der von
der Parteiführung versuchten Disziplinierung, die schon, wie vor dem Krieg, einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Liebknecht aus dem Weg ging, um stur auf ihren Führungsanspruch zu pochen. Diesem unterwarf sich Liebknecht, spätestens seit dem 2. Dezember 1914
nicht mehr. Der innere Kampf zwischen Parteidisziplin und Programmtreue war entschieden.
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sämtliche Zitat zur Sitzung s. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Karl Liebknecht Gesammelte Reden
und Schriften, Band IX, Dietz Verlag, Berlin , S. 270
s. dazu Matthias, Erich und Pikart, Eberhard: Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1914 bis 1918, Hrsg. Von der
Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Erste Reihe 3/II, Droste, Düsseldorf, 1966, S. 7
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Karl Liebknecht Gesammelte Reden und Schriften, Band IX, Dietz
Verlag, Berlin , S. 268.
noch am 1.Dezember 1914 überbrachte ihm Rosa Luxemburg die Botschaft, dass Mehring und Karski von einem Separatvotum
abrieten – s. dazu Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Karl Liebknecht Gesammelte Reden und Schriften,
Band IX, Dietz Verlag, Berlin 1968, S. 267
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Das Agitationsfeld verlagerte sich jetzt, über die Köpfe der Parteiführung hinweg, immer
mehr zu den Massen, um diese über die Ursachen des Krieges aufzuklären. Gleichsam wurde
die sich auf Grund dieses Signals herausbildende breite linksradikale Opposition zur Voraussetzung der sich später herausbildenden Opposition innerhalb der Reichstagsfraktion und der
Lokalorganisationen.91
Dabei von einer radikalen Wende zu sprechen, geht allerdings an der Komplexität der Handlungen vorbei. Will man die Wende zeitlich bestimmen, so muss man natürlich zugestehen,
dass der Zeitpunkt der Erklärung keineswegs von Liebknecht bestimmt wurde, sondern er ein
vom Belagerungszustand offen gelassenes „Zeitfenster der Redefreiheit“ während der
Reichstagsdebatte, mangels Alternativen, nutzte. Auch inhaltlich wendet Liebknecht keinesfalls seine Position, sondern vertritt schon, wie auch während der Marokkokrise 191192 einen
konsequenten Antimilitarismus. Ebenso ist eine von ihm ausgehende Tendenz zur Parteispaltung nicht zu erkennen. Offensichtlich ist allerdings die kompromisslos vertretene systemintegrative Position der Parteispitze, die alle nicht meinungskonformen Positionen mit dem
Mittel der Fraktionsdisziplin aus der Öffentlichkeit hält.
Resümierend beschließt die linke Opposition ihre Positionen „mit den Führern, wenn diese
wollen, ohne die Führer, wenn sie untätig bleiben, trotz den Führern, wenn sie widerstreben“
durchzusetzen.93
Damit verschob sich die Oppositionstaktik der Gruppe um Liebknecht und Luxemburg immer
mehr, weg vom Versuch, die Fraktionsminderheit in ihrem Sinne zu verändern, zur eigenständigen, fraktionsunabhängigen Antikriegspolitik. Wenn auch über die Ablehnung der integrativen Perspektive in der Parteiopposition Konsens herrschte, vertraten sie in diesem Spektrum doch den am weitesten von der offiziellen Parteilinie entfernten Standpunkt.
7.
Die weiteren Versuche einer innerparteilichen und parlamentarischen
Oppositionsarbeit bis zur dritten Kriegskreditabstimmung am 20. März 1915
Die auf den Abstimmungseklat der Reichstagssitzung vom 2. Dezember 1914 folgende Fraktionssitzung der SPD am 2. Februar 1915, erklärte durch Zustimmung auf einen von Karl
Egon Frohme eingebrachten Antrag das Abstimmungsverhalten Liebknechts als „unvereinbar
mit den Interessen der deutschen Sozialdemokratie“ und vertagte eine endgültige Entscheidung auf einen zukünftigen Parteitag.94 Trotz der Vertagung führte diese Prozedere zur starken Abschwächung von Liebknechts Rechten als Fraktionsmitglied. So war es ihm ab jetzt
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94
s. dazu Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten
Weltkrieges. (Ullstein 3086) Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1973, S. 715.
wo er die passive Haltung des Parteivorstandes scharf kritisierte, um die Position Rosa Luxemburgs zu verteidigen
Franz Mehring in den ´Labour Leader´ Briefen in Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Karl Liebknecht
Gesammelte Reden und Schriften, Band VIII, Dietz Verlag, Berlin 1966 , S. 68
s. dazu Matthias, Erich und Pikart, Eberhard: Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1914 bis 1918, Hrsg. Von der
Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Erste Reihe 3/II, Droste, Düsseldorf, 1966, S.27.
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unmöglich, im Plenum des Reichstags für die SPD-Fraktion zu sprechen und auch die Teilnahme an interfraktionellen Gesprächen war für Liebknecht ab sofort tabu.
Die Reichsregierung reagierte noch extremer, indem sie Liebknecht am 6. Februar 1915 den
Gestellungsbefehl zustellte, ihn am 7. Februar als Armierungssoldat zum Militärdienst einzog
und ihn damit unter Militärrecht stellte, womit jede außerparlamentarische politische Betätigung unter Strafe fiel.95
In diesem Falle gehen Bemühungen der Reichsleitung offensichtlich parallel zu den Bemühungen der SPD Parteispitze, was auf ebensolche Parallelität der Ziele schließen lässt. Hand
in Hand versuchen sie die Paralysierung ihrer Meinungsgegner.
Diese Erfahrungen Liebknechts führten allerdings keinesfalls dazu, die parlamentarische Oppositionsarbeit aufzugeben, stellte diese doch auch eine der wenigen Möglichkeiten dar, den
Zwängen des Belagerungszustandes zu entgehen, denn als Mitglied des preußischen Landtags
und als Abgeordneter des Reichstags musste er für deren Sitzungen beurlaubt werden. Somit
folgte zwangsläufig eine Konzentration der Agitationstätigkeit auf diese beiden Orte, an denen Liebknecht parlamentarische Immunität und damit uneingeschränkte Rede- und Bekenntnisfreiheit genoss.
Seinen ersten parlamentarischen Auftritt nach der Dezembersitzung des Reichstags hatte
Liebknecht am 2. März 1915 im preußischen Landtag. Die dortige Sitzung, bei der es um
Verhandlungen zum Etat des preußischen Innenministers ging, wurde eine Grundsatzauseinandersetzung mit den Argumenten der SPD Parteimehrheit. Deren Hoffnung auf „Klassenharmonie“, „Einheit und Einmütigkeit des Volkes“ und auf ein „freies deutsches Volk der
Zukunft“ bezeichnete er als „Nebeldunst“ der „fortgeblasen“ ist, um der Klarheit zu weichen:
„Die kalte Wahrheit ist: In Preußen ist alles beim alten“.96
Liebknecht erkannte, dass die mit dem August 1914 einhergehenden Kriegsbegeisterung allmählich der alltäglichen Ernüchterung gewichen war, damit also die Sozialdemokratie ihrem
Ziel einer preußischen Wahlrechtsreform auch nicht näher war als vor dem Krieg.
Aus Liebknechts Sicht war der Burgfrieden für die Sozialdemokratie gescheitert, verfolgten
doch “alle anderen Klassen im Kriege und vor allem durch den Krieg ungeniert und rücksichtslos“97 ihre Interessen. Statt politischer Reformen habe der Krieg eine „politische Fried-
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Liebknecht über die Auswirkungen in einem Brief an Hugo Haase:“ Verbot der Teilnahme an Versammlungen u. Sitzungen (außer
denen des Landtags) u. das Verbot der Agitation in Wort u. Schrift (´im In- und Ausland´)sowie des Ausstoßen ´revolutionärer
Rufe´“ Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band VIII, Dietz
Verlag, Berlin, 1966, S. 193
alle Zitate Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band VIII,
Dietz Verlag, Berlin, 1966, S. 202
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band VIII, Dietz Verlag,
Berlin, 1966, S. 205
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hofsruhe“ gebracht und die „Masse des Volkes“ werde nach dem Krieg „rechtlos bleiben wie
sie es vor dem Krieg war, wenn sie sich ihr Recht nicht selber sucht“.98
Dass die bisher scheinbar einhellige Front der Kreditbefürworter durch Liebknechts Abstimmung am 2. Dezember 1914 gelitten hatte, zeigte sich auf einer Besprechung der Fraktionsminderheit kurz vor der Reichstagsabstimmung zur dritten Kriegskreditvorlage. An dieser
nahmen auch vermeintlich vormalige Kriegskreditbewilliger99 teil und es wurde über die
mögliche Verweigerung der Zustimmung debattiert. Dabei wurde Liebknecht „kategorisch“
aufgefordert sich dem Verfahren, sich bei der Budgetabstimmung aus dem Saale zu entfernen,
anzuschließen und damit der in der SPD üblichen Praxis genüge zu tun. Liebknecht lehnte
diese Taktik ab und sah in dem Hinausgehen nur eine “Demonstration der Halbheit und Fadheit“.100 Weiteres Motiv für diese Forderung an Liebknecht, sich in die Oppositionsgruppe zu
integrieren, dürfte auch der Versuch gewesen sein, Liebknechts persönliche Totalopposition
und die damit verbundene Symbolhaftigkeit seiner Aktionen, aus dem Licht der Öffentlichkeit
zu drängen.
Wie ernst es den Süddeutschen mit ihrem Bekenntnis gegen die Kriegskredite dann war zeigte
sich als diese für das Budget stimmten, nur weil Liebknecht dagegen stimmte. Trotzdem verließen zur Reichstagsabstimmung am 20. März 1915, 30 sozialdemokratische Abgeordnete
aus Protest den Plenarsaal und Otto Rühle stimmte, neben Karl Liebknecht, gegen die Kriegskredite.101 Als am 21. März 1915 die Namen der Kreditgegner im „Vorwärts“ veröffentlich
wurden, dürfte spätestens die Meinungsspaltung der Sozialdemokratie, auch für eine breite
Öffentlichkeit, offensichtlich geworden sein.
8.
Der Kampf gegen die offiziellen Parteiinstanzen wird eröffnet
Neben dem Widerstand der Opposition innerhalb der Reichstagsfraktion, verstärkte sich auch
der Kampf gegen die Parteiführung von der Basis aus. Auf einer Versammlung oppositioneller Sozialdemokraten am 9. Juni 1915 in Liebknechts Wohnung, wurde als Reaktion auf die
Kanzlerrede vom 28. Mai 1915 und die allgemeinen Annexionsproklamationen, ein Protestschreiben in Form einer „Eingabe“ an den Vorstand der Sozialdemokratischen Partei und den
Vorstand ihrer Reichstagsfraktion entworfen,102 welches zur Breitseite gegen die
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99
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101
102
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band VIII, Dietz Verlag,
Berlin, 1966, S. 208.
„süddeutsche Radikale [...] z.B. Hoffman - Kaiserslautern, Hierl“ s. dazu Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED:
Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band IX, Dietz Verlag, Berlin, 1968, S. 271
“ (Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band VIII, Dietz
Verlag, Berlin, 1966, S. 268
dieses Verhalten wurde sicherlich dadurch erleichtert, dass die Abstimmung über die Kriegskredite in die Budgetabstimmung
eingebettet war und, bis auf einige Süddeutsche Landtage, bis dato keine sozialdemokratische Fraktion ein Budget mitgetragen
hatte. Auch Otto Rühle begründet sein „nein“ auf der Fraktionssitzung der SPD am 20.März 1915 mit dieser Tatsache. s. dazu
Matthias, Erich und Pikart, Eberhard: Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1914 bis 1918, Hrsg. Von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, erste Reihe 3/II, Droste, Düsseldorf, 1966, S. 48)
beteiligt waren Liebknecht, Meyer, Ströbel, Marchlewski, H. Duncker, Mehring, Laukant, Laufenberg und Ledebour s. dazu
Autorenkollektiv: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe 2, Band 1, 1914 - 1917, 2.
Auflage, Dietz Verlag, Berlin 1958, S. 169
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sozialdemokratische Reichstagsfraktion geriet. Gleich in den ersten Zeilen wird der Parteileitung eine Politik vorgeworfen, die in Folge das Versagen der Partei in einem „unvergleichlichen geschichtlichen Augenblick“ und die immer „schroffere Abkehr von ihren bisherigen
Grundsätzen bedeutet“.103
Die Verfasser attestieren der Parteiführung, den Widerstand gegen die „imperialistische Eroberungspolitik aufgegeben“ zu haben und dies nicht „nur aus Schwäche oder Burgfriedensfreudigkeit“ sondern aus Kalkül.
Dieser Protestbrief wurde vervielfältig und mit einem Anschreiben zusammen an Partei- und
Gewerkschaftsfunktionäre versandt, verbunden mit der Aufforderung, den Brief zu unterschreiben und sich dem Protest anzuschließen. Ganz im Gegensatz zur Unterschriftenaktion
von Rosa Luxemburg vom 4. August 1914, fand diese Aufforderung breite Zustimmung und
Unterstützung und wurde dadurch zu einem weiteren Indiz dafür, wie weit sich die Stimmung
an der Parteibasis in Richtung Liebknechts Positionen verändert hat.
9. Die „kleine Anfrage“
Die parlamentarische Oppositionsarbeit Liebknechts im Reichstag gestaltete sich ungleich
schwerer als im Preußischen Landtag. Waren in der Landtagsfraktion ca. 50 Prozent der Abgeordneten den Kriegskrediten gegenüber ablehnend eingestellt, war Liebknecht in der
Reichstagsfraktion größtenteils isoliert. Um trotzdem im Reichstag die von ihm immer als
aktiv und handlungsintensiv verstandene Agitation zu leisten, instrumentalisierte Liebknecht
ein Prozedere aus der Geschäftsordnung, die „kleine Anfrage“. Ursprünglich 1912 auf Initiative der Sozialdemokratie und nach englischem Vorbild im deutschen Reichstag eingeführt,
um in kürzester Zeit Stellungnahmen der Regierung zu aktuellen Themen einzuholen, wurde
sie hier Mittel, um der Liebknechtschen Strategie eine öffentliche Stimme zu geben.
Seine erste Anfrage konzipierte Liebknecht „beim Schippen“104 an der Front und schickte sie
am 31. Juli 1915 nach Berlin und parallel dazu zur Kenntnisnahme an den Fraktionsvorstand
und an Ledebour, da er zweifelte, rechtzeitig zum Reichstagsbeginn in Berlin sein zu können.
Diese Anfrage sorgte schon in der Fraktion für erhebliche Differenzen, so dass Haase auf
Veranlassung des Parteivorstandes die Drucklegung105 aussetzte um eine Rücksprache mit
Liebknecht herbeizuführen.106 Dieser bestand aber auf unverzüglicher Bearbeitung.
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Autorenkollektiv: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe 2, Band 1, 1914 - 1917, 2.
Auflage, Dietz Verlag, Berlin 1958, S. 169
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band IX, Dietz Verlag,
Berlin, 1968, S. 279
Voraussetzung einer „kleine Anfrage“ war das vorliegen in gedruckter Form
Liebknecht hatte sich durch dieses Vorgehen einem Fraktionsbeschluss von 1912 widersetzt, der bei Bedenken seitens des
Fraktionsvorstandes eine Fraktionssitzung fordert
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Als dann am 20. August 1915, zur Reichstagssitzung, neben einer weiteren Gegenstimme
Liebknechts gegen die Kriegskredite,107 die kleine Anfrage Liebknechts, ob „bei entsprechender Bereitschaft der anderen Kriegführenden“ die Regierung bereit sei „auf Grundlage des
Verzichts auf Annexionen aller Art in sofortige Friedensverhandlungen einzutreten“ verhandelt wurde, sah sich von Jagow108 gezwungen, die Beantwortung als „zur Zeit unzweckmäßig“ abzulehnen und damit indirekt ein gegenteiliges Bekenntnis abzugeben.109
Dass darüber hinaus die deutsche Sozialdemokratie in Verlegenheit geriet, als eines ihrer bekanntesten Mitglieder öffentlich gegen die Kriegszielpolitik der Regierung im Reichstag
opponierte und damit die „Vaterlandstreue“ als eine Vorraussetzung des Burgfriedens und der
Integration in das wilhelminische Deutschland in Frage stellte, steht außer Zweifel.
Liebknecht war der personifizierte Beweis dafür, dass auch in den Reihen der Sozialdemokratie die „Vaterlandslosen Gesellen“ keinesfalls ausgestorben waren.
Die „kleinen Anfragen“ sollten das Hauptagitationsmittel Liebknechts im Reichstag werden,
mit dem es ihm gelang, trotz Wehrdienst aktive Oppositionspolitik zu betreiben.
Liebknechts Taktik, dem Reichskanzler Fragen zu stellen, die dieser unmöglich wahrheitsgemäß beantworten konnte, um dann aus der Nichtbeantwortung öffentlich Schlüsse zu ziehen,
ging auf. Der Widerstand von Regierungsseite nahm zu. Zusammen mit dem Reichskanzler
versuchte der Präsident des Reichstages, Dr. Kaempf, die Anfragenflut Liebknechts zu behindern und durch Verschleppung einzudämmen. Am 30. November 1915 ging der Reichstagspräsident soweit, eine Anfrage, entgegen der Geschäftsordnung, mit der Begründung, dass
deren „Wirkung eine schwere Schädigung der Interessen des deutschen Reiches herbeizuführen geeignet ist“,110 ganz abzulehnen.
Nun konnte der Jurist Liebknecht ausholen und warf in seiner Antwort an den Reichstagspräsidenten diesem die „Negation jedes geschriebenen und ungeschriebenen Rechts [...], die
Nichtachtung der Geschäftsordnung, den Umsturz eines prinzipalen Verfassungsgrundsatzes
[...] die Etablierung politischer Zensur“ und die „Diktatur des Präsidenten über die Abgeordneten“111 vor. Wie in die Enge getrieben musste der Reichstagspräsident sein, wenn er diesen
offensichtlichen Rechtsbruch beging.
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Liebknecht stimmte am 20. August 1915 zwar als einziger gegen die Kredite, der abwesende Otto Rühle erklärte aber später, er
hätte die Annahme auch verweigert
Staatsminister, Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Bevollmächtigter zum Bundesrat
Debatte zur kleinen Anfrage vollständig abgedruckt in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht
gesammelte Reden und Schriften, Band VIII, Dietz Verlag, Berlin, 1966, S. 297
Schreiben abgedruckt in Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften,
Band VIII, Dietz Verlag, Berlin, 1966, S. 412
vollständig abgedruckt in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften,
Band VIII, Dietz Verlag, Berlin, 1966, S. 414
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10.
Die Zimmerwalder Konferenz
Als erstes Unternehmen, „eine internationale Konferenz der oppositionellen Sozialdemokraten aus kriegführenden und neutralen Ländern zu veranstalten“,112 fand vom 5. bis 8. September 1915 die, nach ihrem Tagungsort so benannte, Zimmerwalder Konferenz statt. Die deutsche Delegation113 wurde von Ledebour und Hoffman dominiert, die beide bemüht waren, die
Stärke der deutschen Opposition hochzuspielen, um dann trotzdem alle verbindlichen Abmachungen für einen einheitlichen Widerstand gegen den Krieg abzulehnen, um sich dadurch
nicht zwangsläufig in Opposition zur offiziellen SPD-Parteilinie zu begeben. Damit befanden
sie sich in direktem Gegensatz zu Lenin, der eine Pflicht zur Kreditverweigerung festschreiben wollte. Aber auch auf Seiten der deutschen Linksradikalen unterschrieb einzig Julian
Borchart ein entsprechendes Manifest. Da Liebknecht eingezogen war, konnte er sich nur
brieflich an der Diskussion beteiligen. Unter dem Leitsatz „Burgkrieg, nicht Burgfriede!“ fordert er ein Wiedererstehen der Internationale, einen „internationalen Klassenkampf für den
Frieden, für die sozialistische Revolution“ und markiert damit seinen Standpunkt am linken
Rand der sozialdemokratischen Opposition.
11.
Die Oppositionelle Basis wird breiter - Die Dezemberabstimmung gegen die
Kriegskredite
Die Sozialdemokratie stand vor der Tatsache der schleichenden Parteispaltung und lies es
handlungslos ohne Gegenwehr geschehen. Ursächlich für das Auseinanderdividieren der Parteigruppen ist die wachsende Dominanz der Rechten, die die gespaltene Parteimeinung äußerlich einmütig erscheinen ließ.
Bei der von Eduard David vorgetragenen Begründung für die Zustimmung zur Kriegskreditvorlage im Reichstag am 20. August 1915 wurde deutlich, dass die immer zahlreichere Opposition keine öffentliche Möglichkeit der Darstellung ihrer Positionen hatte. Die Parteilinke
war durch die rechte Mehrheit in sämtlichen relevanten Gremien mundtot gemacht worden.
Selbst ein so konsequenter Anhänger der Parteidisziplin wie der Theoretiker Kautsky forderte,
der Minderheit „Ausdrucksfreiheit“ zu geben, obwohl auch er wusste, dass eine selbständige
Aktion der Minderheit zur Spaltung führen könnte und es wahrscheinlich würde. In dieser
Situation versuchte die Minderheit, über das Mittel der Interpellation, die Meinungshoheit der
Parteirechten zu durchbrechen. Liebknecht wurde von Arthur Stadthagen am 10. November
112
113
Miller, Susanne, Burgfrieden und Klassenkampf, Droste, Bonn-Bad Godesberg, 1974, S. 115
(Mitglieder u.a. Georg Ledebour, Josef Herzfeld und Ewald Vogtherr als Reichstagsabgeordnete und der Landtagsabgeordnete
Adolf Hoffmann
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1915 brieflich „dringend und nachdrücklichst“ aufgefordert „von der Stellung einer „kleinen
Anfrage“ Abstand zu nehmen“,114 um diese Aktion nicht zu gefährden.
Liebknecht hatte zu diesem Zeitpunkt das Vertrauen in die Aktionskraft der Fraktionsminderheit weitestgehend verloren, so dass er schon, wie vor dem 20. August 1915, nicht darauf einging und erklärte, dass „keine Anfrage einer Interpellation im Weg(e)“115 stehe und er sich
nicht durch die unsichere Hoffnung auf eine Interpellation hemmen lassen würde.
In der entscheidenden Fraktionssitzung vom 30. November 1915 wurde dann auch der von
Ledebour116 eingebrachter Entwurf durch einen überaus devoten Gegenentwurf von
Scheidemann, Ebert, David, Fischer und Molkenbuhr ersetzt, in dem der Reichskanzler gefragt werden soll, ob er bereit wäre „Auskunft darüber zu geben, unter welchen Bedingungen
er zu Friedensverhandlungen bereit“117 sei.
Dass dieser Entwurf dann trotzdem, teilweise auch von der Minderheit, unterstütz wurde, beruht auf der Hoffnung, bei der Plenumsdiskussion im Reichstag auch Minderheitsstandpunkte
vertreten zu können.
Das wurde allerdings am 9. Dezember 1915 von der Fraktionsmehrheit im Reichstag erfolgreich verhindert.
Als dann noch der Abgeordnete Landsberg, dem Reichskanzler „Bereitschaft zum Abschluss
eines ehrenvollen Friedens“ attestierte, wurde dieses Vorgehen von der Fraktionsminderheit
wie ein „Messerstich in den Rücken der Fraktion“118 empfunden. In der, auf Grund dieses
Eklats von der Parteiminderheit verfassten und als Flugblatt verbreitetet Erklärung, findet sich
dann auch der Beginn eines eigenständigen Auftretens der Parteiminderheit.
Nächste Gelegenheit bot die Reichstagssitzung zur Kriegskreditvorlage am 21. Dezember
1915. Eine einheitliche Abstimmung der Fraktion war nicht mehr möglich. Neben der von
Ebert begründeten Bewilligung der Kredite, erklärte Friedrich Geyer für zwanzig Abgeordnete deren Ablehnung.119 Parallel dazu erklärten Haase und Hoch ihr Ausscheiden aus dem
Fraktionsvorstand. Nun war der Durchbruch, der gleichzeitig die Dichotomie der deutschen
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Brief vollständig abgedruckt in: Wohlgemuth, Heinz: Burgkrieg, nicht Burgfriede! Der Kampf Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs
und ihrer Anhänger um die Rettung der deutschen Nation in den Jahren 1914-1916. Berlin, Dietz, 1963, S. 273
Brief Liebknechts an Wilhelm Dittmann vom 11.November 1914 abgedruckt in Wohlgemuth, Heinz: Burgkrieg, nicht Burgfriede!
Der Kampf Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs und ihrer Anhänger um die Rettung der deutschen Nation in den Jahren 19141916. Berlin, Dietz, 1963, S.275
im Inhalt mit der kleinen Anfrage von Liebknecht am 20. August 1915 fast identisch: „Ist der Herr Reichskanzler zu sofortigen
Friedensverhandlungen, auf Grundlage des Verzichts auf Annexionen jeder Art, durch alle kriegführenden Staaten bereit?“ s. dazu
Matthias, Erich und Pikart, Eberhard: Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1914 bis 1918, erste Reihe 3/II, Hrsg.
Von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Droste, Düsseldorf, 1966, S. 87
s. dazu Matthias, Erich und Pikart, Eberhard: Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1914 bis 1918, erste Reihe
3/II, Hrsg. Von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Droste, Düsseldorf, 1966, S. 87
zitiert aus Miller, Susanne: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg. Hrsg. Von der
Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Droste 1974, S. 122
diese Erklärung wurde gemeinsam von Haase, Ledebour und Liebknecht ausgearbeitet
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Sozialdemokratie bestätigte, geschafft. Die Fraktionsminderheit hatte sich auf breiter Basis120
der Parteidisziplin widersetzt und ein Minderheitsvotum abgegeben.
Liebknecht hatte sich dann auch allen Erklärungen angeschlossen, jedoch nicht auf das Stellen zweier „kleiner Anfragen“ verzichtet, so dass ihm vor der Reichstagssitzung von der
Fraktionsminderheit ein Ultimatum zu deren Rückziehung gestellt wurde. Liebknecht zeigt
als Reaktion eine für ihn untypische Kompromissbereitschaft, als er beide Anfragen verschob,
dann aber an allen weiteren Sitzungen der Opposition nicht mehr teilnahm. Der als Konsequenz auf das geforderte Ultimatum angekündigte Ausschluss von der gemeinsamen Erklärung, blieb dann, zum großen Erstaunen Liebknechts, der von der endgültigen Fassung gar
keine Kenntnis hatte, aus.
Ganz deutlich zeigen sich hier die Widersprüche zwischen der zukünftigen Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft und Karl Liebknecht. Liebknecht, der die gesamte Zeit seit
Kriegsausbruch innerhalb des Reichstages allein gekämpft hatte, war nicht mehr bereit, seine
Ziele innerhalb der Reichstagsfraktion zur Diskussion zu stellen. Seine politische Heimat
hatte er mittlerweile innerhalb der radikalen Parteilinken um Rosa Luxemburg und Franz
Mehring gefunden. Aus deren Sicht war die Parteispaltung schon lange Realität und es ging
darum, die Opposition unter Führung der Parteilinken zu vereinigen. Wenn auch Liebknechts
persönliche Überzeugung nicht mit dem Fundamentalmarxismus Luxemburgs gemein gesetzt
werden kann, fand er ausschließlich dort die in ihren Zielsetzungen, nämlich gegen Kriegskredite und gegen den Burgfrieden, am meisten mit ihm korrespondierende Plattform. Diese
Plattform hatte, als „Gruppe Internationale“, schon seit März 1915 eine eigenständige außerparlamentarische Oppositionsarbeit betrieben.
Seit dem einmaligen Erscheinen der Zeitschrift „Internationale“ am 15. April 1915, war auch
die Grenzlinie zwischen den Linken und den Zentristen gezogen. Die scharfe Polemik
Luxemburgs gegen den zentristischen Wortführer Kautsky ließ ein Zusammengehen immer
unwahrscheinlicher werden. Auch die unterschiedlichen Ansichten innerhalb der deutschen
Delegation auf der Zimmerwalder Konferenz zeigten offen die grundsätzlich anderen Ansichten der einzelnen Gruppierungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie.
Damit waren auch für Liebknecht die Brücken abgebrochen. Er war sicherlich bereit, alle Aktionen zu unterstützen, die in der Zielsetzung mit seinen Zielen harmonierten, aber sich wieder den Gruppennormen der Fraktionsminderheit zu unterwerfen kam für den, das Außenseiterdasein im Reichstag gewöhnten, Karl Liebknecht nicht mehr in Frage. Sein Verständnis
von politischer Taktik war der Vorgehensweise der Fraktionsminderheit mittlerweile entfremdet. Liebknecht hat aus seinen eigenen politischen Erfahrungen gelernt, dass die Ziele die
er vertrat, nicht ausschließlich auf parlamentarischem Parket durchzusetzen waren, und auch
der deutschen Sozialdemokratie war es ja offensichtlich nicht gelungen, innerhalb der
deutschen Parlamente wirklich effektiv zu agieren und ihren Zielen näher zu kommen. So
120
neben Karl Liebknecht und Otto Rühle stimmten noch 18 weitere Abgeordnete gegen die Kriegskredite
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bestärkten ihn sicherlich die Aktionen der Fraktionsminderheit, aber zu einer Zusammenarbeit
sollte es121 nicht kommen. Weder die abwartenden vorsichtigen Reaktionen Ledebours auf der
Zimmerwalder Konferenz, noch die in der Fraktionsminderheit immer noch vorhandene Akzeptanz der Vaterlandsverteidigung, ließen Liebknecht auf eine konsequente antimilitaristische Agitation hoffen. Liebknecht hatte, sicherlich durch die im Oppositionskampf gemachten
Erfahrungen, nicht mehr die Kompromissfähigkeit und Toleranz, die notwendig gewesen wären, sich in eine so inhomogene Gruppe, wie sie die Fraktionsminderheit offensichtlich war,
integrieren zu können.
12
„Nieder mit dem Krieg, Nieder mit der Regierung“ – über den Spartakusbund
zur Maidemonstration
Zur Jahreswende 1915-1916, stellt sich die deutsche Sozialdemokratie dreigeteilt dar. Man
findet zwei grundsätzliche Tendenzen, einerseits die der Fraktionsmehrheit um David, die
immer noch und immer konsequenter die systemintegrative Linie vertrat und damit für Burgund Parteifrieden und für die Bewilligung der Kriegskredite stand. Dieser Gruppe unversöhnlich gegenüber stand die Gruppe Internationale um Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Karl
Liebknecht, die keinen Schritt abgewichen war von ihrer fundamentalen Systemopposition
und ihrem konsequenten Antimilitarismus, ideologisch, bis auf Liebknecht, auf Linie des orthodoxen Marxismus, stellte sie die radikale Linke der Partei. Dazwischen das „Häuflein“122
der 18 Kriegskreditverweigerer um Hugo Haase und Georg Ledebour, vom 21. Dezember
1915. Diese stimmten zwar gegen den Krieg, begründeten dies aber nicht grundsätzlich, sondern leiteten ihren Widerstand aus der momentanen Kriegslage her – verabschiedeten sich
also nicht vollständig von der Politik des 4. August 1914.
Für Liebknecht fand sich eine politische Heimat nur in der Gruppe Internationale, deren charismatischer und symbolischer Führer er, nach Rosa Luxemburgs Verhaftung am 18. Februar
1915, geworden war. Dass es trotzdem grundsätzliche Unterschiede in der Einschätzung der
politischen Taktik und Theorie zwischen Liebknecht und Luxemburg gab, verhinderte eine
Zusammenarbeit nicht.
Charakteristische für diese Gegensätze ist die Diskussion um die „Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie“, die später grundlegend für das Programm des
Spartakusbundes werden sollten. Entstanden, als Extrakt der von Rosa Luxemburg im Frühjahr 1915 in Haft verfassten „Junius-Broschüre“ und wohl für die Zimmerwalder Konferenz
121
122
übrigens auch von Seiten der Fraktionsminderheit, die Liebknecht auf Grund seiner „kleinen Anfragen“ ausschloss. Liebknecht
dazu: „So begann die Arbeitsgemeinschaft schon als Fötus zu – exkommunizieren“ Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der
SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band IX, Dietz Verlag, Berlin, 1968, S. 274
Liebknecht später in der ersten Ausgabe der Spartakusbriefe: „Häuflein“ [...] Wer sind sie? Wenige Vertreter des grundsätzlichen
Internationalismus, die die Verwirrungsphrase von der Vaterlandsverteidigung schlechthin ablehnen, neben allerhand Eroberungsgegnern, die dieser Phrase anhängen, die bei jeder Gelegenheit ihr ´wahrhaft patriotisches´ Herz öffentlich ausstellen, aber[...] das
Haar der Annexionspolitik in der Suppe der imperialistischen ´Vaterlandsverteidigung´ entdeckt haben[...] Auch Verfechter des
Vergeltungsprinzips“ zitiert aus Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Spartakusbriefe, Dietz Verlag, Berlin, 1958
S. 86-87
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geplant, wurden Sie schnell zur programmatischen Diskussionsgrundlage der Gruppe „Internationale“. Luxemburg verlangte, sicherlich von der Leninschen Bolschewiki inspiriert, für
eine neu zu gründende Internationale eine straffere und zentralistische Organisation, die ihre
Beschlüsse mit strikter Disziplin bis zu den nationalen Sektionen durchsetzen kann.
Dass dieser Punkt Liebknechts Protest hervorrief war nicht verwunderlich, sah Liebknecht die
Internationale doch nicht als theoretisches Konstrukt, sondern als Ergebnis der Emanzipation
der Massen und des Proletariats. Die internationalen Massen waren für Liebknecht die Verkörperung der Internationale, wenn sie dafür weit genug emanzipiert wären, wobei ihnen in
diesem Prozess die aktive Rolle zustehe. Aus seiner Sicht sah Luxemburg „die Massen zu
sehr als Werkzeug, nicht als Träger des Willens [...], als Werkzeug der von der Internationalen gewollten und beschlossenen Tat, nicht als Selbst-Woller“. Für Liebknecht beinhalteten
Luxemburgs Vorschläge „zuviel Disziplin und zuwenig Spontanität“123 Im Gegensatz zu
Luxemburg, die nichts überstürzen wollte, bestand Liebknecht auf ständigen Aktionen und
sah die Antikriegspolitik im Mittelpunkt der zuerst erforderlichen Handlungen. Er verstand
den herrschenden Krieg und den Kampf gegen diesen als Chance, da dieser zur „Verschärfung der Klassengegensätze“ führe und durch „Aufpeitschung der Massen“ dem „revolutionären Klassenkampf gegen den Imperialismus in allen Sphären der inneren und äußeren Politik
neuen gewaltigen Antrieb“ verschaffe. Diesen Antrieb „unermüdlich und rücksichtslos [...]
während des Kriegs und nach dem Krieg“ auszunützen, sei „Aufgabe der sozialistischen Partei“.124
Wiederum offenbart sich hier, dass Liebknecht nicht weit von seiner „Ur-Sozialdemokratischen“ und humanistischen Linie entfernt war. Eine der wenigen Konstanten in dieser Zeit
waren der Liebknechtsche Antimilitarismus und sein Verständnis von der Emanzipation der
Massen, über deren Kopf hinweg man keine Revolution machen könne, deren Mobilisierung
während des Krieges man aber in revolutionäre Bahnen lenken müsse. Dass er sich trotzdem
im Kreise der Gruppe Internationale bewegte und dort auch seine politische Heimat sah, hat
seine Ursachen u.a. in der Bewunderung die er Rosa Luxemburg gegenüber empfand. Bei ihr
gab es aus Liebknechts Sicht, und im Gegensatz zu beispielsweise Kautsky, keinen Unterschied zwischen Wort und Tat. Gerade diese Eigenschaft der Mitglieder der Gruppe Internationale mag Liebknecht beeindruckt haben, hatten diese doch konsequent und kompromisslos
eine außerordentlich unpopuläre Position vertreten. Und diese unpopuläre Position, nämlich
der kompromisslose Kampf gegen den Krieg, bildete die Klammer der Gruppe Internationale
mit Liebknecht.
Nach der erfolgreichen Juniaktion gingen die Überlegungen der Gruppe Internationale in die
Richtung, eine schlagkräftige Parteiopposition aufzubauen und in ihr nicht „etwa die ganze
Opposition unter einen Hut zu bringen, sondern umgekehrt aus diesem Brei den kleinen und
123
124
s. dazu Änderungsvorschläge Karl Liebknechts zu dem Entwurf der Leitsätze in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der
SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band VIII, Dietz Verlag, Berlin, 1966, S. 19 S. 383-400
s. dazu Wohlgemuth, Heinz: Burgkrieg, nicht Burgfriede! Der Kampf Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs und ihrer Anhänger um
die Rettung der deutschen Nation in den Jahren 1914-1916. Berlin, Dietz, 1963, S. 161-162
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festen Kern herauszuschälen, den wir um unsere Plattform gruppieren können“125. Die Situation Deutschlands im Krieg schien für einen solchen Versuch der verstärkten Agitation, günstig zu sein, war es doch Deutschland nicht gelungen wesentliche strategische Siege zu erreichen. Die riesigen Verluste an Menschen und Material hatten gravierende Auswirkungen auf
das Leben innerhalb Deutschlands. So ging beispielsweise die landwirtschaftliche Produktion,
auf Grund des Mangels an Arbeitskräften und Düngemittel, kontinuierlich zurück, womit sich
auch die Ernährungslage der Bevölkerung permanent verschlechterte. Die hoffnungslose Lage
beförderte die Kriegsmüdigkeit der Massen und die Gruppierungen der Kriegsgegner gewannen an Einfluss.
Liebknechts Status als Armierungssoldat ließ nur geheime Treffen zu, so dass die später, als
1. Reichskonferenz der Gruppe Internationale, bekannt gewordene Versammlung unter streng
konspirativen Bedingungen am 1. Januar 1916 in Liebknechts Berliner Rechtsanwaltskanzlei
stattfand. Über den Ablauf ist in den Quellen wenig zu finden, als sicher gilt aber, dass
Liebknecht mit einem Referat zur innenpolitischen Situation im allgemeinen und zur Situation innerhalb der SPD im besonderen begann, gefolgt von einer Bestandsaufnahme der außerparlamentarischen Oppositionsarbeit126. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch die Herausgabe
„Politischer Briefe“127 beschlossen. Deren erste Nummer erschien am 27. Januar 1916 und
war mit „Spartakus“ unterzeichnet. Mit dieser Publikationsschrift schuf sich die, in der Spartakusgruppe vereinigte Linke, ein eigenständiges von der offiziellen Parteipresse unabhängiges Kommunikationsmittel zur Parteibasis.
Einen bedeutenden Platz dürfte die Diskussion über Rosa Luxemburgs „Leitsätze“ innegehabt
haben, denen Liebknecht zwar nicht unbedingt in ganzem Umfang zustimmte, hinter die er
sich aber stellte. Aber andere Oppositionelle, wie die Vertreter aus Bremen, Chemnitz und
Hamburg, verweigerten die Zustimmung zu den Leitsätzen. So wurden die luxemburgschen
Leitsätze zwar programmatischer Grundstock der Gruppe Internationale, aber gleichzeitig
auch Abgrenzungsinstrument zur weiteren Opposition. Liebknecht unterstützte diese Distanzierung und behielt trotzdem seine eigenen taktischen und theoretischen Grundsätze bei, auch
wenn sie nicht der Mehrheitsmeinung der Gruppe Internationale entsprachen. Dies wird besonders im Eröffnungsreferat zur zweiten Reichskonferenz der Spartakusgruppe, die am 19.
März 1916 in Berlin stattfand, deutlich. Mit keiner Silbe vertrat er die These Luxemburgs, die
proletarischen Massen in Autoritätsglauben zu versetzen, um sie von oben zu führen. Seine
Maxime war es, dass „jeder einzelne selbst denkt, selbst überlegt und selbst handelt aus eigenem Entschluss“.128 Für ihn waren die Massen immer Subjekt der Handlung, die man nur zu
emanzipieren, also aufzuklären brauche, um sie zum bewussten Klassenkampf zu bewegen,
125
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127
128
Rosa Luxemburg zitiert aus Wohlgemuth, Heinz: Burgkrieg, nicht Burgfriede! Der Kampf Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs und
ihrer Anhänger um die Rettung der deutschen Nation in den Jahren 1914-1916. Berlin, Dietz, 1963, S. 168
anwesend waren Vertreter aus ganz Deutschland: u.a. Franz Mehring, Ernst Meyer, Käte Duncker, Hugo Eberlein, Wilhelm Pieck
[alle Berlin],Johann Knief [Bremen], Rudolf Lindau[Hamburg], Karl Minster [Duisburg], Fritz Rück [Stuttgart], Otto Rühle
[Dresden], Georg Schumann [Leipzig], August Thalheimer [Braunschweig], Berta Thalheimer [Stuttgart-Bad Canstatt], Heinrich
Brandler [Chemnitz]
s. dazu Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Spartakusbriefe, Dietz Verlag, Berlin, 1958 S. XVII
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band VIII, Dietz Verlag,
Berlin, 1966,S. 548
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denn „das Ziel der gesamten Propaganda muss sein, die Vorraussetzungen für revolutionäre
Massenaktionen großen Stils zu entwickeln. Massenaktionen, wo sie entstehen, mit politischem Inhalt und Ziel zu erfüllen, voranzutreiben und zu bewussten Auseinandersetzungen
mit dem Krieg und der kapitalistischen Klassenherrschaft zu gestalten“.129 Eine Forderung,
wie sie sozialdemokratischer nicht sein könnte. Eine Forderung. die vor dem August 1914
sicherlich hundertprozentige Zustimmung der Reichstagsfraktion der SPD gefunden hätte.
Hier zeigt sich, wessen Geistes Kind Liebknecht gewesen ist und war, nämlich seine tiefe
Verwurzelung in der traditionellen Sozialdemokratie.
13
Entweder - oder? – die Gretchenfrage der deutschen Sozialdemokratie
Im Frühjahr 1916 waren die Fronten innerhalb der Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie geklärt und durch den Fraktionsausschluss von Karl Liebknecht am 12. Januar
1916 bestätigt und manifestiert. Liebknecht wirft auf der betreffenden Fraktionssitzung seiner
Partei nicht so sehr die Zustimmung zu den Kriegskrediten, sondern ihre gesamte Politik vor,
die sich für ihn besonders in der „Innehaltung des Burgfriedens“ zeigt. Er warf der Fraktionsmehrheit Verstöße gegen „Grundsätze des Sozialismus“ und der Sozialdemokratie vor und
erklärt definitiv, dass er sich den Beschlüssen der Fraktion stets fügen werde, wenn sie im
Einklang mit den Grundsätzen der Partei stehen, er sich ihnen aber stets widersetzen werde,
wenn sie einen „Verrat bedeuten“ an „den Interessen der Partei und des Proletariats“.130
Zwischen den Zeilen erkennt man deutlich Liebknechts Position als Vertreter der „ursprünglichen“ sozialdemokratischen Ideen, wie auf dem Erfurter Parteitag der SPD formuliert, während sich die Fraktionsmehrheit schon lange auf dem Weg in den realen bürgerlichen Parlamentarismus gemacht hatte. Aus Liebknechts Sicht war auch die inkonsequente Politik der
Fraktionsminderheit eher dazu geeignet, die Arbeiterschaft zu verwirren, solange sie sich
nicht in ihrer „weiteren Politik“ zur „Aufnahme des Klassenkampfes“ und zur „grundsätzlichen Zerstörung des parlamentarischen Burgfriedens“131 bekenne.
Liebknecht forderte nicht mehr die Einheit der Arbeiterbewegung, sondern ein klares Bekenntnis pro oder contra Burgfrieden. Rosa Luxemburg brachte es in einer Broschüre auf den
Satz: „Entweder – oder“132 und stellte damit die „Gretchenfrage der sozialdemokratischen
Kriegspolitik“133 in nicht mehr zu übertreffender Klarheit. Somit war eine Zusammenarbeit
mit weiteren Oppositionellen des zentristischen Lagers um Ledebour nicht mehr möglich und
wurde von diesen auch aufgekündigt, was zu einer organisatorischen Spaltung - auch der Op129
130
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132
133
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und Schriften, Band VIII, Dietz Verlag,
Berlin, 1966S. 552
s. dazu das Sitzungsprotokoll in: Matthias, Erich und Pikart, Eberhard: Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1914
bis 1918, Hrsg. Von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Erste Reihe 3/II, Droste,
Düsseldorf, 1966, S. 153-155
s. dazu: politische Briefe, Die Dezembermänner von 1915 in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Spartakusbriefe, Dietz Verlag, Berlin, 1958, S. 86-92
Rosa Luxemburg: „Entweder- oder“ Illegale Broschüre des Spartakusbundes, April 1916
s. dazu: Kruse, Wolfgang. Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses
1914/15. Klartext, Essen 1993, S. 225
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position - führte, die, von Berlin ausgehend, sich in ganz Deutschland fortsetzte. Die Gruppe
Internationale und Karl Liebknecht führten ihre Hauptagitation nun außerhalb der Parlamente
über illegale Broschüren und Flugblätter. Innenpolitisch immer mit dem Ziel, ihren Einfluss
auf die Basis der Arbeiterbewegung zu erhöhen und außenpolitisch die von Rosa Luxemburg
geforderte neue Internationale zu errichten.
Obwohl der innerparlamentarische Gegenwind für Liebknecht immer stärker wurde, einmal
aus der sozialdemokratischen Fraktion heraus, die ihn aller Rechte eine Fraktionsmitgliedes
enthoben hatte und andererseits von Seiten der anderen Parteien, die es durchsetzten, dass
Karl Liebknecht im Reichstag das Anfragerecht entzogen wurde, stimmte er am 24. März
1916 zusammen mit Otto Rühle und weiteren 18 sozialdemokratische Abgeordnete im
Reichstag gegen den Notetat. Das führte zum umgehenden Ausschluss dieser 18 Abgeordneten134 aus der sozialdemokratischen Fraktion und in Folge zur Bildung der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft (SAG).
Zwei Tage zuvor hatte Liebknecht in einer Reichstagsdebatte zum Kultusetat eine seiner
emotionalsten Reden gehalten, die einen tiefen Einblick in seine Motivation zulässt. Ruhig
und optimistisch formuliert er, fast poetisch: „wenn ich an das Proletariat denke, an die Millionen der ins Dunkel Verdammten, so sage ich allerdings: hier gilt das Wort des Dichters135
nicht; nur die eigene Kraft, kein Wunder und keine Segnungen von oben kann das Proletariat
in das schöne Wunderland tragen“.136 Liebknecht leitet sein Engagement für die
Arbeiterbewegung, im Unterschied zu Rosa Luxemburg, die ganz marxistische Theoretikerin
ist, aus einem tiefen Humanismus her, der oft aus dem Bauch zu kommen scheint.
Liebknecht war zu dem Symbol der Kriegsgegner in Deutschland geworden. Sein Auftreten
im Reichstag führte zu dieser Zeit mindesten zu Zwischenrufen, die sich aber auch, wie am 8.
April 1916 geschehen, zu tumultartigen Szenen ausweiten konnten. Liebknechts dortiges
Referat, in dem er Kriegsanleihen als Betrug am Volk darstellte, führte neben stürmischen
Rufen, die ihn persönlich angriffen und diffamierten, wie „Irrenhaus!“ und „Das ist kein
Deutscher!“ auch zu körperlichen Angriffen, bei denen ihm die Redeprotokolle entrissen und
in den Saal geworfen wurden. Um die Ausführungen Liebknechts zu beenden, blieb dem
Reichstagspräsidenten keine andere Möglichkeit als, wie vom Abgeordneten Junck gefordert,
„das Vaterland“ über die Geschäftsordnung zu stellen und Liebknecht das Wort zu entziehen.137
Die grundsätzliche Trennung der Opposition in den linken Flügel (Gruppe Internationale) und
die zentristische SAG war in der Öffentlichkeit nicht offensichtlich. Unter den einschränkenden Bedingungen des Belagerungszustandes drangen symbolhafte Aktionen wie das Separat-
134
135
136
137
Otto Rühle war aus Solidarität mit Liebknecht schon früher von selbst ausgetreten
Liebknecht hatte vorher Schiller: ´Nur ein Wunder kann dich tragen in das schöne Wunderland´ zitiert
Rede vollständig abgedruckt in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte Reden und
Schriften, Band VIII, Dietz Verlag, Berlin, 1966, S. 521-546, s. S. 543
s. dazu ´Aus dem elendsten der Parlamente´ in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Karl Liebknecht gesammelte
Reden und Schriften, Band VIII, Dietz Verlag, Berlin, 1966, S. 600
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votum der 18 Abgeordneten um Ledebour noch am ehesten in das Bewusstsein der Bevölkerung, so dass das Bild einer relativ undifferenzierten Kriegsgegnerschaft entstand.
Liebknecht Vorstellungen über den weiteren Kriegswiderstand unterschieden sich aber grundsätzlich von denen der SAG. So lehnte er jetzt die Pflicht zur Vaterlandsverteidigung für diesen Krieg konsequent ab und forderte in seiner Antwort auf die Frage von Haase, welches
Aktionsprogramm er denn von der Fraktion erwarte: „Veranstaltung von Straßendemonstrationen für sofortigen Frieden“, darüber hinaus Hungerrevolten und Arrangierung von Proteststreiks zur Schwächung der Regierung.138 In einem Flugblatt bekennt sich die „Gruppe
Liebknecht“ zur „strengste[n] Grundsätzlichkeit der Auffassung[en], unerbittliche[r] Austragung aller Differenzen, konsequentester Anwendung des Marxismus, Erziehung zu revolutionärer Aktionsbereitschaft, schärfste[n] Form des Klassenkampfes, [zu] Massenaktionen [und]
wirkliche[r] Internationalität“.
Aus diesem Anspruch heraus wurden die Demonstrationen zum 1. Mai 1916 in Deutschland
organisiert. Aus dem Text des, von Liebknecht während der Jenaer Jugendkonferenz, ausgearbeiteten Flugblattes139 zu diesem Anlass, lässt sich unschwer interpretieren, dass Liebknecht
eine Initialisierung der Massen erwartete.140
Zumindestens in Berlin traf dieser Aufruf auf offene Ohren. Da die offiziellen Maifeierlichkeiten während des Krieges verboten waren, geschah die Vorbereitung im Geheimen. Ein
neben dem Flugplatt verteilter Handzettel141 mobilisierte weitere Arbeiter. Auch wenn die
Berichte über die Anzahl der Demonstranten stark schwanken142 ist von einer großen Resonanz auszugehen. Der Spartakusbrief vom 15. Mai 1916 berichtet, dass schon um 7.00 Uhr
der Potsdamer Platz in Berlin und seine Zugänge mit Schutzleuten zu Fuß und zu Pferde überfüllt waren. Als Liebknecht dann in die sowieso schon nervöse Menge rief: „Nieder mit dem
Krieg! Nieder mit der Regierung!“ war seine umgehende Verhaftung zwangsläufig.
Anhang: Literaturliste
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140
141
142
Abendroth, Wolfgang:
Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie.
Das Problem der Zweckentfremdung einer politischen Partei
durch die Anpassungstendenz von Institutionen an vorgegebene. Machtverhältnisse,
Frankfurt a.M. 1964: Stimme-Verlag
Autorenkollektiv:
Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen
Arbeiterbewegung, Reihe 2, Band 1, 1914 - 1917, 2. Auflage,
s. dazu Heinz Wohlgemuth: Karl Liebknecht, Dietz Verlag, Berlin 1975, S. 323
„Fort mit dem ruchlosen Verbrechen des Völkermordes! Nieder mit seinen verantwortlichen Macher, Hetzern und Nutznießern!
Unsere Feinde [...] das sind deutsche Junker, deutsche Kapitalisten und ihr geschäftsführender Ausschuss: die deutsche Regierung!“
zitiert aus Heinz Wohlgemuth: Karl Liebknecht, Dietz Verlag, Berlin 1975, S. 329
ganz im Gegensatz zur SAG die eine Beteiligung ablehnte weil unter den Massen keine Stimmung für eine Demonstration am 1.Mai
vorhanden sei)
Text: Zum 1. Mai, abends 8 Uhr, Wer gegen den Krieg ist, erscheint am 1. Mai abends acht Uhr Potsdamer Platz (Berlin), Brot!
Freiheit! Frieden!
während Liebknecht von wenigstens 10.000 Menschen ausging, sprach die Polizei von einigen Hundert
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35
Dietz Verlag, Berlin 1958
Brandt, Peter:
Die SPD und der Erste Weltkrieg, in:
Wolfgang Piereth (hrsg.) Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte, Verlag C.H. Beck, München 1997
Brunner, Otto u.a.:
Geschichtliche Grundbegriffe Band 2,
Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in
Deutschland, Klett Verlag, Stuttgart, 1975
Chickering, Roger:
Das Deutsche Reich und der erste Weltkrieg,
C. H. Beck, München, 2002
Fricke, Dieter:
Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung
1869-1917 in 2 Bdn., Dietz Verlag Berlin, 1987
Geiss, I.:
Julikrise und Kriegsausbruch 1914. Eine Dokumentation,
Hannover, 1963/64
Groh, Dieter:
Negative Integration und revolutionärer Attentismus.
Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten
Weltkrieges. (Ullstein 3086) Frankfurt/M., Berlin, Wien:
Ullstein 1973
Grünebaum, S.,
„Ludwig Frank: Ein Beitrag zur Entwicklung der deutschen
Sozialdemokratie“, Bd. I,
Stuttgart 1947
Haffner, Sebastian:
Der Verrat, Verlag 1900, Berlin, 1995
Haussmann, Conrad:
Schlaglichter. Reichstagsbriefe und Aufzeichnungen,
hg. V. u: Zeller, Frankfurt 1924
Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der
SED
Karl Liebknecht Gesammelte Reden und Schriften,
Dietz Verlag, Berlin 1958-1968
Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der
SED
Spartakusbriefe,
Dietz Verlag, Berlin, 1958
Kruse, Wolfgang.
Krieg und nationale Integration.
Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Klartext, Essen 1993
Kruse, Wolfgang:
Sozialismus, Antikriegsbewegungen, Revolutionen in:
Eine Welt von Feinden, Der große Krieg 1914-1918,
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2000
Kuczynski, J.:
Der Ausbruch des ersten Weltkrieges u. die deutsche
Sozialdemokratie.
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36
Chronik u. Analyse. Berlin,
Akad.-Verlag., 1957. (Schr. d. Inst. f. Gesch. d. DAdW zu
Bln.)
Matthias, Erich und
Pikart, Eberhard:
Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie
1914 bis 1918, Hrsg. Von der Kommission für Geschichte des
Parlamentarismus und der politischen Parteien, Droste,
Düsseldorf, 1966
Miller, Susanne:
Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie
im Ersten Weltkrieg.
Hrsg. Von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien,
Droste 1974
Miller, Susanne:
Zum 3. August 1914, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Archiv für Sozialgeschichte IV. Band, Verlag für Literatur und
Zeitgeschehen, Hannover, 1964
Miller, Susanne ,
Erich Matthias: Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914 bis 1918, Droste, Düsseldorf, 1966
Mühlhausen, Walter
Die Sozialdemokratie am Scheideweg - Burgfrieden, Parteikrise
und Spaltung im Ersten Weltkrieg, in: Michalka, Wolfgang
(Hrsg.), „Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse;“ München-Zürich 1994 (Piper Verlag)
Rintelen, Karlludwig:
Links blinken und rechts abbiegen, in: Zwecklegenden Die SPD
und das Scheitern der Arbeiterbewegung,
Verlag 1900, Berlin, 1996
Rosenberg, Arthur:
Entstehung der Weimarer Republik, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1977
Schorske, Carl E.:
German Social Democracy 1905-1917. The Development of the
Great Schism
Harvard Historical Studies, Harvard 1955
Schramm, Gottfried:
1914 Sozialdemokratie am Scheideweg in: Stern, Carola,
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Karl Liebknecht
Eine politische Biographie, dtv, München 1982
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Burgkrieg, nicht Burgfriede! Der Kampf Karl Liebknechts,
Rosa Luxemburgs und ihrer Anhänger um die Rettung der deutschen Nation in den Jahren 1914-1916.
Berlin, Dietz, 1963
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