20 STUTTGART STUTTGARTER ZEITUNG Nr. 186 | Freitag, 14. August 2015 Zufluchtsort für psychisch Kranke Soziales Viele Tagesstätten haben lange geöffnet, Fachpersonal ist nicht immer da. Von Viola Volland H err W. würde nie einen gewöhnlichen Verein besuchen, weil dort alle anderen „normal“ funktionierten. Anders als er selbst. Herr W. hat die Persönlichkeitsstörung Borderline, seit 30 Jahren ist der 55-Jährige deshalb in Behandlung. Aber er hat seinen persönlichen Zufluchtsort gefunden: fünf Mal die Woche ist er in der Tagesstätte der Caritas im Gemeindepsychiatrischen Zentrum in der Sophienstraße im Heusteigviertel, seit elf Jahren nun schon. „Das ist meine zweite Heimat, hier habe ich meinen Freundeskreis“, sagt der Stuttgarter. In der Tagesstätte habe jeder ein Handicap. Er müsse sich nicht vorstellen – und nicht verstellen. Herr W. ist eine von rund 80 Personen, die die Tagesstätte pro Woche aufsuchen. Sie ist eine von insgesamt acht im Stadtgebiet für psychisch kranke Menschen: Es handelt sich um ein niederschwelliges Angebot. Man kann kommen, man kann reden, man kann Angebote nutzen. Man kann aber auch einfach schweigen und etwas lesen. „Niemand drängt sie“, sagt Agnes Lipps-Fichtner, die Praktikanten Sozialarbeiterin aus übernehmen der Tagesstätte an der Sophienstraße. Fünf viele der Tage die Woche sind Angebote. die Tagesstätten von 9 bis 17 Uhr geöffnet. Mit dem Fachpersonal könnten sie diese Öffnungszeiten allerdings nicht komplett abdecken, darauf weisen die drei Träger, die Caritas, das Klinikum Stuttgart und die Evangelische Gesellschaft, hin. Von der Stadt finanziert werden nämlich nur 0,3 bis 0,55 Personalstellen für jede Tagesstätte. 9 bis 17 Uhr, das funktioniere mit einer halben Stelle nicht, sagt Agnes Lipps-Fichtner, die genau solch eine 50-Prozent-Stelle hat. Sie behilft sich mit Praktikanten. Diese lernt sie selbst an. Ansonsten bestehe ihre Hauptarbeit inzwischen aus organisatorischen Arbeiten. Bis auf eine wöchentliche Strickgruppe für Frauen könne sie selbst kein Angebot übernehmen, weil sie keine Zeit dafür habe. Auch wenn sie krank ist, wenn sie Urlaub hat, gibt es keine Vertretung. „Ich schaue dann immer mal vorbei, aber ich kann nicht die Präsenz leisten“, sagt Ute Müller-Ridinger, die Fachdienstleiterin aus dem Gemeindepsychiatrischen Zentrum der Caritas. Die Träger setzen nun darauf, dass der Gemeinderat pro Tagesstätte eine weitere halbe Stelle bewilligt. Ein entsprechende Mitteilungsvorlage liegt bereits vor. „Wenn wir mehr Ressourcen haben, können wir vielleicht auch noch mehr Menschen motivieren, die es bisher noch nicht in die Tagesstätten schaffen“, sagt der Bereichsleiter Sozialpsychiatrische Hilfen der Caritas, Klaus Obert. Denn psychisch kranke Menschen seien oft isoliert. „Wenn wir sie motivieren können, in die Tagesstätte zu kommen, brauchen sie dort aber auch einen Ansprechpartner vor Ort“, sagt Friedrich Walburg von der Evangelischen Gesellschaft. Thomas Zell tauscht sich mit jungen Flüchtlingen aus, die in der Notunterkunft in der Kernerstraße untergekommen sind. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth Vom ersten Tag an Hilfe für junge Flüchtlinge Notaufnahme Spenden ermöglichen Sprachkurse und integrative Projekte für die unbegleiteten Minderjährigen. Von Viola Volland A Bisher ist es nicht möglich, dass junge hmad und Ali sind erst seit kurzem in Stuttgart. Ahmad seit zwei Wo- Flüchtlinge, wie Ahmad und Ali, sofort chen, Ali seit drei Tagen. „Hallo“ – nach ihrer Ankunft in Stuttgart an Integra„wie geht’s – „danke“, einige wichtige Wor- tionsprojekten oder einem Sprachkurs teilte kennen sie schon. Dabei hatten sie noch nehmen. Erst wenn die staatliche Fördekeinen Sprachkurs, nur hausinterne Schu- rung zur Hilfe zur Erziehung bewilligt ist, lungen. „Ich will so schnell wie möglich kann es losgehen – beziehungsweise, dann Deutsch lernen“, sagt der 16-jährige Ah- muss erst einmal ein Termin für einen Sprachkurs gefunden werden. mad, der wie Ali aus AfghanisSo könnten durchaus zwei tan kommt, ein Dolmetscher „Es handelt sich Monate ins Land gehen, beübersetzt das Gespräch. Mit um Projekte, richtet Harry Hennig, der Beacht weiteren Jugendlichen die sonst nicht reichsleiter, der für die Notschlafen sie auf Feldbetten in aufnahmen des Jugendamts einem Raum in der Notauf- zustande nahme für minderjährige un- kommen würden. “ zuständig ist. Erst seit diesem Frühjahr begleitete Flüchtlinge in der Thomas Zell, gibt es Sprachkurse in der Kernerstraße. Der Raum soll- Weihnachtsmann & Co. Notaufnahme an der Kernerte eigentlich für Freizeitaktistraße, finanziert über die vitäten, wie Kinoabende, genutzt werden,tagsüber finden dort zudem Louis-Leitz-Stiftung. „Die Jugendlichen Schulungen statt. Doch die Not hat das Ju- sind alle total motiviert“, berichtet die gendamt dazu gezwungen, auch diesen Sprachlehrerin Ulrike Mantel. Der Unterricht mache ihr großen Spaß. Alle machten Raum zu belegen (siehe Infokasten). Ahmad und Ali beschweren sich nicht toll mit, weil sie lernen wollten. Außerdem über die Enge, sie sind einfach nur froh, hülfen sich die Jugendlichen gegenseitig. dort zu sein. Ganz angekommen sind sie Als Lehrer müsse man allerdings flexibel aber noch nicht. Angesprochen auf die sein, denn die Gruppenzusammensetzung Flucht, kommen Ahmad sofort Tränen. Ali ändere sich ständig. In Zukunft wird Ulrike Mantel deutlich sagt: „Ich bin 17, aber ich komme mir vor wie 30.“ Ali ist Vollwaise, muss seit Jahren mehr Jugendlichen die deutsche Sprache alleine für sich sorgen. Vor seiner Flucht beibringen können – und die Jugendlichen hat er im Iran in einer Kleiderfabrik ge- werden früher als bisher von den Kursen arbeitet, doch das sei kein Leben gewesen. profitieren. Thomas Zell, der Vereinsvor„Ich will lernen und meinen Kopf und nicht sitzende von Weihnachtsmann & Co. und Präsident des Rosenstein-Clubs von Rotanur die Hände benutzen“, sagt er. ry, kündigt großzügige Spendensummen an: So würden die Rotarier Sprachkurse für die jungen Flüchtlinge vom ersten Tag ihrer Ankunft an finanzieren – anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums des RosensteinClubs wollte man ein soziales, humanitäres Projekt unterstützen. Von den elf RotaryClubs habe die Mehrheit bereits zugesagt, sich ebenfalls zu beteiligen. Insgesamt, so das Ziel, sollen drei Jahre lang jeweils 50 000 Euro an Mitteln fließen, berichtet Zell. Weihnachtsmann & Co. werde zudem mit jährlich 35 000 Euro ebenfalls über drei Jahre integrative Projekte fördern: So dass die jungen Flüchtlinge kulturelle Aktivitäten und Sport machen sowie Sommercamps besuchen könnten. Auch Aufklärungsveranstaltungen über Themen wie Ausbildung und Krankenkassen sind geplant. „Es handelt sich um Projekte, die zusätzlich sind und sonst nicht zustande kommen würden“, betont Zell. Weihnachtsmann und Co. sowie Rotary sei es wichtig, „Flagge bei der Integration der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge“ zu zeigen, sagt er – und gibt insgesamt eine Zielmarke von 265 000 Euro aus, verteilt über drei Jahre. Die Abteilungsleiterin Erziehungshilfen im Jugendamt, Waltraud Stuntebeck, ist froh, dass sich Rotary und Weihnachtmann & Co. engagieren. Es gebe nur ein recht kurzes Zeitfenster, in dem die Zielgruppe Anspruch auf Jugendhilfe habe. „Die müssen in den ersten zwei Jahren richtig etwas hinkriegen“, pflichtet ihr Hennig bei. Ahmad und Ali zumindest sind über jedes Angebot dankbar. Abwechslung täte ihnen ebenfalls gut. Ihre Gedanken sind oft in die Heimat. Ahmad fragt sich, ob seine Eltern noch leben. Er hatte schon lange keinen Kontakt mehr. „Ich will später ein Buch schreiben, wie traurig das Leben in Afghanistan ist“, sagt Ali. JEDE WOCHE KOMMEN ZEHN KINDER UND JUGENDLICHE AN Zahlen Die Zahl der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge, die nach Stuttgart kommen, ist rapide gestiegen: 303 sind allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres vom Jugendamt aufgenommen worden. Zum Vergleich: 2005 waren es im gesamten Jahr 31. Aktuell leben 45 Kinder und Jugendliche in der Notaufnahme an der Kernerstraße. Diese ist aber eigentlich nur für 15 Personen ausgelegt. Wie berichtet ist auch die zweite, erst im Frühjahr bezogene Notaufnahme in Vaihingen deutlich überbelegt, weshalb das Jugendamt aktuell nach einer weiteren Immobilie sucht. Kinder Im Schnitt kommen jede Woche zehn neue junge Flüchtlinge an. Vor Kurzem waren ein acht und ein zehn Jahre altes Kind dabei. Die meisten stammen aus Pakistan und Afghanistan. Auch die Zahl der Mädchen ist gestie- Lotsen helfen nach dem ersten Schock gen: Zehn Flüchtlingsmädchen sind von Januar bis Ende Juli vom Jugendamt in Obhut genommen worden, weitere zwei waren älter als 18 Jahre. Vor 2010 sind gar keine Mädchen in der Statistik aufgetaucht, danach waren es zwischen ein und fünf unter 18-Jährige pro Jahr. vv Die Spendenkonten finden sich im Internet unter www.weihnachtsmann-co.de und www.rotary.de. //
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