1 Gesellschaft für Evaluation (DeGEval) Jahrestagung 2015 Workshop Grounded Theory Speyer, 16.09.2015 Dr. Marianne Lück-Filsinger, Jessica Prigge, M.Eval. Forschungsgruppe Bildung, Evaluation und Sozialstudien (ForBES) 2 Programm 1. Ankommen und Begrüßung, Wissensbasis und Erkenntnisinteressen 2. Input: Arbeiten mit der Grounded Theory - Vom offenen Kodieren zur Schlüsselkategorie 3. Arbeit am Material 4. Diskussion und Zusammenführung der (bisherigen) Ergebnisse 5. (Diskussion einer) Schlüsselkategorie 6. Literaturempfehlungen 3 Grounded-Theory-Methodologie (1) • Entdeckende („discovery“) Sozialforschung; • Verschränkung von empirischer Forschung und Theoriebildung; • Generierung einer gegenstandsbezogener Theorie • Verknüpfung von Induktion und Deduktion o Datenerhebung und Hypothesengenerierung (induktiv) o Neue, theoriegeleitete Datenerhebung aufgrund von Hypothesen (deduktiv) o Theoretical Sampling 4 Grounded-Theory-Methodologie (2) • Veränderbarkeit von Phänomenen (change) • Prozesshaftigkeit (Verlaufskurven; Prozessstrukturen) • Akteurs- bzw. handlungstheoretische Orientierung (Akteursperspektiven) • Zusammenhang von „strukturellen und interaktiven Bedingungen Theoretische bzw. Strukturgeneralisierung: keine statistisch-repräsentative Verallgemeinerung 5 Grundprinzipien des methodischen Vorgehens (1) • Datenerhebung und Datenauswertung erfolgen sukzessive (Prinzip der „theoretischen Sättigung“) • Ständiges Vergleichen (komparative Analyse im Fall und zwischen den Fällen) • Schreiben (theoretischer) Memos, Diagrammen • Datenerhebung, Kodieren und Memoschreiben während des gesamten Forschungsprozesses 6 Grundprinzipien des methodischen Vorgehens (2) • Theoretical Sampling: Ständiger Wechsel zwischen Datenerhebung und -auswertung bis zur theoretischen Sättigung o Vor allem bei Vielzahl von Akteursgruppen o Reduktion von Komplexität durch (theoretisch) begründete Fallauswahl o Nachvollziehbarkeit für Auftraggebende • Sampling-Strategien in der Evaluation o „Sampling typischer Fälle“ mit Hilfe von Merkmalen o „Sampling maximaler Variation“ 7 Kodieren als zentrales Verfahren der Grounded Theory • Aufbrechen von Daten (sequentielles Vorgehen) • Konzeptualisierung durch Überführen in abstrakte Begriffe • Zusammensetzung der Daten auf neue Art Phänomen • Textstelle • Indikator Konzepte • Begriffe • Themen • Stichwörter • „Namen“ Kategorie 2 Kategorie 1 Kategorie 3 SchlüsselKategorie/n 8 Notwendigkeit einer „Theoretischen Sensibilisierung“ • Identifikation eines Phänomens in einer Textstelle / Sequenz • Fähigkeit, die Textstelle zu verstehen • Fähigkeit zu Einsichten • Trennung des Wichtigen vom Unwichtigen • Daten Bedeutung verleihen „Eher konzeptuelle als konkrete Begriffe“ 9 Das Offene Kodieren: … und das Finden von Konzepten … • • • • • • Identifizierung von Phänomenen (Textstellen) Klassifizierung als Konzepte sog. W-Fragen als hilfreiche Instrumente Zusammenstellung der gleichen/ ähnlichen Konzepte Überprüfung bei Verwendung von denselben Begriffen Erste Konzepte können sehr nah am Text und offen sein Aufbrechen des Materials bei gleichzeitiger Verdichtung 10 Das Offene Kodieren in der Praxis Sequenz /Textstelle Konzept Kategorie Memo 11 Offenes Kodieren: Eigenschaften und Dimensionen einer Kategorie Erfassung von Sinnzusammenhängen: • Eigenschaften sind die Kennzeichen einer Kategorie • Dimensionen sind die Anordnung einer Eigenschaft auf einem Kontinuum 12 Axiales Kodieren: „Das Paradigmatische Modell“ • Zusammensetzen der aufgebrochenen Daten in neuer Weise • Verbindungen zwischen Kategorie und Subkategorien Kontext und intervenierende Bedingungen Ursächliche Bedingungen Phänomen Handlungsstrategien Konsequenzen 13 Das Selektive Kodieren: Generierung einer Schlüsselkategorie • Ziel ist die Integration von Kategorien zu einer Grounded Theory durch Selektives Kodieren o Generierung von Kategorien durch mehrstufiges Verfahren • Die gewonnenen Erkenntnisse, verdichtet durch theoretische Kategorien, werden zu einander in Beziehung gesetzt 14 Kriterien einer „gut konstruierten Grounded Theory“ • „Übereinstimmung“ mit dem Gegenstandsbereich • „Allgemeingültigkeit“ der Theorie durch Abstraktionsgrad ermöglicht Anwendung in einer Vielzahl von Kontexten • „Verständlichkeit“ für „untersuchte Personen und Praktiker“ • Eignet sich als „Handlungskontrolle“ • Bedingungen sind offen zu legen Nähe zu den Standards der DeGEVAL 15 Exemplarisch: Analyse-Schritte bis zur Schlüsselkategorie 16 (Sub-)Kategorie Textstelle (Ankerbeispiele) Berufsethos (Beispiel Verschwiegenheit) „Wenn ich jemanden alleine mit dem Auto irgendwo hin gefahren habe, verhalte ich mich so, als ob ich den gar nicht kennen würde, und dann kommt meistens von dem Fahrgast dann selber, ‚Ei hör mal, kennst du mich nicht mehr?‘ ‚Ja, Entschuldigung, aber du hast jemanden dabei und ich wollte jetzt nicht öffentlich machen, dass wir uns kennen‘.“ (Z. 59-62) Anerkennung „Ja die vertrauen mir dann ihre Töchter an und sagen dann: ‚Ruf den, der ist seriös‘, es gibt auch Leute, nicht wenige, die ein Taxi in fünf Minuten haben können, aber warten auf mich, eine halbe Stunde oder so.“ (Z. x-y) Normalisierungsbestrebungen „Äh es wollte also schon einmal eine Dame mit mir ins Bett gehen. (2) Da hab ich dann gesagt: ‚Das geht jetzt nicht.‘ Ich wollte jetzt auch nicht sagen, dass ich das generell nicht mache. Ich wollte sie auch bisschen vorsichtig behandeln, ne? “ (Z. 90-93) Zwangskontext „wenn es schon losgeht, wenn jemand zu mir sagt, also S., dir kann ich es ja sagen, wir kennen uns ja schon lange, dann würde ich am liebsten aus dem Taxi weglaufen, weil ich genau weiß, das sind dann Eheprobleme und sexuelle Probleme.“ (Z. 10-13) Bezahlung als Risiko „ Ich fahr den also nach X-Stadt auf den Marktplatz und sag zu dem: 17 ‚nee so gehst du nicht.‘ Und dann sagt er so: ‚oh da brennt ja noch Licht, da ist meine Cousine. Die bezahlt vielleicht auch.‘ Da hab ich gesagt: ‚Nee, als Pfand das Handy da lassen.‘ ‚Nee, nee das geht nicht, ich kann mein Handy nicht da lassen.‘ Da hat er einen Sprint hingelegt. Es war ein junger Mann, ne? Ich bin dem nicht mehr hinterher gekommen.“ (Z. 98-102) Krisen in der Vergangenheit „Und ich gucke in meinem Geldbeutel, um dem 6,50€ rauszugeben. Und dann hat der mich von hinten gewürgt und da habe ich dann nur noch (2) mehrere Faustschläge ins Gesicht bekommen. (2) Ich bin Brillenträger. Hab ich dann also, die Schläge waren nicht sehr fest gewesen, aber das Brillenglas ist kaputt gegangen. An der Augenbraue bin ich dann auch später dreimal genäht worden. Und dann sind die weggelaufen.“ (Z. 136-142) → Prekäres Vertrauensverhältnis bei Nicht-Stammgästen Wahl der Fahrten mit Stammgästen „Also in der Regel fahre ich lieber Stammgäste, weil ich dann weiß, wo ich dran bin “ (Z. 71-72) Gesichertes Vertrauensverhältnis „Es gibt natürlich auch einige Fahrgäste, die nerven, die fährt man dann nicht so gerne, aber dann immer noch lieber einen nervigen Stammgast, bei dem ich weiß, wo ich dran bin, der bezahlt, der tut mir nichts, als einen Fremden, bei dem ich manchmal mit gemischten Gefühlen fahre.“ (Z. 72-75) 18 Erarbeitung einer Schlüsselkategorie: Mindmapping Anerkennung Berufsethos (Kundenorientierung, Effizienz) Krisen in der Vergangenheit Bezahlung als Risiko Prekäre Vertrauensstruktur Gesicherte Vertrauensstruktur Wahl der Fahrten mit Stammgästen Übergriffe (durch Einbezug in „Privates“) Normalisierungsbestrebungen Zwangskontext 19 Kursiv gesetzte Begriffe sind Kategorien Formulierung einer Schlüsselkategorie Hier deutet sich eine Beispiel Frage: Wie stellt sich der Berufsalltag des Taxifahrers dar? Strukturverallgemeinerung an Der Beruf des Taxi-Fahrens ist durch eine Vielfalt möglicher Kund/innen von Unvorhersehbarkeit geprägt. Zum Klientel besteht überwiegend eine ungesicherte Vertrauensstruktur, wodurch (physische) Sicherheit sowie Bezahlung mit Risiko behaftet sind. Der interviewte Taxifahrer verfügt über einen ausgeprägten Berufsethos. Durch krisenhafte Erfahrungen in der Vergangenheit entschied er sich für Fahrten mit Stammgästen, in welchen ein gesichertes Vertrauensverhältnis besteht. Dadurch gerät er in ein Spannungsverhältnis: Auf der einen Seite erfährt er Anerkennung und Wertschätzung sowie Sicherheit in seiner Rolle. Auf der anderen Seite wird ihm Vertrauen auf persönlicher (diffuser) Ebene entgegengebracht, welches er als Übergriffe erlebt. Sein Berufsethos (Kundenorientierung) ermöglicht wenige Strategien zur Bewältigung dieser Situationen (Normalisierungsbestrebungen), so dass er in Zwangskontexte gerät. Hier deuten sich individuelle Deutungs- und Handlungsmuster an (oder: ein Typus) 20 Literatur Für die Datenerhebung äußerst ergiebige Praxistipps: • Helfferich, Cornelia (2005). Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Für die Datenanalyse mit der Grounded Theory als Grundlagen-Text: • Glaser, Barney; Strauss, Anselm (1967). The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research. Chicago: Aldine. (engl. Original) • Glaser, Barney; Strauss, Anselm (2005). Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. 2. korrigierte Auflage. Bern: Verlag Hans Huber. (dt. Übersetzung) Leicht verständliche, motivierende Einführung: • Strauss, Anselm; Corbin, Juliet (1996). Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Psychologie-Verlags-Union. Einführung inklusive Demonstration des Analyseprozesses: • Strauss, Anselm (1994). Grundlagen qualitativer Forschung. Eine Anleitung zum qualitativen Denken. München: Fink/UTB. Für die Anwendung in der Evaluation: • Marianne Lück Filsinger (2015): Die Anwendung der Grounded Theory in Evaluationen, in: Giel, Susanne, Klockgether, Katharina, Mäder, Susanne (Hrsg.) (2015): Evaluationspraxis Professionalisierung - Ansätze - Methoden. Münster u. a. Waxmann Verlag 21 Vielen Dank für die erfolgreiche Zusammenarbeit… … und gelungenes und umsichtiges Auswerten für die Zukunft!
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