Weihnachtspredigt, Christvesper 2015 Claussen

Weihnachtspredigt über die Klarheit des Herrn (Christvesper 2015)
I.
Es lohnt sich, gelegentlich in die alten Bücher zu schauen. Lange ist es her, dass man sie
gelesen hat. So richtig bekommt man ihren Inhalt nicht mehr zusammen. Aber dann nimmt
man aus einer Laune heraus eines von ihnen wieder zur Hand, blättert darin und macht eine
schöne Entdeckung. So stieß ich vor kurzem auf diese Prosa-Miniatur. Das erste Mal muss ich
sie vor gut dreißig Jahren gelesen haben, habe sie dann vergessen und las sie nun wie neu und
mit neuen Augen – nämlich mit den Augen eines Vaters von nun schon größeren Kindern. In
dieser winzigen Geschichte erzählt ein Vater von einem sommerlichen Gespräch mit seiner
groß gewordenen Tochter:
„Sie saß neben mir auf der Bank und badete ihr Gesicht in der Sonne. Sie hatte ihre
Augenbrauen ausgewechselt, mit Pinzette: ein für allemal. Die neuen Augenbrauen waren
strenge Linien, die sie von der Kindheit trennten. Wir schwiegen, sie bei geschlossenen
Augen. Doch wer weiß, was sie sah, denn plötzlich sagte sie: ‚Wenn doch schon Weihnachten
wäre.‘ Die Rosen blühten. ‚Was hast du vor zu Weihnachten?‘, fragte ich. ‚Nichts‘, sagte sie.
‚Aber dann wäre doch Weihnachten.‘
Erinnern Sie sich an diese Geschichte? Da dies hier kein Literaturquizz, sondern ein
Gottesdienst ist, beantworte ich diese Frage gleich selbst. Die Geschichte stammt aus Reiner
Kunzes „Die wunderbaren Jahre“ – ein wunderbar feines Buch aus der DDR der 70er Jahre,
das damals im Westen von vielen gelesen wurde. Diese Geschichte passt gut zu genau
diesem Gottesdienst. Denn die 18h-Vesper-Gemeinde ist anders als die 15h-Krippenspieloder die 16.30h-Knabenchorgemeinde. Weihnachten ist für sie keine KinderSelbstverständlichkeit mehr. Weihnachten ist keine Zaubermacht mehr, die einfach über einen
kommt und die ganze Familie in den Bann schlägt. Man ist älter geworden. Man muss sich zu
diesem Fest in ein Verhältnis setzen, einen neuen Zugang finden, der dem eigenen Älter-Sein
angemessen ist. So wie es für jeden eben ist, der nicht mehr zu Hause lebt, aber zu
Weihnachten nach Hause zurückkehrt. Fragen müssen gestellt und beantwortet werden, neue
Erfahrungen sind zu integrieren, Distanzen sind zu überbrücken, Konflikte sind zu bedenken,
manchmal ist eine Trauer auszuhalten – damit man in das alte Weihnachtszuhause wieder
einkehren kann, und zwar so, dass das Wesentliche des weihnachtlichen
Kinderglaubensglücks bewahrt bleibt – ja, neu lebendig wird.
„Sie hatte ihre Augenbrauen ausgewechselt. Die neuen waren strenge Linien, die sie von der
Kindheit trennten. Wir schwiegen. ‚Wenn doch schon Weihnachten wäre.‘ ‚Was hast du vor
zu Weihnachten?‘ ‚Nichts. Aber dann wäre doch Weihnachten.‘
Und was wäre, wenn Weihnachten wäre?
II.
Es lohnt sich, gelegentlich in das alte Buch zu schauen. Zu Weihnachten muss man es zum
Glück nicht länglich begründen. Man schlägt die Weihnachtsgeschichte nach Lukas auf, die
man so gut zu kennen meint. Man liest darin, aber jedes Jahr mit anderen Begleitgedanken,
neuen Erfahrungen, Sorgen oder Freuden, die das Lesen mitbestimmen. Man liest darin mit
Augen, die in diesem Jahr viele, zum Teil verstörende Bilder gesehen haben: von
erschütterten und verletzten Menschen, von heimatlosen und flüchtenden Menschen. Mit
diesen Augen liest man die alte Geschichte und gewinnt ein neues Gefühl für die Armut und
Not in dieser Geschichte. Dabei kann einem aber auch aufgehen, dass genau diese Geschichte
einen selbst, gerade jetzt unbedingt angeht. Weil man mit einem neuen, inneren Drängen
danach fragt, wie es wäre, wenn Weihnachten wäre.
Zwei Aspekte sind mir dabei in diesem Jahr wichtig. Zum einen der schöne Ringelnatz-Vers,
der mir in diesem Advent zugeflogen ist, „dass die kleinste Welt die größte ist“. Die
Weihnachtsgeschichte baut ja eine ungeheure Spannung auf zwischen dem Großen und dem
Kleinen, dem Reichen und den Armen, dem Hohen und dem Niedrigen, dem Glänzenden und
dem Unscheinbaren. Da ist der Kaiser Augustus, das römische Weltreich, die größte Macht
dieser Erde – und da ist dieses unwichtige Land, diese kleine Stadt, dieses ärmliche Ehepaar
auf Wanderschaft, dieses ungeschützte neugeborene Kind, diese jammervollen Hirten in der
Nacht. Das ist der größtmögliche Gegensatz zwischen dem, was etwas gilt, und dem, was
nichts gilt. Und diese Ordnung von hoch und niedrig stürzt die Weihnachtsgeschichte um, in
beispielloser Radikalität. Denn Gott, der Absolute und Unbedingte, kommt in diese Welt –
aber nicht in den Palast, nicht in die Befehlszentrale, nicht in die Schatzkammer, nicht in die
Kaserne, sondern in den Stall, in die Krippe, auf das Feld, weil „die kleinste Welt die größte
ist“. Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Das ist der eine Aspekt, der mir in diesem
Jahr wichtig ist.
Der zweite Aspekt zeigt sich in einem Wort, über das ich in diesem Advent gestolpert bin: die
Klarheit. So übersetzt Luther – zugegeben eigenwillig, aber sehr sinnreich: „Und die Klarheit
des Herrn leuchtete um sie.“ Da sind die Hirten auf dem Feld, der Engel kommt, aber es wird
nicht einfach hell, strahlend, glänzend, glitzernd, sondern es wird klar. Die Gegenwart Gottes,
der Moment der heiligen Geistesgegenwart bringt Klarheit: die Klarheit Gottes, die die
Unklarheiten der Menschen durchbricht und auflöst. Dieses Wort geht mir besonders nach.
Eben weil die Menschenwelt so unklar, verworren-verdunkelt, widersprüchlich-unheilvoll ist,
dass es der Klarheit Gottes bedarf, um sie aufzuklären. Zudem geht mir dieses Wort nach,
weil mir so oft Menschen begegnen, die den christlichen Glauben nur als etwas Dunkles,
Unklares, Gegenaufklärerisches denken können – und mir doch genau darin liegt, dass der
alte christliche Glaube eine Aufklärungskraft ist. Und wäre das nicht eine besonders schöne
und zeitgemäße Antwort auf die Frage, was wäre, wenn Weihnachten wäre? Weihnachten ist,
wenn die Klarheit Gottes um uns leuchtet.
Aber wann geschieht das? Doch nicht nur, wenn ein Engel kommt mitsamt all den
himmlischen Heerscharen – denn dann wäre es nichts für uns, die wir keine Hirten auf dem
Felde sind. Sondern wenn uns im Grunde unseres Herzens etwas klar wird, etwas
Unausdenkliches uns in der Seele einleuchtet und dann unser Leben und Handeln verwandelt,
so dass wir Teil dieser unendlich großen Botschaft werden: „Ehre sei Gott in der Höhe und
Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“
III.
Manchmal leuchtet ein Splitter dieser Klarheit mitten in einem kleinen alltäglichen Moment
auf. Dazu zum Schluss eine kleine Geschichte. Unser Kirchenkreis hat sein altes, eigentlich
längst zum Abriss vorgesehenes Verwaltungsgebäude schnell wieder in Betrieb genommen,
um Transitflüchtlingen eine Übernachtung zu bieten. Eine Spätschicht hatte ich übernommen
– keine große Sache, andere leisten ganz anderes. Junge Leute organisieren den Betrieb auf
vorbildliche Weise. Ich also kriege eine Weste um und werde in den Speiseraum hinter den
riesigen Suppentopf gestellt. Getränkekisten mit Brettern darauf dienen als Tische und Bänke.
Dann kommen die Busse, eins, zwei, drei – bis nach Mitternacht. Menschen kommen,
Familien mit kleinen Kindern, junge Männer, dunkel und arm gekleidet. Einen inneren
Widerstand muss ich anfangs überwinden, das gebe ich zu, ganz so weltoffen bin ich
offenkundig doch nicht. Aber es geht gut. Die Suppe, die Bananen, der Tee werden dankbar
genommen. Die Gäste sind sehr höflich. Sprechen können wir nicht miteinander. Aber wir
gewinnen einen Blick füreinander. Ich schaue mir die jungen Männer an. Jetzt erst sehe ich,
wie jung sie sind – große Körper, aber Kindergesichter. Sie wären besser bei ihrer Mutter.
Wie ich so in diesem Saal stehe, fällt mir ein, dass ich hier schon zwei Mal war. Aber da
standen hier keine Getränkekisten mit Brettern, sondern ein schwerer langer Tisch und
mächtige Stühle. Als das Gebäude nämlich noch der Sitz des Kirchenamtes war, habe ich
genau hier die mündlichen Prüfungen für mein erstes und zweites Examen ablegen müssen.
So ändert sich die Welt: Damals stand ich vor Bischöfen, Professoren und Oberkirchenräten
und wurde geprüft, jetzt stehe ich da und gebe Flüchtlingen Suppe aus. Ich muss lächeln: Jetzt
fühle ich mich hier wohler als damals. Eine Antwort auf all die vielen, ungelösten, vielleicht
unlösbaren Fragen heutiger Weltkrisen hat dieses Erlebnis mir nicht gegeben. Aber es war
doch ein schöner – ja, ein heiterer Moment, ein Moment der Klarheit.
Liebe Weihnachtsgemeinde, ich wünsche Ihnen und den Ihren zu diesem Fest Momente
leuchtender Klarheit, in den die Wahrheit Gottes Ihnen einleuchtet, Sie tröstet, ausrichtet und
fröhlich macht: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines
Wohlgefallens.“