Uwe Schweikert Marie Luise Kaschnitz: Vogel Rock Reclam Marie Luise Kaschnitz: Vogel Rock Von Uwe Schweikert »Unheimliche Geschichten« sucht man zunächst nicht bei Marie Luise Kaschnitz. Und doch hat sie gerade diese Bezeichnung als Untertitel ihres letzten, 1969 erschienenen Erzählbandes gewählt, der neben der Titelgeschichte Vogel Rock fünf weitere Erzählungen enthält.1 Lässt man daraufhin ihr Werk Revue passieren, so möchte man das übernatürliche, mit den Mitteln der planen Realität nicht zu erklärende Erlebnis geradezu als das grundlegende poetische Movens ihres psychologischen Erzählens bezeichnen. Kaum zufällig hat sie »das Übersinnliche, nicht ganz Geheure« (7,855)2 selbst als das geheime Zentrum ihres 1966 erschienenen Bandes Ferngespräche benannt. Damit aber rückt eine die Grenze von Realität und Surrealität aufhebende Erzählung wie Vogel Rock für den Leser von der Peripherie ins Zentrum ihres Erzählens. Wie in vielen ihrer Kurzgeschichten wird auch hier ein störender Einbruch in den regelmäßig ablaufenden Alltag zum Auslöser der Geschichte.3 Als die Ich-Erzählerin aus ihrem Mittagsschlaf erwacht, wird sie »mit Erstaunen« (273) gewahr, dass sich ein großer Vogel in ihrem Zimmer niedergelassen hat. Da er sich auf keine Weise aus der Wohnung vertreiben lässt, schließlich sogar das Arbeitszimmer okkupiert, verlässt sie – mehr als drei Stunden sind inzwischen vergangen – fluchtartig die Wohnung und besucht ein befreundetes Ehepaar. Sie bringt es aber nicht über sich, von dem ihr »fremd[en]«, »höchst unheimlich[en]« (277) Tier zu erzählen. Als sie gegen Mitternacht nach Hause zurückkommt, ist der Vogel immer noch da. Er sitzt, in der Zwischenzeit sichtlich größer und damit auch bedrohlicher geworden, im Korridor und löst mit seinem »fegende[n] Geräusch« (281) und »merkwürdige[n] Krächzen« (282) 1 © 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Uwe Schweikert Marie Luise Kaschnitz: Vogel Rock Reclam ein albtraumartiges Erschrecken bei der Erzählerin aus. Schließlich gelingt es ihr doch noch, den ungebetenen Gast zu verjagen. Auffällig an dem Text ist zunächst der Gegensatz zwischen der fast nüchternen, protokollartigen Rekapitulation des Erlebnisses und der von ihm ausgelösten seelischen Erschütterung, die am Ende unaufgelöst bleibt. Die äußerliche Ordnung wird markiert durch einen genau fixierten Zeitrahmen – »[k]urz vor drei Uhr« (273), »kurz nach halb vier Uhr« (274), »etwa vier Uhr« (276), »um fünf Uhr« (278), »es wurde darüber sechs Uhr« (279), »kurz vor Mitternacht« (281) –, der mit seiner fest gefügten Normalität die Glaubwürdigkeit des erst als ungewöhnlich, schließlich als unheimlich empfundenen Geschehens unterstreichen soll. Verstärkt wird dieser Eindruck von Normalität noch durch den Beginn, der uns mit einem Ausschnitt aus diesem regelmäßig ablaufenden Alltag bekannt macht, wobei die Erzählerin eigens betont, dass draußen die Sonne schien: »also nichts von Dämmerung oder unheimlicher Stimmung, keine Spur.« (273) Diesem Erzähleinsatz kommt noch eine weitere Aufgabe zu: er macht damit vertraut, dass die Ich-Erzählerin offensichtlich eine Schriftstellerin ist. Auf dem Tisch neben ihrem Bett liegen nämlich »außer Büchern und Zeitschriften auch Schreibhefte und Bleistifte […], die ich gern zur Hand habe, um jederzeit etwas aufschreiben zu können« (273). Und wirklich will sie dem Eindringling, der sich hauptsächlich durch Schreien bemerkbar macht und dessen »wilde Stimme« ihr »sofort Herzklopfen« (275) bereitet, zunächst mit dem »Schreibheft« auf den »angezogenen Knien« (274) begegnen. Nachdem das Tier auf der Wäschekommode zur Ruhe gekommen ist, versucht sie in drei Anläufen »herauszubekommen, was für ein Vogel es war« (275). In einem ersten Schritt nähert sie sich ihm »ganz ruhig und mit einem gewissen sachlichen Interesse« (275). Am Ende dieser Beschreibung muss sie, »ein wenig beunruhigt« (276), konstatieren, dass das Wesen mit keinem ihr bekannten Vogeleine Ähnlichkeit 2 © 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Uwe Schweikert Marie Luise Kaschnitz: Vogel Rock Reclam hat: »Es gibt dich also nicht, sagte ich laut und stieß dann, weil ich vor meiner eigenen Stimme erschrak, einige lächerliche Pieptöne aus, so als könnte ich mit meinem Gast ins Gespräch kommen« (276). Nachdem sie es nicht vermag, auf diese Weise ihre Irritation aufzulösen, beschließt sie in einem zweiten Schritt, die geheimnisvolle Identität des Vogels wenn nicht zu bestimmen, so doch wenigstens auf dem Papier festzuhalten. Trotz mehrerer Versuche gelingt es ihr aber nicht, »den Vogel so, wie er war« (277), in ihr Notizheft zu zeichnen: »meine Finger taten nicht, was ich wollte, sondern etwas, was ich gar nicht wollte und was mir den Vogel nicht näherbrachte, sondern ihn fremd und höchst unheimlich erscheinen ließ.« (277) Das Konterfei fällt jedes Mal anders und zunehmend grotesker aus, als verwandle der Vogel – jedenfalls in der Wahrnehmung der Zeichnenden – von Augenblick zu Augenblick seine Gestalt. Auf einer der Zeichnungen »war von ihm fast nur das mir zugewandte Auge, ein riesiges Menschenauge, zu sehen« (277). In einem dritten und letzten Schritt entschließt sie sich, dem Vogel einen Namen zu geben – als sei damit »alles gewonnen« (278). Nach vielem Hin und Her und der Aufregung, dass ihr keiner einfällt, entscheidet sie sich für »Rock« – »Ein Name aus einem Märchen, aber ich wußte nicht, aus welchem […], ich wußte auch nicht mehr, was für eine Art von Vogel das gewesen war« (278) – und setzt die Worte »Vogel Rock« unter alle ihre Zeichnungen. Den Namen des seltsam-geheimnisvollen Vogels hat Kaschnitz den Erzählungen aus den Tausendundein Nächten entnommen: dem »Bericht von Abd er-Rahmân elMaghribi über den Vogel Ruch«4 bzw. der »Fünften Reise Sindbads des Seefahrers«5. Dort rächt sich der alte Vogel Ruch an den Reisenden, die sein Junges aus dem Ei hervorzerren und schlachten, und lässt einen großen Stein auf ihr Schiff fallen. In der ersten Erzählung bewahrt Allah das Schiff vor dem Untergang, indem er den Stein ins Meer lenkt. Den Reisenden aber, die das Sakrileg begingen, das Fleisch des jungen 3 © 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Uwe Schweikert Marie Luise Kaschnitz: Vogel Rock Reclam Ruch zu essen, schenkt er ewige Jugend. In der zweiten Erzählung verfehlt zwar der Felsblock des alten Ruch ebenfalls das Schiff, der seines Weibchens aber trifft das Heck. Einzig Sindbad überlebt den Schiffsuntergang. Beide Male handelt es sich um eine lebensbedrohliche Situation. Darüber hinaus ergeben sich keine Verbindungen zur Erzählung von Marie Luise Kaschnitz, die den Namen, der den Vogel außerhalb jeder ornithologischen Bestimmbarkeit stellt, wohl hauptsächlich seiner Fremdartigkeit wegen gewählt haben dürfte. In der ersten Skizze zu dieser Erzählung, die sie im November 1962 in ihr Tagebuch eingetragen hat, besitzt der »Vogel im Zimmer« noch keinen Namen: »Groß braungrau mit langem, gebogenem Schnabel. Fliegt auf die Schreibkommode, auf die Wäschekommode, auf die Bücher. Von Zeit zu Zeit gegen die Decke, an die er aber nicht anstößt. Einmal hält er sich an der Kette des Deckenleuchters. Findet die offene Fenstertüre nicht, ist zu aufgeregt […] kackt überall hin.«6 Bezeichnenderweise findet einzig der Hinweis des Kackens keine Verwendung in der späteren Erzählung vom Vogel Rock. Das Bedürfnis nach der Identifikation des Vogels führt auch mit der willkürlichen Namengebung zu keiner »Beruhigung« (278). Im Gegenteil, durch ihr vollständiges Scheitern vergrößert sich die Fremdheit. Jetzt beschließt die Ich-Erzählerin, im anderen Zimmer, »das ehemals das Zimmer meines Mannes war« (278), Tee zu trinken. Da sie die Tür nicht richtig schließt, dringt der Vogel auch dort ein – »als wolle er alles in Augenschein nehmen« (278). Noch immer hofft sie, allerdings vergeblich, der Vogel möge doch einfach von sich aus davonfliegen. Stattdessen fängt er »wieder zu schreien an« (279). An dieser Stelle unterbricht die Erzählerin unvermittelt für einen Moment, einen einzigen Satz nur, den vorgängigen Ablauf der Ereignisse und wechselt, zum zweiten Mal nach der Einrede – dass sie sich die Furcht vor dem Vogel »jetzt«, d. h. beim 4 © 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Uwe Schweikert Marie Luise Kaschnitz: Vogel Rock Reclam Schreiben, nur »einbilde« (275) –, von der Vergangenheitsform des Beschriebenen in die Gegenwartsform des Schreibens: »Ich glaube [Hervorhebung durch den Verf.], daß mir schon in diesem Augenblick der Gedanke gekommen ist, den ich damals nicht in Worte zu kleiden wagte und den ich auch heute noch nicht aufschreiben kann.« (279) Nicht das danach erzählte fluchtartige Verlassen der Wohnung, sondern dieser zunächst willkürlich anmutende Einschub markiert den Wendepunkt in dieser Erzählung. Zwar greift die Ich-Erzählerin unmittelbar danach den Bericht über die Geschehnisse wieder auf und bringt ihn schließlich auch zum Abschluss. Der »lautlose Paukenschlag«7 aber, dass das Eigentliche nicht gesagt werden kann – damals, im Moment des Erlebens nicht, und jetzt, bei seinem Niederschreiben erst recht nicht –, wirkt weiter. Für den Leser freilich liegt es nahe, diesen unausgesprochenen Gedanken mit der Vorstellung vom Totenvogel zu verbinden. Wohl deshalb, weil der Mann »Vogelkenner« (280) ist, entschließt sich die Erzählerin, ein ziemlich weit draußen wohnendes befreundetes Ehepaar zu besuchen. Der Ruf eines Käuzchens – des Unglücks- und Todesboten im Volksglauben8 – führt dort zu einem Gespräch über »Nachtvögel«: »aber auf eine ganz nüchterne, fast wissenschaftliche Weise, es wurde die volkstümliche Anschauung von den Käuzchen als Todverkündern gar nicht erwähnt, und auch von Seelenvögeln, das heißt von in Gestalt von Vögeln dem Körper entfliehenden Seelen, war die Rede nicht.« (280) Die Erzählerin bringt es nicht über sich, von dem Erlebnis zu sprechen, das sie so heftig bedrängt und vor dem sie geflohen war. Schließlich ist es »kurz vor Mitternacht« (281), als sie wieder zu Hause ankommt. Der Vogel sitzt im Korridor. Er wirkt wie verletzt, bewegt sich langsamer, geht nicht mehr, sondern kriecht, mit trüben, glanzlosen, ja traurigkalten Augen. Er rückt der Ich-Erzählerin auch körperlich nahe, was zur albtraumhaften Vorstellung einer Art Angstlust führt, »wie er mir auch ins Schlafzimmer folgen und schließlich auf meiner 5 © 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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