Estland, ein Land zwischen der EU und Russland

Estland, ein Land zwischen der EU und Russland
Eine Analyse vor dem Hintergrund des Krieges in der Ostukraine
16. Februar bis 16. März 2015
Johanna Fürst
1
Inhaltsverzeichnis
1.) Einleitung
S.3
2.) Die Vorbereitungen und die Umsetzung meiner Reise
S.5
3.) Ein Überblick über die Geschichte und das Wirtschaftssystem von Estland
S.9
4.) Außenpolitik der estnischen Republik
S.11
5.) Die Beziehungen zwischen Estland und Russland
S.18
6.) Die Auswirkungen des Krieges in der Ostukraine
S.24
7.) Die nachbarschaftlichen Beziehungen Estlands
S.28
8.) Ein Blick in die Zukunft – Herausforderungen und Potentiale bei der weiteren
Integration in die EU
S.31
9.) Fazit
S.38
10.) Literaturverzeichnis
S.40
11.) Danksagung
S.41
2
Einleitung
Als ich Freunden von meiner geplanten Reise nach Estland erzählte, konnten sie
damit oft nicht so viel anfangen. „Das liegt doch irgendwo im Norden, in der BalkanRegion oder so“ wurde mir erwidert. Abgesehen von der Verwechselung der Begriffe
Balkan und Baltikum und der Präzision der Richtungsangabe auf Nordosten ist das
nicht falsch. Aber es zeigt, dass uns Estland nur selten in den Nachrichten oder in
Zeitungsberichten begegnet, was angesichts der Größe und dem bisherigen
politischen Einfluss auch verständlich ist. Allerdings ist in den letzten Jahren
festzustellen, dass die drei baltischen Staaten durch die europäische Integration
immer mehr von der Peripherie in das Zentrum Europas gerückt sind und diese
Region touristisch mittlerweile gut erschlossen ist. Und als sich im Frühjahr 2014 der
Konflikt in der Ukraine mehr und mehr zu einer blutigen Auseinandersetzung
entwickelte, herrschte nicht mal am Sonntag Funkstille zwischen Tallinn und den
europäischen Hauptstädten. Plötzlich wurde vielen Politikern der NATO- und EUStaaten bewusst, dass ein möglicher Krieg direkt vor der Haustür stand. Ein solches
Szenario hätten sich die meisten von ihnen vor wenigen Monaten nicht vorstellen
können und nun drängten sich viele unangenehme Fragen auf. Was passiert, wenn
russische Soldaten die Grenze zu Russland übertreten? Wann genau sollte das
Bündnissystem der NATO in Kraft treten?
Themen, die auch mich sehr interessieren. Die Idee für diese Reise kam mir, als ich
mich mit den Hintergründen des Ukraine-Konfliktes beschäftigte. Aus Erfahrung weiß
ich jedoch, dass die Literatur immer nur einen winzigen Ausschnitt der Realität
darstellt und es immer sinnvoll ist, sich vor Ort selbst ein Bild von der Lage zu
machen. Ein Aufenthalt in der Ostukraine war natürlich aus Sicherheitsgründen
ausgeschlossen. Eher zufällig las ich bei meinen Recherchen einen langen Bericht
über die russische Minderheit in Estland und so wurde mein Interesse auch für
dieses kleine Land geweckt. Je mehr ich las, desto mehr faszinierte mich die
estnische Geschichte, Kultur und Gesellschaft und so war es für mich kein Problem
ein Reisethema zu formulieren.
In dem folgenden Bericht möchte ich versuchen einen Einblick in die Erfahrungen zu
geben, die ich während meiner Reise machen durfte. Schon an dieser Stelle möchte
ich darauf hinweisen, dass ich fast ständig „reizüberflutet“ war und so meine
täglichen Erfahrungen in Form eines Tagebuches niedergeschrieben habe. Daher
werde ich in diesem Bericht keinen Abschnitt meinen persönlichen Eindrücken
widmen. Nach einem Überblick über meine Vorbereitungen und die Umsetzung
möchte ich thematisch einsteigen. Auf den ersten Blick mag es manchmal so
erscheinen, dass ich von meiner eigentlichen Fragestellung abweiche. Es ist jedoch
nicht möglich und auch nicht sinnvoll sich bei seiner Analyse nur auf die genaue
Formulierung des Themas zu beschränken, da Reisen immer viele Überraschungen
mit sich bringen. Mir ist bewusst geworden, dass ich nur eine persönliche Meinung
bezüglich der Frage, ob sich Estland eher in Richtung EU oder Russland orientiert,
formulieren kann, wenn ich mich auch mit der estnischen Gesellschaft beschäftige.
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Ich habe mir Mühe gegeben den Roten Faden nie zu verlieren und ich wünsche nun
eine angenehme thematische Reise durch Estland.
Anneli Tombak ist meine Gastgeberin in Tallinn und sie hat mr viele interessante Winkel ihrer
Heimatstadt gezeigt.
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Die Reisevorbereitungen
Mit dem Einreichen meiner Bewerbung bei der Schwarzkopf-Stiftung war bereits die
erste Phase der Reisevorbereitungen abgeschlossen. Über die Deutsch-Baltische
Gesellschaft in Darmstadt hatte ich einige Kontaktadressen erhalten, an die ich mich
bezüglich Unterkunft wenden konnte. So lernte ich über Emails die ersten Esten
kennen und wie ich auf meiner Reise später noch erleben sollte, waren sie zunächst
sehr zurückhaltend. Jedoch erhielt ich nie eine Absage und selbst wenn mir nicht
direkt weitergeholfen werden konnte, so wurde stets versucht eine Verbindung zu
anderen potenziellen Ansprechpartnern zu organisieren. Über Umwege landete ich
immer bei Menschen, die in der Kirche aktiv sind. Angesichts der Tatsache, dass
Estland manchmal als das unreligiöseste Land der Welt bezeichnet wird, ist das
schon bemerkenswert.
Zur Umsetzung meines Projektes war es natürlich wichtig, dass ich mir
Gesprächspartner aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen suchte. Dabei
wendete ich mich an die Universität von Tartu, an das Deutsche Gymnasium von
Tallinn und auch meine Gastfamilien halfen mir immer gerne weiter. So war es mir
möglich bereits ein gutes halbes Jahr vor meinen Aufbruch nach Estland einen
ersten Entwurf über meine Planungen festzuhalten. Mit der Zusage des Stipendiums
konnte ich den Hin- und Rückflug nach Tallinn buchen sowie meine Planungen
weiter konkretisieren. Aufgrund der Erfahrungen von der zis-Reise nach Andalusien
im Sommer 2013 war es für mich wichtig, nicht zu oft den Aufenthaltsort zu wechseln
und Unterkünfte fest zu vereinbaren.
In der Hauptstadt Tallinn wollte ich länger bleiben und es war recht kompliziert einen
Kontakt herzustellen. Fünf Tage vor meinen Abflug sagte mir meine erste Unterkunft
aus gesundheitlichen Gründen ab und es war sehr stressig in mitten der
Klausurphase unter Zeitnot eine Alternative zu finden. Das Glück war aber auf
meiner Seite und dank Külli Erikson aus Kadrina konnte ich mit Anneli Tombak aus
Tallinn in Kontakt treten.
Meine anderen beiden Unterkünfte in Tartu und Kadrina konnte ich mit weniger
Aufwand schon lange vor meiner Abreise festlegen. In Tartu wohnte ich bei der
Familie Noe, die im Jahre 2004 aus Deutschland nach Estland gezogen ist. In
Kadrina lernte ich das Leben in einer estnischen Familie kennen und Külli Erikson
hat sich als eine „Konstante“ bei meinen Planungen herausgestellt. Auf all meine
Probleme hatte sie eine Lösung und ich musste meist nur wenige Minuten warten,
bis ich auf meine Emails eine Antwort erhielt.
Obwohl ich mit einem recht ausgearbeiteten Reiseplan nach Estland aufbrach,
ergaben sich immer wieder spontan Änderungen. Aber wie gesagt, das gehört eben
dazu.
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Die Umsetzung meiner Reiseplanungen
Trotz recht genauer Planungen ist es auf Reisen immer wichtig flexibel zu sein und
sich spontan neuen Situationen anzupassen. Das merkte ich mal wieder bei meinen
Aufenthalt in Estland. Obwohl ich drei Stationen und mehrere Gesprächstermine fest
geplant hatte, war jeder Tag doch wieder ein neues Abenteuer voller unerwarteter
Erlebnisse und Begegnungen. Ich genoss es!
Von Düsseldorf-Weeze aus flog ich in die estnische Hauptstadt Tallinn und wohnte
dort für insgesamt zehn Tage bei Anneli Tombak, die ich erst eine Woche vorher per
Telefonat einmal kurz kennengelernt hatte. An den ersten Tagen erkundigte ich die
Stadt und ganz unerwartet stieß ich immer mal wieder auf „Spuren meines
Reisethemas“. Z.B. lief ich vor der russischen Botschaft einer Gruppe von
Demonstranten über den Weg, die gegen die Politik von Wladimir Putin in der
Ostukraine demonstrierten. Ein besonderer Ausflug führte mich auf einen Friedhof im
Vorstadtbereich von Tallinn, wo das Denkmal des „Bronzenen Soldaten“ zu finden
ist. Im Jahre 2007 war dieses Monument unter Krawallen aus dem Innenstadtbereich
hierher verlegt worden und hatte für eine „Eiszeit“ in den Beziehungen zwischen
Estland und Russland gesorgt. Einen Nachmittag habe ich auch dazu genutzt, um
durch die Straßen des Stadtviertels Lasnamäe zu laufen, denn dort leben zu 80%
Russen in Plattenbauten. Meine vielen Eindrücke habe ich recht ausführlich in
meinem Tagebuch festgehalten und daher möchte ich an dieser Stelle nicht näher
darauf eingehen.
Für mich persönlich war es eine spannende Erfahrung einen Einblick in den Alltag an
einer estnischen Schule zu erhalten. Am TSG (Tallinner Saksa Gümnaasium) habe
ich dank Ulrich Wiegand, den Leiter der Deutschen Abteilung, eine tolle und leider
viel zu kurze Zeit verbracht. Während dieser Tage habe ich mich intensiv mit dem
estnischen Bildungssystem beschäftigt und konnte auf diese Weise überraschend
viel über die Gesellschaft in diesem kleinen baltischen Land lernen. Der Kontakt zu
Schülern unterschiedlicher Altersklassen war ein bereicherndes Erlebnis und dank
des Lehrpersonals wurden auch viele meiner Fragen beantwortet. An der Deutschen
Abteilung unterrichten viele Lehrer, die selber aus Deutschland kommen und die
Heimat nur für eine befristete Zeit verlassen haben. Es war sehr interessant sich mit
ihnen auszutauschen, da sie auch eine Art „Außenblick“ auf die estnische
Gesellschaft haben und die Prozesse im Land schon seit einer längeren Zeit
verfolgen als ich.
Von meinen ursprünglichen Reiseplänen musste und wollte ich auch immer mal
wieder ein Schlenker nach rechts oder links machen, um möglichst viele Erfahrungen
vom Wegesrande einzusammeln. Erwähnen möchte ich hier nur eines von ganz
vielen besonderen und unvergesslichen Erlebnissen. Dank einer Lehrerin vom TSG
bot sich mir die Gelegenheit eine Schule für geistig behinderte Jugendliche zu
besuchen und dort lernte ich viele außergewöhnliche Menschen kennen.
Bei meinen Planungen hatte ich nicht bedacht, dass sowohl der estnische
6
Unabhängigkeitstag als auch die Parlamentswahlen in den Zeitraum meines
Aufenthalts in Estland fallen würden. Es stellte sich als ein sehr glücklicher Zufall
heraus, denn an beiden Tagen konnte ich in meiner persönlichen Analyse der
estnischen Gesellschaft noch etwas tiefer vordringen. Außerdem wurde mir durch
diese Anlässe erneut vor Augen geführt, wie stark der Konflikt in der Ostukraine die
Innen- und Außenpolitik der baltischen Republik zurzeit prägt.
Es ist immer ein Vorteil, wenn man die Möglichkeit hat bei Einheimischen zu wohnen,
denn so eröffnen sich ganz neue Zugangswege zu vielen Themen. Anneli Tombak
durfte ich zu all ihren Aktivitäten begleiten und so war ich bei
Spendensammelaktionen der Kinderkrebshilfe dabei, konnte an kirchlichen
Veranstaltungen teilnehmen und habe viele ihrer Freunde kennengelernt. Auf
„Schleichwegen“ näherte ich mich so meinen Reisethema immer mehr an und lernte
viel über das Land.
Es fiel mir schwer
von Tallinn nach
Tartu zu fahren, da
ich in der Stadt
noch so viel
entdecken wollte
und auch meine
neuen Freunde
nicht gleich wieder
verlassen wollte.
Aber in der
zweitgrößten Stadt
von Estland erlebte
ich auch eine
unvergessliche Zeit
und ein besonderes
Stephan Noe hat mir seine Forschungsstation im Grengebiet zu
Dankeschön gilt der
Russland gezeigt. Ein völlig unerwarteter Einblick!
Familie Noe. Sie
sind aus Deutschland im Jahre 2004 ausgewandert und haben mir nicht nur von
ihren persönlichen Eindrücken berichtet, sondern auch viele Treffen und Ausflüge
organisiert. So war mein Zeitplan fast ein wenig zu voll, denn ich hatte mit
Professoren der Universität von Tartu bereits im Voraus Gesprächstermine
vereinbart. Ich war jedoch froh meinen Wissensdurst durch so unterschiedliche
Erfahrungen ein wenig stillen zu können. Der Ausflug zur Forschungsstation von
Stephan Noe hat mir z.B. deutlich gezeigt, welche Möglichkeiten sich für das kleine
Land durch die Mitgliedschaft in der EU eröffnen. Interessant war auch das Gespräch
mit einer Studentin, denn bislang hatte ich v.a. die Ansichten von der
Schülergeneration und älteren Menschen kennengelernt.
Das Treffen mit Professor Peeter Tulviste an der Universität von Tartu war für mich
erst eine etwas seltsame Begegnung, die mir mal wieder zeigte, dass eine Reise nur
bis zu einem bestimmten Maße planbar ist. Schon Monate zuvor hatte er mir per
7
Email erläutert, warum Estland keine Annäherung an Russland wünscht und viele
meine Fragen wurden im Voraus beantwortet. Als ich ihn dann an einem sonnigen
Mittag vor dem Hauptgebäude der Universität traf, wirkte er etwas abwesend und
schaute mich nicht direkt an. Im Gegensatz zu Professor Friedrich und Reiljan zog er
es vor einen Spaziergang durch die Stadt zu machen und dabei über seine
Ansichten zu berichten. Schnell fiel mir jedoch auf, dass er offensichtlich große
Schwierigkeiten hatte die richtigen Worte zu finden und meine Fragen beim
Sprechen wieder vergaß. Zum Abschied entschuldigte er sich dann, dass seine
Antworten so unpräzise gewesen waren und erzählte mir von seiner Demenz. Noch
vor einem halben Jahr habe er kaum etwas von seinem Gedächtnisschwund
gemerkt, aber plötzlich war es dann ganz schnell gegangen. Als ich dann am Abend
meiner Gastfamilie von diesem Erlebnis erzählte meinten sie, dass Professor Peeter
Tulviste der erste Direktor der Universität von Tartu nach der Unabhängigkeit
gewesen war und viele wichtige Reformen durchgeführt hatte. Obwohl ich durch
dieses Gespräch keine thematischen Fortschritte gemacht hatte, war es eine
unvergessliche Erfahrung.
Sehr schön (auch wenn
hinsichtlich meiner
Fragestellung weniger
relevant) waren die Ausflüge in
die Natur, denn dank
erstaunlich angenehmer
Temperaturen konnte ich mit
meiner Gastfamilie mehrere
Wanderungen machen.
Von Tartu ging es nach
Kadrina, einem kleinen Dorf in
Das estnische Alltagsleben lerne ich bei der Familie Erikson
der Nähe der Stadt Rakvere.
kennen. Als Dankeschön lade ich sie in ein Restaurant ein.
Bei Külli Erikson, ihrem
Lebenspartner und den zwei Kindern Pillerine (15 Jahre) sowie Hans-Johann (17
Jahre) erhielt ich einen guten Einblick in das estnische Alltagsleben. Da Meelit-Laurit
als Pastor arbeitet und so auch viele soziale Aktivitäten betreut, konnte ich die
gesellschaftlichen Strukturen noch besser kennenlernen. Abgesehen von
Veranstaltungen in dem von ihm betreuten Kirchengemeinden besuchten wir auch
ein Zentrum für geistig retardierte Erwachsene und ich habe im Voraus der Reise
nicht gedacht, dass ich so oft in Kontakt mit diesen besonderen Menschen kommen
würde. Zwar nicht direkt, aber vielmehr indirekt konnte ich so auch an meinem
Thema arbeiten, denn ich war in der Lage viel über die gesellschaftlichen
Wertevorstellungen und das Sozialsystem in Erfahrung zu bringen. Und nur wenn
man ein wenig versteht, wie die Esten „ticken“ ist es möglich Aussagen über die
zukünftigen Entwicklungen zu machen.
Auch der Tag in Narwa, der Grenzstadt zu Russland, war erfahrungsreich und stand
ganz oben auf meiner Prioritätenliste. Ursprünglich hatte ich zwar einen längeren
Aufenthalt in der von Russen geprägten Stadt geplant, aber ich denke, dass ich auch
8
durch den kurzen Besuch viele Eindrücke mitnehmen konnte.
Im Rückblick kann ich über die Vorbereitungen und die Umsetzung meiner Reise
sagen, dass es trotz schwieriger Momente und spontanen Änderungen immer
hilfreich war, einer bestimmten Grundstruktur folgen zu können. Insbesondere mit der
Auswahl meiner drei Stationen war ich sehr glücklich, denn so lernte ich viele
unterschiedliche Menschen mit ihren persönlichen Sichtweisen kennen.
Ein Überblick über die Geschichte und das Wirtschaftssystem von
Estland
Um die aktuellen Entwicklungen in Estland und die Beziehungen zu seinen
Nachbarstaaten zu verstehen, ist es unerlässlich sich mit einigen grundlegenden
Daten zu beschäftigen.
Die Republik Estland ist das nördlichste Land des Baltikums und grenzt im Süden an
Lettland sowie im Osten an Russland. Über den Finnischen Meeresbusen hinweg
bestehen engste Beziehungen zu Finnland und auch in kultureller Hinsicht fühlen
sich die Esten eher den skandinavischen Völkern verbunden als den anderen beiden
baltischen Staaten. Mit einer Fläche von ca. 45 000 km2 ist das Land in etwa so groß
wie das deutsche Bundesland Niedersachsen. Geradezu erdrückend ist der
Vergleich mit dem benachbarten Russland, das die 377-fache Größe Estlands sein
Eigentum nennt1. Die Landesnatur ist geprägt von Moor- und Sumpflandschaft und
relativ flach.
Mit lediglich 1.4 Mio. Menschen ist das Land sehr dünn besiedelt und die
Bevölkerung schrumpft zunehmend. Bereits an dieser Stelle soll darauf verwiesen
werden, dass neben der estnischen Mehrheit von 68.95% eine starke russische
Minderheit (25.48%) in dem Land lebt, also ca. ein Viertel der Bevölkerung2.
Ein Blick in die Geschichte zeugt uns, dass die estnische Bevölkerung über viele
Jahrhunderte hinweg von fremden Herrschern regiert wurde. Im Mittelalter waren es
Deutsche und Reval (das heutige Tallinn) war lange Zeit eine der bedeutendsten
Handelsstädte der Hanse. Für etwa 700 Jahre konnte der deutsch-baltische Adel
seinen Einfluss behalten und noch bis 1885 war Deutsch die Unterrichts- und
Behördensprache in Estland. Abgesehen von diesen Einflüssen herrschten auch
Schweden, Dänen, Polen und Russen über das kleine baltische Land.
Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts regte sich bei den Esten ein Nationalgefühl und
es wurden die ersten Sängerfeste veranstaltet, um den Wunsch nach
Unabhängigkeit Gehör zu verschaffen. Jedoch kontrollierte das russische Zarenreich
zu dieser Zeit das Land und nationalistische Gesinnungen wurden nicht geduldet.
Während des Ersten Weltkrieges wurden die Truppen vorübergehend aus dem
gesamten Baltikum verdrängt und Estland ergriff so das entstehende Machtvakuum
aus, um am 24. Februar 1918 zum ersten Mal die Unabhängigkeit zu proklamieren.
Obwohl diese nur für knapp 20 Jahre Bestand hatte, wird dennoch an diesem Datum
1
Klaus Schameitat, Estland entdecken, S.18
Klaus Schameitat, Estland entdecken, S.22
2
9
der Nationalfeiertag begangen.
Unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges hatte Estland schwer zu leiden und es
verlor ein Viertel der Bevölkerung. Hitler ließ bis 1940 die Deutsch-Balten unter der
Parole „heim ins Reich“ umsiedeln und im selben Jahr besetzte die Sowjetunion das
Land. Estnische Intellektuelle wurden verfolgt und deportiert, sodass die Deutschen
zunächst als Befreier gefeiert wurden, als sie 1941 zurück kamen. Jedoch errichteten
die vermeintlichen „Freiheitshelden“ Konzentrationslager und ermordeten Juden
sowie Widerstandskämpfer im industriellen Maßstab.
1944 fiel das Land zurück an die Rote Armee und nach Kriegsende verblieb ein
Großteil von ihnen in Estland. Um die 100 000 wirkliche oder vermeintliche
antisowjetische Einwohner wurden nach Sibirien verschleppt und etwa genauso viele
mussten auswandern. Bis zum heutigen Tag haben die Esten dieses grausame
Besatzungsregime nicht vergessen und v.a. die ältere Bevölkerung leidet noch unter
den traumatischen Erlebnissen.
Um die Kollektivierung der Landwirtschaft sowie die Verstaatlichung von Banken und
Betrieben voranzutreiben, wurden ca. 200 000 russische Arbeiter angesiedelt.
Außerdem wurden gezielte Maßnahmen ergriffen, um das nationale Bewusstsein der
Esten systematisch zu zerstören: die estnische Sprache wurde geschwächt, Bücher
vernichtet und das Singen nationaler Lieder untersagt.
Als 1985 Michael Gorbatschow ins Amt des Generalsekretärs der KPdSU gewählt
wurde, leitete er mit seiner Politik von Glasnost und Perestroika den Zerfall der
Sowjetunion ein. Die Esten wussten diese Schwäche für sich auszunutzen. Aus den
ursprünglichen Protesten gegen die katastrophalen ökologischen Auswirkungen des
sowjetischen Wirtschaftssystems, entstand eine Unabhängigkeitsbewegung. Diese
Entwicklung verlief überwiegend friedlich und wurde als “Singende Revolution“
bekannt. Als ein Höhepunkt dieses Prozesses kann der sog. „Balti Kett“ (Baltische
Weg) bezeichnet werden, als am 28. August 1989 ca. 2 Millionen Menschen eine
Kette über eine Länge von 600 Km von Tallinn über Riga bis nach Vilnius bildeten 3.
1991 wurde Estland erneut eigenständig, aber sowjetische Truppen verblieben noch
bis 1994 im Land. In den folgenden Jahren wurde versucht das sowjetische Erbe
abzulegen und sich in Richtung Westen zu orientieren. Am 1. Mai 2004 wurde
Estland im Zuge der Osterweiterung in die EU aufgenommen und im selben Jahr
wurde auch der NATO-Beitritt besiegelt. Aufgrund einer positiven und stabilen
Entwicklung im wirtschaftlichen und politischen Bereich konnte das Land im Januar
2010 den Euro einführen.
Nach den Wahlen vom 1. März 2015 wird der bisherige Regierungschef Taavi
Roivas mit seiner prowestlich ausgerichteten Reformpartei (Eesti Reformierakond)
voraussichtlich seine Politik fortsetzen können, aber die Koalitionsverhandlungen
gestalten sich als sehr kompliziert. Seit 2006 ist Toomas Hendrik Ilves der
Staatspräsident und er gehört der Sozialdemokratischen Partei an.
Hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung wird Estland als ein Vorbild für andere
Staaten bezeichnet. Unter den Teilrepubliken der Sowjetunion nahmen die baltischen
3
Klaus Schameitat, Estland entdecken, S.51
10
Staaten und v.a. Estland wirtschaftlich gesehen Spitzenplätze ein. Mit dem
Wiedererlangen der Unabhängigkeit wurde eine Abkehr vom planwirtschaftlichen
System hin zu einer
marktwirtschaftlich
ausgerichteten Strategie
vollzogen und die
Modernisierung der
Industrie wurde forciert
vorangetrieben. Zu den
wichtigsten
Wirtschaftsbereichen
gehören
Finanzdienstleistungen,
die Immobilien- und
Baubranche, der Handel
(Transitland zwischen den
EU-Staaten und
Das gibt es ncht in vielen Ländern. Den Esten wird per Gesetz das
Russland) und
Recht auf kostenlosen Internetzugang bescheinigt.
seit einigen Jahren auch
der Tourismussektor. Moderne Informations- und
Kommunikationstechnologien genießen eine hohe Akzeptanz und das Land ist stolz
auf innovative Projekte wie die flächendeckende Anwendung von „e-government“
oder „e-kool“. Eine liberale Wirtschaftspolitik sowie die Rechtsangleichung an EURichtlinien gelten als hervorragende Investitionsbedingungen für ausländische
Unternehmer. Als Wettbewerbs- und Standortvorteil gilt eine attraktive
Unternehmensbesteuerung, denn zurzeit wird für Körperschaften eine
Einkommenssteuer von 21% erhoben4. Als wichtigster Handelspartner gelten die EULänder, allen voran Finnland und auch Deutschland spielt eine wichtige Rolle.
Russland hat über die Jahre zwar an Bedeutung verloren, ist jedoch weiterhin eine
wichtige Stütze für das estnische Wirtschaftssystem.
Außenpolitik der estnischen Republik
Im Mai 2004 sind die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen im Zuge
der Osterweiterung gemeinsam mit fünf anderen postsozialistischen Staaten der EU
beigetreten. Zugleich wurde auch der Aufnahmeantrag in die NATO unterzeichnet.
Damit sind die drei Länder bislang die einzigen ehemaligen Sowjetrepubliken, die
ihre Westorientierung erfolgreich durchsetzen konnten und nun als fest in die
Strukturen der EU integriert gelten.
4
http://www.roedl.com/fileadmin/user_upload/Roedl_Lithuania/Newsletter/BaltikumsbriefUnternehmenskommunikation_Roedl-Partner-20130131.pdf
5
Michèle Knodt, Das Politische System der baltischen Staaten, eine Einführung, S. 343
11
Die Entwicklungen bis zum EU-Beitritt
Mit der Erklärung der Unabhängigkeit am 20. August 1991 begann für Estland ein
neues Zeitalter. Im Gegensatz zu Ländern wie Polen oder Ungarn, wo bereits
Ansätze einer eigenen staatlichen Struktur vorhanden waren, musste Estland sein
gesamtes, auf die Belange der Sowjetunion ausgerichtetes Wirtschaftssystem
umstellen. Vor den 1990er Jahren wurde insgesamt 90%5 des Handels mit anderen
Sowjetrepubliken abgewickelt. Nach Überwindung einer anfänglichen Krise in den
Jahren 1992/93 konnte sich Estland in wirtschaftlicher Hinsicht ausgehend von einem
extrem niedrigen Niveau erfolgreich entwickeln, sodass bald die Bezeichnung
„Baltischer Tiger“ in aller Munde war. Innerhalb kürzester Zeit wurde mit der raschen
Privatisierung ehemaliger Staatsbetriebe, dem Abbau von Handelshemmnissen und
Reformen in vielen Bereichen das Ziel erreicht, als Aufnahmekandidat der EU
akzeptiert zu werden. Estland konnte sich in dieser Hinsicht an die Spitze der
baltischen Staaten setzen und wurde bereits im Jahre 19976 als potenzieller
Mitgliedstaat gewertet. Litauen sowie Lettland zogen zwar nach, aber konnten die
bestehenden Entwicklungsabstände lange nicht aufholen. Mit einer liberalen
Wirtschaftspolitik (d.h. niedrigen Steuern und Zöllen) wurde ein günstiges
Investitionsklima geschaffen und so konnten zahlreiche ausländische Unternehmer in
das Land gelockt werden. Mehr und mehr trat der Handel mit den Staaten der EU in
den Mittelpunkt und gleichzeitig wurde die Abkopplung von Russland noch stärker
vorangetrieben. Die Machthaber in Moskau verfolgten diese Entwicklung mit
misstrauischem Blick und fürchteten den Einfluss in der unmittelbaren Nachbarschaft
zu verlieren. Das Baltikum wurde auch weiterhin als „Nahes Ausland“ bezeichnet, um
auf diese Weise das besondere russische Interesse zu verdeutlichen. Jedoch wurde
durch die Drohgebärden aus dem Osten die Westintegration keineswegs behindert,
sondern eher noch befördert. Denn die Esten sehen in Russland eine ständige
potenzielle Bedrohung für die eigene Sicherheit, Stabilität und Souveränität und die
Angst vor einem erneuten Verlust der eigenen nationalen Selbstständigkeit ist
ständig präsent.
Der Beitritt zur EU
Für die Esten, insbesondere für die politische Klasse, hat sich nie die Frage gestellt,
ob ein Beitritt zur EU und zur NATO sinnvoll ist oder nur eine Option unter
verschiedenen Möglichkeiten. Jedoch muss betont werden, dass nicht die Hoffnung
auf wirtschaftliche Vorteile im Vordergrund dieser Ausrichtung standen, sondern
primär sicherheitspolitische Aspekte. Es wurde gezielt nach einem Schutz vor der
Übermacht Russlands gesucht und eine enge Beziehung mit dem großen Nachbarn
im Osten stand niemals zur Diskussion. Angesichts der mangelnden eigenen
geografischen Größe und der Tatsache, dass eine schlagkräftige Armee nicht
existent war, musste nach Verbündeten gesucht werden.
Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass die Zustimmung der
Bevölkerung zum EU-Beitritt gemäßigt war und keine EU-Euphorie im Land
herrschte. Dieser Schritt wurde teilweise auch als ein „Projekt der Eliten“ bezeichnet
6
Klaus Schameitat, Estland entdecken, S.55
12
und viele Esten hatten Sorge, dass die mühsam errungene Unabhängigkeit gleich
wieder durch supranationale Direktive eingeengt wird. Aus historischen Gründen ist
der Wunsch nach Selbstbestimmung in jeglicher Hinsicht stark ausgeprägt und
dieses Interesse kollidiert immer wieder mit der Bedrohung aus dem Osten.
Die Entwicklungen seit dem Beitritt zur EU
Auch nach dem Beitritt zur EU und NATO konnte Estland seinen Erfolgskurs
fortsetzen und galt als „Musterschüler“. Per Gesetz waren die Abgeordneten im
Riigikogu dazu verpflichtet auf einen ausgeglichenen Haushalt zu achten und so
wurden in Zeiten von überhitzter Konjunktur finanzielle Rücklagen gebildet. Viele
andere Staaten, die im Zuge der Osterweiterung in der EU aufgenommen wurden,
schafften dies nicht. Bedingt durch den wirtschaftlichen Aufwärtstrend und den
Rückgang der
Arbeitslosigkeit wurde der
private Konsum
angekurbelt, sodass immer
mehr Einkaufszentren aus
dem Boden schossen. Auf
europäischer Ebene wurde
von estnischer Seite aus
stets vor den
Großmachtstreben
Russlands gewarnt, aber bis
zum Beginn des Konfliktes
in der Ukraine beschäftigte
sich niemand in Brüssel
Der Blick der Esten ist eindeutig nach Westen gerichtet und es
ernsthaft mit den
wird eine noch tiefer Integration i n d i e S t r u k t u r e n d e r E U
Warnungen aus Tallinn.
angestrebt.
Außerdem wurde auch Kritik
an Länder wie z.B. Deutschland geübt, da sie wegen spezieller Interessen (vgl.
Ostseepipeline) Sonderbeziehungen zu Russland pflegten und auf diese Weise die
Rolle der EU als Verhandlungspartner gegenüber dem Kreml unterminierten.
In den USA wird jedoch ein verlässlicher und solider Partner gesehen und das
militärische Bündnis im Rahmen der NATO-Mitgliedschaft spielt für die Esten eine
größere Rolle als die Verflechtungen mit den EU-Staaten. Insgesamt ist im
europäischen Raum die Tendenz festzustellen, dass die Beziehungen eines Landes
zu den USA als umso besser gewertet werden, je größer die Probleme des
entsprechenden Staates gegenüber Russland sind. Wie die Esten auch verfolgt
Washington das Konzept eines „Wilder Europe“, denn möglichst viele
Nachfolgestaaten der Sowjetunion sollen in die EU aufgenommen werden. Dabei
wird in erster Linie die Bedeutung der ENP (Europäischen Nachbarschaftspolitik)
betont, um Länder wie die Ukraine oder Moldawien nicht in russische Einflusssphäre
gelangen zu lassen. Indem Sicherheit und Stabilität in der eigenen Nachbarschaft
13
geschaffen wird, versprechen sich die baltischen Staaten eine Schwächung von
Russland. Und rein geografisch bedeutet eine Erweiterung der EU nach Osten auch,
dass Estland nicht mehr allein an der äußersten Peripherie liegt.
Insbesondere während des Georgienkrieges im Jahre 2008 wurde die Sorge vor
neuen russischen Aggressionen in Estland größer. Um sich aus der Abhängigkeit
des östlichen Nachbarn zu lösen, beabsichtigen die Esten ihre Energieversorgung
mit Unterstützung der europäischen Partner zu diversifizieren. In der Vergangenheit
wurde ein Stopp der Erdgaslieferungen nach Estland von Moskau oft als politisches
Druckmittel verwendet und aus diesem Klammergriff gilt es sich so schnell wie
möglich zu befreien.
Jedoch profitiert ebenso die EU von der Mitgliedschaft der baltischen Staaten in ihren
Reihen und einige Vorteile haben sich gleich im Jahre 2004 gezeigt. Es sei an die
Orangene Revolution in der Ukraine erinnert, wo das baltische Expertenwissen in
Bezug auf eine friedliche Transformation stark gefragt und geschätzt war.
Die Auswirkungen der Eurokrise
Die Wirtschaft- und Finanzkrise in Europa ging an Estland nicht spurlos vorbei, auch
wenn sich ein völlig anderes und bei weitem nicht so dramatisches Bild bot wie in der
restlichen europäischen Staatenwelt. Vergleichbar mit der Situation in Spanien und
Griechenland zeigte sich v.a. eine Abschwächung im Immobiliensektor und auch die
Jugendarbeitslosigkeit stieg stark an. Im zweiten Quartal 2010 waren 39% der
Jugendlichen unter 25 Jahren ohne Arbeit7 und die ohnehin starke Abwanderung
nahm noch mehr zu. Da Estland schon früh einen eigenen wirtschaftlichen und
politischen Weg eingeschlagen hatte, konnten die Auswirkungen der Krise recht gut
abgefedert werden. In der wirtschaftlichen Boomphase waren Rücklagen in Höhe von
10% des BIP geschaffen worden8 und alle europäischen Staaten schauten mit
Bewunderung auf die geringen Staatsschulden. In der Krise 2008 bzw. 2009 war
Estland zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit dazu gezwungen Kredite
aufzunehmen, da ein Defizit im Staatshaushalt von 2.8 bzw. 1.7% zu verzeichnen
war9.Die gesamte Staatsverschuldung belief sich im Jahre 2010 aber auf lediglich
7.2% des BIP während Deutschland zur selben Zeit mit einem Schuldenberg von
rund 75% des BIP belastet war10. Außerdem muss angemerkt werden, dass Estland
all seine Schulden durch die angehäuften Ressourcen auf einen Schlag hätte
zurückzahlen können und als einziges Land in der EU-27 im Jahre 2010 einen
Haushaltsüberschuss erzielte. Daher war es den Abgeordneten in Brüssel relativ
leicht gefallen, Estland das grüne Licht für einen Beitritt zum Euro-Raum zu geben.
Wie bereits beim Beitritt zur EU und zur NATO hielt sich die Zustimmung der
estnischen Bevölkerung zu diesem Schritt in Grenzen. So sagten im Jahre 2009 ca.
52%11 der Esten, dass sie nicht glücklich über die Euro-Einführung sind, denn die
7
Michèle Knodt, Das Politische System der baltischen Staaten, eine Einführung, S.347
Michèle Knodt, Das Politische System der baltischen Staaten, eine Einführung, S.355
9
Michèle Knodt, Das Politische System der baltischen Staaten, eine Einführung, S.355
10
Michèle Knodt, Das Politische System der baltischen Staaten, eine Einführung, S.355
11
http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/waehrungseinfuehrung-der-euro-kommt-nachestland-wie-der-schnee-1572721.html
8
14
eigene Währung ist einfacher stabil zu halten. Abgesehen von diesem Argument
können sich die meisten Menschen nur schwer mit der Idee anfreunden, dass sie
eines Tages für die finanzielle Schieflage der südeuropäischen Staaten aufkommen
müssen.
Jedoch darf nicht verschleiert werden, dass der europäische „Musterschüler“
trotzdem mit erheblichen Problemen zu kämpfen hatte und hat, insbesondere im
sozialen Bereich. Unter dem rigiden Sparkurs der Regierung mussten v.a. die bereits
benachteiligten Gesellschaftsschichten wie Rentner, alleinerziehenden Mütter oder
Familien mit kranken Angehörigen leiden. 2010 war die Arbeitslosigkeit auf 16.9%
gestiegen und jeder fünfte Este lebte in Armut12. In geografischer Hinsicht waren in
erster Linie die ländlichen Regionen sowie die nordöstlichen ehemaligen
Industrieregionen um die Städte Narwa und Kohtla-Järve betroffen.
Erstaunlicherweise kam es nur selten zu Demonstrationen, denn ein Großteil der
estnischen
Bevölkerung fand es
logisch und
nachvollziehbar, dass
der Staat in
schwierigen
Situationen Geld
einsparen muss.
Aktuelle Situation
Jetzt ist Estland schon
seit zehn Jahren in der
EU und der NATO und
das konnte ich
während meiner Reise
Vom gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehrsnetz habe auch ich
immer wieder sehen.
oft profitiert. Insbesondere mit den modernen Zügen kann man
Insbesondere durch
schnell und bequem reisen.
meinen Aufenthalt bei
der Familie Noe in Tartu hatte ich die Möglichkeit viel über die Entwicklungen im
Land seit 2004 zu erfahren, da sie genau zu diesem Zeitpunkt nach Estland
gekommen waren. Sie haben mir berichtet, dass sie seit ihrer Ankunft Zeugen einer
unglaublich schnellen Entwicklung geworden sind und immer wenn sie lediglich für
einen Monat nach Deutschland fliegen, bietet sich ihnen bei der Rückkehr ein völlig
neues Bild. Das wird in vielen unterschiedlichen Bereichen sichtbar.
Durch die Gelder aus den europäischen Strukturfonds wurde insbesondere die
Regional- und Umweltpolitik ausgebaut und damit wurde ein Vorstoß in völlig
unbekannte Bereiche gewagt. Die Infrastruktur wurde und wird noch ausgebaut und
bereits zum jetzigen Zeitpunkt ist ein guter Standard erreicht. Nur in abgelegenen
ländlichen Gebieten sind die Straßen nicht asphaltiert und mit dem Öffentlichen
Nahverkehr ist jede Ecke einer Stadt bzw. des Landes zu erreichen. In Städten wie
12
Michèle Knodt, Das Politische System der baltischen Staaten, eine Einführung, S. 356
15
Tallinn, Tartu, Narwa oder Pärnu fahren regelmäßig Straßenbahnen und Busse und
selbst zu später Stunde hatte ich niemals Probleme zu meiner Unterkunft
zurückzukehren. Als ich an einem Morgen von dem winzigen Dorf Järvselja mitten im
Wald in der Nähe des Peipussees nach Tartu fahren wollte, hatte ich mit der
Busverbindung keine Schwierigkeiten. Auch die Bahn habe ich mehrere Male in
Anspruch genommen und ein Großteil der wichtigen Städte ist mittlerweile an das
Schienennetz angeschlossen. Die alten, baufälligen Bauwagons aus Zeiten der
Sowjetunion können nur noch im Museum angeschaut werden, denn sie wurden
durch hochmoderne, orangene und saubere Züge ersetzt. Jedoch sollte man sich vor
der Abfahrt über die genauen Zeiten informieren, da teilweise nur am Morgen und am
Abend der Zug fährt.
Während Stephan Noe bei seiner Ankunft in Estland noch als ein exotischer Vogel
angesehen wurde, da er im zunehmend dichteren Autoverkehr mit dem Fahrrad zu
seinem Arbeitsplatz an der Universität fuhr, so sind Zweiräder heute überall zu
sehen. Die Infrastruktur ist hervorragend, denn es existieren zahlreiche ausgebaute
und beschilderte Radwege und vor öffentlichen Gebäuden gibt es meist die
Möglichkeit sein Fahrrad sicher abzuschließen. Auch E-Bikes erfreuen sich einer
immer größeren Beliebtheit, insbesondere bei den älteren Bevölkerungsschichten.
Durch den EU-Beitritt wurde natürlich auch ein Stück der westlichen
Konsumgesellschaft in das Land importiert. Zu sehen ist das auf eindrückliche Weise
an den zahllosen Baustellen in jeder Stadt, wo fleißig neue Einkaufstempel und
Vergnügungspark errichtet werden. Beate und Stephan Noe haben mir berichtet,
dass es 2004 bei ihnen in der Umgebung lediglich einen winzigen Supermarkt gab
mit äußerst kargem Angebot. Frisches Obst und Gemüse war kaum zu erhalten,
Fleisch konnten sich nur die wohlhabenden Schichten leisten und in den Regalen bei
den Backwaren lag nur Weißbrot. Über die Jahre hat jedoch die Vielfalt Einzug
erhalten und es gibt mittlerweile viele Supermarktketten, v.a. aus Finnland (z.B.
Prisma, Rimi, Selver…). Bei der Auswahl war ich teilweise überfordert, da es so viele
unterschiedliche Produkte gibt und die Esten scheinen die von Mangel geprägte Zeit
mehr als nachzuholen. Ein Relikt aus Zeiten der Sowjetunion mag es sein, dass nur
wenige sog. „Tante-Emma Läden“ zu finden sind, da die Privatwirtschaft damals
stark eingeschränkt wurde.
In den großen Städten sind die Shopping-Malls nicht nur ein Ort zum Einkaufen,
sondern ebenfalls ein Ausflugsziel von Familien an Wochenenden. In erster Linie
während des langen und kalten Winters kommen die Esten gerne hierher, um sich
ein wenig die Beine zu vertreten und Freunde zu treffen. Für die Kinder wird es nie
langweilig, denn es gibt Vergnügungsparks, Spielplätze oder Eisbahnen.
Da ich auf meiner Reise auch einige touristische Sehenswürdigkeiten besucht habe,
konnte ich die Impulse der EU in der Regionalpolitik sehr gut sehen. Viele Museen
wurden mit europäischen Geldern saniert und ausgestattet. Außerdem sind
Renovierungsarbeiten an historischen Gebäuden und Kirchen möglich geworden und
die Esten wissen das sehr zu schätzen. Als ich z.B. in der kleinen Ortschaft Ilumäe
die alte Kapelle besucht habe, wurde mir von einer Frau stolz erzählt, dass sie das
Gebäude dank finanzieller Zuwendungen aus Brüssel Stück für Stück erneuern.
16
Nicht zu vergessen sind die EU-Gelder, die in den Bereich Wissenschaft und
Forschung investiert werden. Dank Stephan Noe hatte ich die Gelegenheit einen
Einblick in die Labore der Universität Tartu zu erhalten und auch sein
Forschungsprojekt im Wald von Järvselja hat er mir vorgestellt. Hier untersucht er
gemeinsam mit seinem kleinen Team die Wechselwirkungen zwischen der
Atmosphäre und verschiedenen Organismen auf der Erde und es wurde ein über 100
Meter hoher Mast für Messgeräte errichtet. Die Möglichkeit für solche Arbeiten hätte
Stephan in Deutschland sicherlich nicht, deshalb ist er froh über seine Entscheidung,
in Estland seine neue Heimat zu sehen.
Ca. 80% der hochmodernen Ausstattung für die Labore und auch die elektronische
Grundausrüstung (z.B. Computer, Kopier- und Druckgeräte…) werden mit Geldern
aus unterschiedlichen Strukturfonds der EU finanziert. Hinzu kommen auch noch die
unterschiedlichen Austauschprogramme und Wissenschaftskonferenzen auf Ebene
der EU, die von estnischen Forschern gerne in Anspruch genommen werden. Für
Studenten sind die Angebote von ERASMUS attraktiv und viele meiner jungen
Gesprächspartner haben einen längeren Studienaufenthalt im Ausland eingeplant.
Neben den Fortschritten in der Regionalpolitik wurden auch neue Impulse im Bereich
des Umweltschutzes gesetzt. Zwar gelten die Esten weithin als naturliebend, jedoch
war für viele Themen kein breites Bewusstsein in der Bevölkerung vorhanden und es
fehlte an Geldern. Außerdem hatten insbesondere in den letzten Jahren der
sowjetischen Besatzungszeit viele Industriebetriebe aus den nordöstlichen Gebieten
für erhebliche Luftverschmutzung gesorgt und die ehemals unberührte Natur in eine
Mondlandschaft mit Müllbergen verwandelt. In diesem Zusammenhang spielt die
Förderung von Ölschiefer eine wichtige Rolle, die auf Druck der EU bereits reduziert
wurde und in den kommenden Jahren noch weiter eingeschränkt werden soll. Bei der
Umstellung der Energieversorgung bietet die EU von finanzieller Seite Unterstützung
an. Auch Naturschutzgebiete wurden ausgebaut und in den Städten konnten
Fortschritte hinsichtlich der Erneuerung von Entwässerungsanlagen verzeichnet
werden. Ein wichtiges Thema ist auch die bessere Isolierung der Häuser, denn im
Winter wird viel Energie aufgrund der unzureichenden Bauweise verschwendet.
Jedoch rufen die Richtlinien aus Brüssel auch teilweise Unverständnis bei der
Bevölkerung hervor, weil einige Neuerungen aus dem dicht besiedelten Mitteleuropa
für estnische Verhältnisse als übertrieben zu bewerten sind. Als ein Beispiel sei nur
die Bärenjagd genannt, die mit strikten Regeln belegt wurde. Diese selten
gewordenen und daher geschätzten Raubtiere können in Teilen von Ostestland zu
einer Plage für Viehzüchter werden, aber trotzdem dürfen sie nicht geschossen
werden.
Bereits vor Antritt meiner Reise hatte ich meine Fragestellung schon zum Teil
beantwortet. Laut Literatur und auch dank der ersten Hinweise meiner
Gesprächspartner wurde mir klar, dass sich Estland eindeutig in Richtung Europa
entwickelt und in Russland eine ständige, potenzielle Bedrohung gesehen wird.
Während meines einmonatigen Aufenthalts in dem kleinen baltischen Land durfte ich
mich dann selber von diesem Eindruck überzeugen und es war spannend sich mit
unterschiedlichen Menschen über ihre Meinung und Erfahrungen bezüglich meines
17
Themas auszutauschen. Zusammenfassend würde ich sagen, dass ein Großteil der
Esten in den Beziehungen zur EU und NATO ein „Bündnis der Vernunft“ sieht, um
sich vor möglichen russischen Aggressionen abzusichern. Jedoch ist es der
Bevölkerung wichtig, nicht zu viele Machtbefugnisse an das Parlament in Brüssel
abzugeben, da Fremdherrscher aus historischen Gründen abgelehnt werden.
Die Beziehungen zwischen Estland und Russland
Aufgrund der geografischen Nähe haben die Beziehungen zum großen Nachbarn im
Osten, Russland, für die Esten schon immer eine große Rolle gespielt. Als das kleine
baltische Land im Jahre 2004 der EU und der NATO beitrat, wurde diese
Entscheidung von Moskau kritisiert und es kam zu einer deutlichen Abkühlung im
zwischenstaatlichen Austausch. Angesichts der aktuellen politischen Umwälzungen
in Osteuropa, insbesondere bezüglich des Krieges in der Ukraine, versuchen die
Esten die bestehenden Bündnissysteme zu stärken und den eigenen Standpunkt
innerhalb Europas herauszustellen.
Geschichte
Die Geschichte Estlands wurde durch Fremdbestimmung geprägt. Während bis zum
Nordischen Krieg (1700-1722) v.a. dänische, deutsche und schwedische Herrscher
das Land für sich beanspruchten, meldete ab 1721 das russische Zarenreich
Gebietsansprüche an und konnte auch die Machtposition besetzen. Unter Zar
Alexander III wurde ab 1881 eine konsequente Russifizierung vorangetrieben und
Russisch als neue Amtssprache eingeführt. Gegen nationalistische Tendenzen ging
er mit unterdrückerischen Maßnahmen vor und auch die berühmte Universität von
Dorpat (heute die Stadt Tartu) verlor ihre Autonomie.
Der Erste Weltkrieg bedeutete für die Esten das vorübergehende Ende der
russischen Besatzung. In der Oktoberrevolution von 1917 wurde die Zarenherrschaft
beendet und die Bolschewisten gewannen nicht allein in Russland, sondern auch in
Estland die Oberhand. Jedoch musste sie nach einer erneuten deutschen Offensive
fliehen und die Esten nutzten das kurzzeitige Machtvakuum aus, um am 24. Februar
1918 in Tallinn die Republik zu proklamieren. Bis zur Unterzeichnung des
Friedenvertrags von Tartu zwischen Estland und Russland dauerten die Kämpfe an.
Dieses Vertragswerk hat sich im 21. Jahrhundert als ein zentraler Streitpunkt bei der
Festlegung des genauen Grenzverlaufs zwischen den beiden Staaten herausgestellt
und hat somit immer noch höchste Relevanz. Im Frieden von Tartu erkennt Russland
die Unabhängigkeit von Estland an und verzichtet für alle Zeit auf Gebietsansprüche
dem kleinen Nachbarn im Westen.
Nun wurde zwar Estnisch als Amts- und Unterrichtssprache eingeführt, aber das
Land verfügte seit 1925 über ein Minderheitenschutzgesetz, das im europäischen
Vergleich als sehr fortschrittlich zu bewerten ist. So wurde allen Minderheiten, auch
den zahlreichen Russen, besondere Rechte eingeräumt und Kulturautonomie
gewährt.
Nach nur etwa 20 Jahren gerät die Erste Estnische Republik in die Konfliktlinien des
18
Zweiten Weltkrieges und es folgten viele Jahre, die von Elend geprägt waren. In
einem geheimen Zusatzprotokoll zum Nichtangriffspakt (Hitler-Stalin-Pakt) wurden
die baltischen Staaten 1939 zum Interessengebiet Moskaus erklärt und im Juli 1940
wurde offiziell die Annexion von Estland an die Sowjetunion erklärt. Im Verlauf der
kriegerischen Auseinandersetzungen wurden die Esten sowohl von der Roten Armee
als auch von deutschen Truppen dazu gezwungen, an den Kampfhandlungen
teilzunehmen, sodass sich oft Familienmitglieder auf dem Schlachtfeld
gegenüberstanden. Um diese Gräueltaten zu verarbeiten hat die estnische
Bevölkerung eine lange Zeit gebraucht und im Februar 2015 kam der Film „1944“ in
die Kinos, indem diese Thematik aufgegriffen wird.
Die Estnische Sowjetrepublik hatte bis 1991 Bestand und die Folgen der Politik der
aus Moskau gesteuerten Kommunistischen Partei sind selbst 25 Jahre nach der
Unabhängigkeit noch allgegenwärtig zu spüren. Stalin siedelte über 200 000
Arbeitskräfte aus anderen Sowjetrepubliken in erster Linie im Osten von Estland an,
um die Industrialisierung voranzutreiben und das Land in das eigene
Herrschaftsgebiet fest einzubinden. Die Deportation von ca. 50 000 Menschen nach
Sibirien im Jahre
1949 hat sich fest
in das kollektive
Bewusstsein der
Esten gesetzt und
bis zum heutigen
Tag sind v.a.
Vertreter der alten
Generation sehr
misstrauisch
gegenüber der
russischen Politik.
In Folge der
Zwangskollektivier
ung der
Landwirtschaft kam Der Film „1944“ zeigt, wie sehr die estnische Gesellschaft unter der
Herrschaft von Besatzungsmächten leiden musste. Insbesondere die
es zu
russische Okkupation hat sich im kollektive Bewusstsein festgesetzt.
katastrophalen
Produktionsrückgängen und durch den Ölschiefer- sowie Phosphatabbau wurden der
Umwelt schwere Schäden zugefügt. Der Lebensstandard sank und die Esten stellten
wegen der russischen Überfremdung nur noch ca. 62% der Bevölkerung dar. Jedoch
kam es immer wieder zu Bestrebungen die verlorene Unabhängigkeit
zurückzugewinnen und nach einer Phase von Umwälzungen in der gesamten
europäischen Staatenwelt konnte dieses Ziel auch am 30. März 1990 realisiert
werden.
Aktuelle Situation
Die heutigen Beziehungen zwischen Russland und Estland stellen sich als sehr
komplex dar und sind ohne die grundlegenden geschichtlichen Fakten kaum zu
19
verstehen. Es wird meist von der großen russischen Bevölkerungsminderheit (25%)
gesprochen, aber dieser Begriff ist genau genommen unzutreffend. Nicht allein
Russen, sondern auch zahlreiche Einwohner der anderen ehemaligen
Sowjetrepubliken wie Kasachstan und Armenien werden dazu gezählt. Sie sehen
sich selber nicht als eine unbedeutende Minderheit an, immerhin repräsentieren sie
ein Viertel der Bevölkerung. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass es bedeutende
regionale Unterschiede gibt, was den Anteil der russischsprachigen Einwohner
betrifft. Insbesondere im nordöstlichen Landeskreis Ida-Virunaa sind fast drei Viertel
der Bevölkerung russischer Abstammung und in den dortigen Städten wie Narwa
oder Sillamäe sind unter 100 Einwohnern nur vier Esten zu finden. Auch in den
großen Städten wie Tallinn und Narwa ist deutlich festzustellen, dass es eine
Segregation zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsteilen gibt und Lasnamäe
(Tallinn) sowie Annelin (Tartu) gelten als „russische“ Stadtviertel.
Insbesondere vor dem Hintergrund des Krieges in der Ostukraine zeigen westliche
Medien verstärkt Interesse an den baltischen Staaten und in Schlagzeilen sind oft
Sätze zu lesen wie „Die Esten fürchten sich vor ihren russischen Nachbarn“. Es ist
jedoch sehr wichtig in der Diskussion zwischen den unterschiedlichen Gruppen
innerhalb der sog. Russischen Minderheit zu differenzieren, um einen genauen
Überblick zu erhalten. Grob gesehen sind vier Gruppen voneinander abzugrenzen.
Als erstes sollen die Altgläubigen vom Peipussee genannt werden, eine kleine
russische Bevölkerungsgruppe, die in den Berichten der Medien meist vergessen
werden. Etwa in der Mitte des 17. Jahrhunderts haben sie am Westufer des
Peipussees Schutz vor der religiös motivierten Verfolgung in der Heimat gesucht und
kleine Dorfgemeinschaften begründet. Sie lebten eine lange Zeit völlig isoliert,
vermischten sich kaum mit anderen Konfessionen und heirateten nur innerhalb ihres
Verwandtenkreises. Auf diese Weise konnten sie lange Zeit ihre eigenen kulturellen
Traditionen schützen und waren den Esten nur als „Zwiebelrussen“ bekannt.
Mittlerweile sind sie jedoch durch vielfältige Einflüsse aus der modernen Welt in ihrer
Existenz bedroht und insbesondere die jüngere Generation zieht es in die großen
Städte oder auch ins Ausland. Für touristische Zwecke wurde ein Museum über die
Lebensweisen der Altgläubigen eingerichtet und ein spezielles Restaurant mit
regionalen Köstlichkeiten. Nichtsdestotrotz schrumpft diese russische
Bevölkerungsgruppe immer weiter.
Als eine weitere Untergruppe sind sie zahlreichen jungen Russinnen und Russen zu
nennen, die fließend estnisch sprechen, gut in das gesellschaftliche Leben integriert
sind und nach Erfolg im Arbeitsleben streben. Für sie ist Estland die Heimat und sie
werden auch unter der Bezeichnung „russische Esten“ zusammengefasst. Eine
überwiegende Mehrheit von ihnen ist zufrieden mit der Westorientierung des Landes
und sie profitieren von den wirtschaftlichen Vorteilen, die sich durch eine EU- und
NATO- Mitgliedschaft ergeben.
Weiterhin hat eine Subgruppe große Bedeutung, die wegen des normalen
biologischen Rhythmus allmählich immer mehr Mitglieder verliert. Durch die
Umsiedlungsprogramme in der Zeit vor 1990 kamen viele Industriearbeiter nach
Estland und sie haben ihren Wohnsitz nach der Unabhängigkeit des baltischen
20
Landes nur vereinzelt gewechselt. Sie leben heute v.a. in den schäbigen
Plattenbausiedlungen von Lasnamäe und Annelin und sprechen kaum Estnisch. Ihr
politisches Interesse ist als eher gering zu bewerten und sie verfolgen aufgrund der
sprachlichen Barrieren bevorzugt das russische Fernsehprogramm. Daher stehen sie
unter dem ständigen Einfluss von Putins Propagandamaschinerie und bei
Gelegenheit besuchen sie gerne ihre Verwandten in Russland. Ein Interesse an der
Integration in die estnische Gesellschaft besteht nur vereinzelt und sie sehen auch
nicht die Notwendigkeit, da sie innerhalb ihrer russischen Gemeinschaft keine
Probleme im Alltagsleben haben. Meist lernt der Nachwuchs entweder im
Kindergarten oder in der Schule ohne große Schwierigkeiten die estnische Sprache
und sie entwickeln sich zu Mitgliedern der zweitgenannten russischen
Bevölkerungsgruppe.
Eine vierte, sehr kleine und in den Medien oft präsente Gruppe sind die Russen, die
die EU- und NATO-Mitgliedschaft entschieden ablehnen und sich eine engere
Zusammenarbeit mit Herrn Putin wünschen. Ihre Radikalisierung wird durch
unterschiedliche Umweltfaktoren bedingt und beschleunigt. Zumeist sind sie
arbeitslos, haben Probleme im richtigen Umgang mit Alkohol und bemühen sich nicht
einen Anschluss an die estnische Gesellschaft zu finden.
Wie aus dieser kurzen Übersicht deutlich wird, sehen die meisten Angehörigen der
sog. russischen Minderheit in Estland ihre Heimat und bezeichnen die engen
Verknüpfungen mit anderen europäischen Staaten als eine Chance. Konflikte
bestehen eher auf staatlicher Ebene, d.h. direkt zwischen den Politikern im Kreml
und im Riigikogu und die Bevölkerung ist in den meisten Fällen nicht beteiligt.
Im Folgenden möchte ich auf einige Ereignisse eingehen, die die Beziehungen
zwischen Russland und Estland in den vergangenen Jahren belastet haben.
Im Frühjahr 2007 wollte die estnische Regierung ihr lang geplantes Vorhaben und
auch als Wahlversprechen formuliertes Ziel, die Verlegung eines Denkmals für die im
Zweiten Weltkrieg gefallenen russischen Soldaten, in die Tat umsetzen. Dieses
sowjetische Monument sollte keinen Platz mehr in der Mitte der Stadt beanspruchen
und wurde so auf einen Friedhof in einem Vorort verlegt. Die Demontage des
„Bronzenen Soldaten“ entwickelte sich aber zu der größten Auseinandersetzung, die
Estland seit der Wende erlebt hatte. Mehr als 1000 Tallinner versammelten sich und
lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Es kam zu Plünderungen und Autos
wurden zerstört. Über die Medien wurde die Botschaft vermittelt, dass die russische
Führung als Initiator dieser Unruhen anzusehen sei. Nach ersten Ermittlungen stellte
sich jedoch heraus, dass unter den festgenommenen Unruhestiftern auch zahlreiche
Esten waren und dieser Vorfall so nicht als eine russische Aggression anzusehen ist.
Die traurige Bilanz dieser Ausschreitung waren ein Toter und 40 Verletzte. In der
Folgezeit spannten sich die Beziehungen zwischen Estland und Russland merklich
an und selbst Angela Merkel bemühte sich um eine Entspannung der Situation. Vor
diesem Hintergrund sollte erwähnt werden, dass die Demontage des Denkmals nur
eine Woche vor dem 8./9. Mai durchgeführt wurde, dem offiziellen Ende des Zweiten
Weltkrieges. Zu diesem Anlass wird in Moskau jedes Jahr eine große Gedenkfeier
veranstaltet und von estnischer Seite war die Teilnahme an diesen Feierlichkeiten
21
wiederholt abgesagt worden. Eine Beleidigung für Russland.
Der Denkmal-Streit zog aber
noch größere Bahnen. In
Moskau kam es zu
Demonstrationen vor der
estnischen Botschaft und bei
einer Pressekonferenz wurde die
estnische Botschafterin tätlich
angegriffen. Weiterhin kam es zu
einem Hackangriff auf die
offiziellen Websites der
Regierung und die Spuren
konnten von Experten bis in den
Kreml zurückverfolgt werden.
Nach einigen Monaten waren
diese Spannungen aber
oberflächlich wieder abgeflaut
und auf europäischer Ebene
vergessen.
Als einen weiteren ständigen
Konfliktherd auf politischer
Ebene ist die Festlegung des
genauen Grenzverlaufs
Wegen der Verlegung des „Bronzernen Soldaten“ aus dem
Zentrum von Tallinn auf einen Friedhof am Stadtrand, kam
zwischen Estland und Russland
es im Frühjahr 2007 zu schweren Auseinandersetzungen.
zu sehen. Für viele Jahre
existierte kein Vertrag bezüglich
dieses Themas, da es Unstimmigkeiten bei der genauen Formulierung gab. Die
insgesamt 294 km13 lange Grenze, die zu einem großen Teil durch Gewässer
verläuft, wurde im Jahre 2004 zur Außengrenze der EU. Bis 2011 zogen sich die
Verhandlungen über die Grenzziehung hin, insgesamt also zehn Jahre. Die
estnische Regierung legte großen Wert darauf in der Präambel zu betonen, dass sie
entgegen den Vereinbarungen im Friedensvertrag von Tartu mit der Einverleibung
des Landes in die Sowjetunion 1945 Territorium verloren hatte. Zwar wurde kein
Anspruch auf diese Gebiete erhoben, aber diese historischen Fakten sollte für immer
in Erinnerung gehalten werden. Schließlich konnten jedoch akzeptable
Formulierungen für beide Seiten gefunden werden, sodass der Grenzvertrag
unterzeichnet wurde.
Im Zusammenhang mit den Streitigkeiten um die Grenze ist ein Vorfall aus dem
Jahre 2014 zu erwähnen, der die angespannten Beziehungen zwischen Estland und
Russland erneut zum Vorschein brachte. Der estnische Geheimdienstmitarbeiter
Eston Kohver wurde von Unbekannten nach Russland verschleppt, als er im
Grenzgebiet gegen länderübergreifende Kriminalität im Einsatz war. Von den
13
http://de.wikipedia.org/wiki/Grenze_zwischen_Estland_und_Russland
22
Ääkkkllll
russischen Behörden
wurde dieser Vorfall
als Abwehr gegen
eine Spionageaktion
Ausrüstung für
Tonaufnahmen
gefunden worden
sein. Ein
Ermittlungsverfahren
wurde eingeleitet und
dem Esten drohen
nun 20 Jahre Haft.
Der estnische
Ministerpräsident
Die Grenzstadt Narwa am gleichnamigen Fluss. Auf der linken Seite ist die
Taavi Roiva hat
Hermannsfestung zu sehen, die zu Estland gehört. Auf der rechten Flussseite
Russland zur
ragt die russische Festung Iwangorod empor. Dazwischen verläuft die EUAußengrenze.
Zusammenarbeit bei
der Klärung dieses Falles aufgefordert und auch die EU verlangte die sofortige
Freilassung. Dieser Zwischenfall ereignete sich nur wenige Tage nach dem Besuch
von Barack Obama in Tallinn, als er dem Land Schutz vor jeglicher Bedrohung
zusicherte („Estland wird nie allein dastehen“)14.
Als ein weiterer potenzieller Konfliktherd zwischen den beiden Ländern ist der Status
der „Nichtbürger“ zu sehen. Unter diesem Begriff werden nicht nur in Estland,
sondern auch in Lettland die Menschen zusammengefasst, die ein dauerhaftes
Aufenthaltsrecht in dem entsprechenden Land haben, aber weder die estnische bzw.
die lettische Staatsangehörigkeit besitzen. Dies betrifft fast ausschließlich
russischsprachige frühere Sowjetbürger. In Estland wurde dieser
Bevölkerungsgruppe ab 1994 graue Pässe ausgestellt und damit waren sie nicht
dazu berechtigt an Parlamentswahlen teilzunehmen. Durch das Ablegen einer
Sprachprüfung, dem Nachweis von Kenntnissen bezüglich der Verfassung und einer
Loyalitätserklärung kann jedoch die estnische Staatsbürgerschaft erworben werden.
Diese Regelungen sind für die alte russischstämmige Bevölkerung eine Hürde und
wurden von der EU kritisiert. Seit 2002 müssen Absolventen des Gymnasiums den
Sprachtest nicht mehr machen und auch das Anforderungsniveau wurde durch Druck
der EU erniedrigt.
Während die Problematik der „Nichtbürger“ auf internationaler Ebene (z.B. bei einer
Rede des russischen Außenministers Sergej Lawrow vor der UNGeneralversammlung) gerne aufgegriffen wird, um die baltischen Staaten in
schlechtes Licht zu rücken, leiden die Betroffenen unter diesen Status nur selten.
Denn die grauen Pässe bringen auch Vorteile mit sich. Seit 2008 gewährt Moskau
14
http://www.n-tv.de/politik/Obama-sichert-Baltikum-ewigen-Beistand-zu-article13540216.html
23
den Inhabern dieser besonderen Ausweisdokumente die visafreie Einreise nach
Russland. Da Estlands Bürger mit festem Wohnsitz, ganz gleich welcher
Staatsangehörigkeit sie angehören, mit dem Beitritt zum Schengen-Raum in ganz
Europa das Recht „Reisefreiheit“ erhielten, beantragten immer weniger „Nichtbürger“
die estnische Staatsangehörigkeit. Mit dem estnischen Pass haben sie oft große
Probleme die Verwandten in Russland zu besuchen und ihr jetziger Status schränkt
sie im Alltagsleben nicht erheblich ein. Außerdem ergibt sich für junge Männer mit
einem grauen Pass der Vorteil, dass die weder in Russland noch in Estland
Wehrdienst leisten müssen.
Abschließend möchte ich noch auf ein Schulgesetz aus dem Jahre 2007 eingehen,
dass in der estnischen Innenpolitik für erhitzte Diskussionen gesorgt hat. Bereits
1993 wurde in Anlehnung an die Vorkriegszeit ein Gesetz über die kulturelle
Autonomie nationaler Minderheiten verabschiedet. Es sollte die „Möglichkeit zu
Förderung ihrer Sprache und Kultur durch muttersprachliche Bildung“ gewährleisten.
Allerdings wurde dabei außer Acht gelassen, dass in den 63 russischsprachigen
Gymnasien des Landes die estnische Sprache nur unzureichend unterrichtet wurde.
Somit hatten die Absolventen teilweise mangelhafte Kenntnisse der estnischen
Sprache, sodass ihnen auf dem Arbeitsmarkt zahlreiche Posten nicht zugänglich
waren. Die Regierung beschloss daher ein Gesetz auszuarbeiten, dass auch in
russischen Bildungseinrichtungen den estnischsprachigen Unterrichtsanteil auf 60%
festlegen sollte. Da jedoch die Kapazitäten für eine solche Umstellung nicht
vorhanden waren, wurde ein allmählicher Transformationsprozess vorgesehen.
Empirische Studien zeigen, dass die alltäglichen Beziehungen zwischen russischen
und estnischen Bevölkerungsanteilen von beiden Seiten als gut bewertet werden.
Die Spannungen basieren daher nicht auf konkreten Erfahrungen des
zwischenmenschlichen Zusammenlebens, sondern sind v.a. Resultat politischer
Auseinandersetzungen und Entwicklungen in Russland und Estland, die in den
Medien ihren Widerhall finden, durch diese verstärkt oder initiiert werden.
Die Auswirkungen des Krieges in der Ostukraine auf Estland
Während meiner einmonatigen Reise durch Estland konnte ich eindeutig feststellen,
dass die Stimmung im Land vom Konflikt in der Ostukraine überschattet wird. Die
Esten machen sich große Sorgen, dass Moskau seinen Einflussbereich noch weiter
ausdehnen möchte und die Erfahrungen der Vergangenheit werden nicht vergessen.
Von den ca. 300 000 russischsprachigen Bürgern hatten 2014 ca. 100 000 die
estnische Staatsangehörigkeit, 110 000 die russische Staatsangehörigkeit und
90 000 besaßen einen grauen Pass, der sie als „Nichtbürger“ kennzeichnet 15.
Die Auswirkungen des Krieges machen sich in unterschiedlichen Bereichen
bemerkbar, sowohl auf wirtschaftlicher als auch auf politischer und sozialer Ebene.
15
http://www.en.europeonline-magazine.eu/die-russische-minderheit-in-estland_379491.html
24
Wirtschaftlich
Die EU-Sanktionen gegen Russland spielen für Estland kaum eine Rolle, jedoch
beeinträchtigen die Gegenmaßnahmen von russischer Seite die Wirtschaft. Denn die
Machthaber im Kreml haben die Entscheidung getroffen, sämtliche estnische
Produkte zu boykottieren, sodass viele landwirtschaftliche Waren aus den baltischen
Staaten nicht mehr eingeführt werden dürfen. Dies zeigt sich v.a. in der
Milchproduktion sowie im Fischfang, denn für diese Güter war Russland stets der
größte Abnehmer.
Politisch
Im Bezug auf die politische Dimension sind eine Vielzahl von Faktoren zu nennen.
Seit der Unabhängigkeit wurde eine enge Anbindung an die westlichen Staaten
gesucht, in erster Linie an die USA. Dieser Schulterschluss wurde von Washington
immer freudig entgegengenommen und schon seit vielen Jahren sind die baltischen
Staaten ein wichtiges Instrument in der amerikanischen Russlandpolitik. Es bestehen
sogar personelle Beziehungen, denn der aktuelle Staatspräsident Toomas Hendrik
Ilves ist in Nordamerika aufgewachsen und hat dort seine Ausbildung erhalten. Aus
dieser Zeit sind einige Kontakte erhalten geblieben, die nicht selten bis in die
politische Klasse führen.
Erst im September des vergangenen Jahres hat Barack Obama Tallinn einen Besuch
abgestattet und zu diesem Anlass hat er betont, dass die baltischen Staaten in allen
Situationen auf ihre Bündnispartner zählen können. Außerdem wurde ein
Liefervertrag für moderne Waffen unterzeichnet und in vielen Medien wurde dies als
eine demonstrative Geste gegenüber Russland gesehen. Auch der deutsche
Außenminister Steinmeier hat betont, dass die EU die Sorgen von Estland teile.
Am estnischen Unabhängigkeitstag (24. Februar) wird jedes Jahr eine Militärparade
sowie ein Staatsbankett veranstaltet und als Gastgeber für diese Feierlichkeiten
wechseln sich die größten estnischen Städte ab. Rein zufällig war Narwa dieses Jahr
an der Reihe und da auch amerikanische, britische, niederländische und spanische
Vertreter teilnahmen, zeigte die NATO Präsenz direkt an der Grenze zu Russland. In
Moskau wurde diese Aktion direkt als eine offene Provokation aufgefasst und als
Reaktion wurde an den nächsten Tagen ein Manöver mit ca. 2000 Soldaten in der
Grenzregion gestaltet. In seiner Rede anlässlich des Unabhängigkeitstages stellte
der Staatspräsident Ilves das Thema „Krieg in der Ostukraine“ und die
Konsequenzen dieser Vorfälle auf Estland in den Vordergrund. Er legte viel Wert
darauf zu betonen, dass sich die Esten nun auch wieder Sorgen um die
Unversehrtheit des eigenen Staatsgebietes machen müssen und daher eine noch
bessere Integration in die Strukturen der EU und NATO nicht zur Diskussion stehe.
Die Angst vor einem neuen „russischen Frühling“ am Baltikum bestimmte auch den
Wahlkampf zu Anfang des Jahres. Alle Parteien versuchten zu punkten, indem sie
Sicherheitsthemen in den Mittelpunkt ihres Programmes rückten. Selbst die
Zentrumspartei mit ihren Vorsitzenden Edgar Savisaar, die meist einen Großteil der
Stimmen der russischsprachigen Bevölkerung gewinnen kann, blendete den UkraineKonflikt nicht völlig aus. Natürlich wurden andere Formulierungen gewählt und man
hütete sich davor direkte Kritik an Russland zu adressieren. Der bisherige und auch
25
wiedergewählte estnische Ministerpräsident Taavi Roivas von der Reformpartei
sorgte für Schlagzeilen, als er in einem seiner Wahlkampfvideos die neuen Kampfjets
des Landes präsentierte. Außerdem besuchte er in Begleitung vieler Pressevertreter
eine Schule, um den Kindern die NATO-Beistandsklausel auf anschauliche Art und
Weise zu erklären. Er sagte, dass Estland eine kleine Erbse sei, die neben einer
großen, bösen Orange (Russland) lebe. Wegen der Freundschaft mit der
Wassermelone (USA) und weiterer Gemüse- und Obstsorten musste sie sich aber
keine Sorgen machen.
Ohne jeden Zweifel könnten die baltischen Staaten einen russischen Angriff kaum
erfolgreich abwehren. Estland verfügt über keine nennenswerten Streitkräfte und erst
vor wenigen Monaten wurde der erste Panzer gekauft. Da sich die Bevölkerung nicht
auf Versprechen anderer Staaten verlassen will, hat sie noch im Jahre 1991 eine
eigene Volksmiliz
gegründet, um sich
im Ernstfall nicht
kampflos zu
ergeben.
Gesellschaftlich
Viel stärker und
wichtiger als das
militärische
Potenzial ist
sicherlich der Wille
der Esten, sich nie
wieder einer
fremden Macht
unterzuordnen.
Angehörige der
Die Esten beobachten mit Sorge die Entwickungen in der Ostukraine. Vor der
älteren Generation, Russischen Botschaft in Tallinn findet eine kleine Demonstration statt, um gegen
die Politik von Präsident Putin zu protestieren.
die noch zu Zeiten
der Sowjetunion aufgewachsen sind, freuen sich jeden Tag aufs Neue, wenn sie die
weiß-schwarz-blaue Nationalflagge über dem Riigikogu sehen. Ihnen ist bewusst,
dass sie ihre Freiheit zu jeder Zeit mit allen Mitteln verteidigen müssen,
In der Presse ist der Krieg in der Ostukraine ein „Dauerbrenner“ und es wird oft von
einem „Vorkriegsklima“ gesprochen. Viele Menschen haben große Angst und sie
sprechen zum Teil sehr offen darüber. Insbesondere die Entwicklung, dass sich auch
ausländische Söldner unter die kämpfenden Parteien gemischt haben, macht ihnen
Sorge. Es stellt sich die Frage, welchen Befehlen sie gehorchen und es ist gefährlich,
wenn der Krieg zum Geschäft wird.
Allerdings ist nicht anzunehmen, dass Präsident Putin seine „grünen Männer“ zum
„Urlaub“ mit ihren Panzern als Transportmittel nach Estland schicken wird. In der
Ostukraine lebten und leben viele Menschen unter prekären Verhältnissen und der
Lebensstandard ist zumeist niedriger als in Russland. Die Arbeitslosigkeit unter der
jungen Bevölkerung ist hoch und es bieten sich ihnen nur wenige Perspektiven auf
26
eine bessere Zukunft. Als verstärkender Faktor kommt noch hinzu, dass viele
Ostukrainer das Gefühl haben, von Kiew unterdrückt und benachteiligt zu werden zu
werden, sodass sie der gewählten Regierung kein Vertrauen entgegenbringen. Nicht
zu vergessen ist die Tatsache, dass die Ukraine eine lange Zeit die wichtigste
Sowjetrepublik war und der Verlust dieses sehr fruchtbaren Stück Landes von
russischer Seite auch heute noch sehr bedauert wird. In historischer Hinsicht hat
Estland für Russland nie dieselbe Rolle gespielt wie die Ukraine, sodass ein
einfacher Vergleich beider Staaten zu falschen Schlussfolgerungen führt. In den
vergangenen 25 Jahren hat sich Estland rasant in ein modernes, europäisches Land
verwandelt und der Lebensstandard liegt deutlich über den Verhältnissen in
Russland. Oft wird gesagt, dass hinter der Grenzstation bei Narwa und Iwangorod in
östlicher Richtung das Niemandsland anfängt und sich dort kaum ein Mensch
freiwillig aufhält. Die russische Propagandamaschinerie wird daher in Estland keinen
Erfolg haben, denn das vergleichsweise angenehme Leben wissen nicht allein die
Esten zu schätzen. Bei einer Umfrage im Jahre 2004 mit dem Ziel die Stimmung der
estnischen Bevölkerung bezüglich des EU-Beitritts festzustellen, sprachen sich
anteilsmäßig mehr Russen für eine Westorientierung aus als Esten.
Eigene Erfahrungen
Bei meinen Gesprächen ist mir immer aufgefallen, dass sich die Ansichten über den
Krieg in der Ostukraine von Generation zu Generation unterscheiden.
Ein Gefühl der Angst überwiegt bei den älteren Esten und sie schenken den
Bündnissystemen kein Vertrauen. Teilweise wurde mir erzählt, dass die Koffer zur
Flucht bereits gepackt wurden, um sich nie wieder von Russen beherrschen zu
lassen.
Als ich mit einer Studentin aus Tartu über dieses Thema gesprochen habe meinte
sie, dass durch die Berichterstattung in den Medien meist ein verzerrtes Bild von der
Wirklichkeit geboten wird. Das ist zwar in keinem Land der Welt anders, aber ein
Großteil der Esten reflektiert nicht ausreichend das Gehörte oder Gelesene. Da fast
ausschließlich mit negativem Unterton gegenüber Russland berichtet wird, lassen
sich viele Menschen zu Verallgemeinerungen verleiten. So sind Sätze wie „Alle
Russen verehren ihren Präsidenten Putin und unterstützen den Krieg in der
Ostukraine“ nicht selten zu hören. Es wird vergessen, dass es eine
Oppositionsbewegung gibt und über den Mord von Boris Nemzow waren viele Esten
sehr erstaunt.
Bei Gesprächen mit Schülern aus dem TSG traf ich auf unterschiedliche Meinungen.
Für viele der jungen Menschen spielt Politik keine zentrale Rolle in ihrem Alltag,
sodass sie sich auch nur mäßig für mein Reisethema interessierten. Manchmal war
ich jedoch auch überrascht, mit welchem Hintergrundwissen mir das
Beziehungsgeflecht in Osteuropa erklärt wurde. Gescherzt wurde über dieses Thema
auch, denn den jungen Esten ist aufgefallen, dass Russland immer nur in den Jahren
von Olympischen Spielen ein anderes Land überfällt. 2008, während der
olympischen Sommerspiele in Peking, war Georgien das Opfer russischer
Aggressionen. Zur Zeit der Olympischen Winterspiele in Sotschi im Frühjahr 2014
27
intervenierte Russland indirekt in der Ukraine. Also muss sich Estland erst in knapp
vier Jahren mit dieser Frage auseinandersetzen.
Die nachbarschaftlichen Beziehungen Estlands
Es mag verwundern, dass ich in diesem Bericht einen Abschnitt den
nachbarschaftlichen Beziehungen von Estland widme. Zwar habe ich mich während
meiner Reise v.a. auf die Fragestellung konzentriert, ob sich die Esten eher in
Richtung EU oder Russland orientieren, aber ich musste nach kurzer Zeit feststellen,
dass keine dieser beiden Optionen zutrifft. Die politische Klasse drängt auf eine noch
tiefere Integration in die Strukturen der EU und der NATO und auch die Bevölkerung
zieht diese Ausrichtung einer Annäherung an Russland vor. Jedoch kann die
Stimmung im Land nicht als „Europa-Euphorie“ bezeichnet werden. Vielmehr wird der
Blick in Richtung Norden gerichtet, denn die skandinavischen Länder werden in
vielerlei Hinsicht als Vorbild gesehen. Insbesondere zu den Finnen pflegen die Esten
eine außergewöhnliche Beziehung und das schon seit vielen Jahren.
Der „große Bruder“ Finnland
In sprachlicher Hinsicht sind sich Estnisch und Finnisch sehr ähnlich und beide
gehören zur Gruppe der finno-ugrischen Sprachen. Daher gibt es bereits seit langer
Zeit einen regen Austausch zwischen den beiden Ländern, da es kaum zu
Verständigungsschwierigkeiten kommt. Auch Touristen wissen das zu schätzen und
die Fremdenverkehrsämter haben sich auf die Nachfrage aus Finnland eingestellt.
Die Leidenschaft regelmäßig in guter Gesellschaft mit einem kühlen Getränk in die
Sauna zu gehen teilen die Esten übrigens auch mit den Finnen.
Die starke Abwanderungsbewegung der Esten aus ihrer Heimat kommt der
finnischen Wirtschaft zugute, denn der Nachbar im Norden ist das beliebteste Ziel für
die junge und gut ausgebildete Bevölkerung. Die Gehälter in Finnland liegen ein
Vielfaches über dem Niveau in Estland und aufgrund der demografischen
Entwicklungen sind Fachkräfte aus dem baltischen Land erwünscht, besonders im
Gesundheitssektor. Die negativen Folgen für das estnische Wirtschafts- und
Sozialsystem werden gerne ausgeblendet. In den Jahren 1989/1990 war die Grenze
zwischen den beiden Staaten diejenige, mit dem weltweit höchsten Preisunterschied.
In dem skandinavischen Land waren die Güter durchschnittlich 25mal so teuer wie in
Estland und daher herrschte an den Wochenenden sowie an Feiertagen immer ein
reger Betrieb auf der Fährverbindung zwischen Tallinn und Helsinki. Arbeiter und
Studenten kamen gerne über den finnischen Meeresbusen, um billig einzukaufen
und sich mit Alkohol einzudecken. Obwohl die estnischen Preise mittlerweile
westeuropäisches Niveau erreicht haben, führen viele Finnen diese Angewohnheit
fort.
In wirtschaftlicher Hinsicht ist Finnland der wichtigste Absatzmarkt für estnische
Produkte und ohne diese Kontakte wäre es nicht möglich gewesen, die schnelle
Transformation vom planwirtschaftlichen System hin zu einer Marktwirtschaft zu
28
vollziehen. Heutzutage wird oft vergessen, dass zu Beginn des 20.Jahrhunderts die
Wirtschaftskraft in dem baltischen Land höher war als in Finnland und der starke
Rückfall durch die sowjetischen Besatzer ausgelöst wurde. Während dieser
Zeitspanne von 1944 bis 1990 haben die Esten immer heimlich finnische
Radiosender gehört, denn am Ende der Nachrichten wurde die Nationalhymne
gespielt. Und die beiden Länder teilen sich bis zum heutigen Tag dieselbe Melodie.
Historisch gesehen eint die Esten und Finnen die Feindschaft gegenüber Russland
und beide haben sich mit dem großen östlichen Nachbarn im 20. Jahrhundert viele
Auseinandersetzungen geliefert. Die Landschaft Karelien liegt in Nordosteuropa und
war eine lange Zeit zwischen Finnland und Russland umstritten. Wie in Estland auch
war die Grenzziehung ein strittiges Thema.
Während meiner Reise hatte ich mehrere Male die Möglichkeit soziale Einrichtungen
zu besuchen und ich habe mich recht intensiv mit dem Sozialsystem in diesem
baltischen Land
beschäftigt. Wie
in vielen anderen
Staaten unserer
Welt haben in
Estland nur
wenige
Menschen von
dem
wirtschaftlichen
Aufschwung
profitiert und die
Armutsquote
liegt über dem
EU-Durchschnitt.
Jedoch
In Rakvere besuche ich eine Einrichtung für geistig retardierte Erwachsene,
bezeichnen die
die durch finanzielle Unterstützung aus Finnland betrieben werden kann.
Finnen die Esten
oft als „kleinen Bruder“ und unterstützen den Aufbau von sozialen Einrichtungen mit
finanziellen Transferzahlungen. Als ich in Rakvere ein Zentrum für geistig retardierte
Erwachsene besucht habe, wurde mir berichtet, dass es dank Gelder aus Finnland
betrieben werden kann. Und auch in Kadrina wurde ich an die Wohltäter aus dem
Norden erinnert, denn dort gibt es seit vielen Jahren ein Secondhandladen, der mit
Waren aus Finnland versorgt wird. Jeder Bedürftige kann sich für einen Gegenwert
von 50 Cent Kleidung für warme und kalte Jahreszeiten kaufen.
Abschließend möchte ich noch die geplante Eisenbahnverbindung von Warschau
über Riga und Tallinn bis nach Helsinki erwähnen, die sog. „Rail Baltica“. Der
Baubeginn ist für dieses Jahr geplant, aber es gibt noch viele strittige Fragen und
auch die Abgeordneten im Riigikogu müssen sich immer wieder mit diesem Thema
auseinandersetzen. Denn es soll ein Tunnel unter dem Finnischen Meeresbusen
entstehen, der um die zwei bis drei Milliarden Euro kostet. Bei der kürzesten
29
Verbindung würde er eine Länge von 50 Kilometern haben und wäre damit der
längste Unterwassertunnel der Welt. Bei den Planungen für dieses Projekt ist aber
noch nicht das letzte Wort gesprochen und egal ob mit oder ohne Tunnel werden die
außergewöhnlich engen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Estland und
Finnland bestehen bleiben.
Welche Bedeutung hat der Begriff Baltikum
Erst während meines einmonatigen Aufenthalts in Estland wurde mir bewusst,
welche Rolle die Verbindungen zwischen Finnland und Estland spielen. Daher habe
ich mich gefragt, warum dieses kleine Land immer zusammen mit Litauen und
Lettland als Baltikum bezeichnet wird, denn mit Vilnius und Riga werden nicht solch
enge Partnerschaften gepflegt. Und auch sprachlich gesehen existiert keine Einheit,
denn Litauisch und Lettisch gehören zur indogermanischen Sprachfamilie. Der
Begriff Baltikum erschien erstmals in der Endphase des Ersten Weltkrieges als eine
Sammelbezeichnung für das deutsche Okkupationsgebiet auf den Territorien des
Ostseegouvernements. Diese Bezeichnung hat sich über die Jahre in den
allgemeinen Sprachgebrauch integriert, obwohl die Länder nicht als eine Einheit
aufgefasst werden dürfen. Jedoch mussten sowohl die Esten als auch die Litauer
und Letten unter der sowjetischen Okkupation ab 1945 leiden und die traumatischen
Erfahrungen aus dieser Zeit können als eines der wenigen verbindenden Elemente
aufgefasst werden.
Die Deutschen haben auch ihre Spuren hinterlassen
Zuletzt möchte ich
noch einen kleinen
Exkurs zu den
Beziehungen
zwischen den Esten
und Deutschen
machen, die auf eine
sehr lange
gemeinsame
Geschichte
zurückblicken können.
Überall in Estland
begegnet man
deutschen Namen und
wer genauer hinsieht
Auch die Deutschen haben in Estland ihre Spuren hinterlassen, z.B. in der
wird sich wundern,
ehemaligen Hansestadt Tallinn.
welche Fülle
deutscher Fremdwörter Eingang in die strukturell ganz andersartige estnische
Sprache gefunden hat.
Im 12. Jahrhundert kamen die ersten Deutschen in das Baltikum und die Nachfahren
dieser Ordensritter bildeten über Jahrhunderte die Oberschicht in Estland. Die unter
der Bezeichnung Deutsch-Balten berühmt gewordene Minderheit übte einen starken
30
Einfluss auf die kulturelle und soziale Entwicklung im Land aus und an der Universität
in Tartu war Deutsch lange Zeit Unterrichtssprache. Heutzutage ist die Zahl auf ca.
200016 zusammengeschrumpft, aber es ist eine Art kleiner Trendwende festzustellen.
Denn es entsteht eine neue Generation von Deutschbalten und ich war manchmal
verwundert, wie oft ich meine Muttersprache zur Verständigung benutzen konnte.
Trotz der niedrigen Löhne ist in vielen estnischen Städten seit der Unabhängigkeit
eine Deutsche Gemeinde entstanden und sie sind sehr gut in die Gesellschaft
integriert. Oft arbeitet ein Familienmitglied noch in der Heimat oder es werden über
das Internet Geschäfte abgewickelt, um sich ein angenehmes Leben leisten zu
können. An der Universität werden deutsche Professoren meist über EU-Programme
bezahlt und daher ist es für sie kein finanzieller Nachteil in Estland zu arbeiten.
Auf meine Frage, warum es eine überraschend große Anzahl von Deutschen in den
Nordosten Europas gezogen hat, hörte ich oft die Antwort, dass die Esten uns von
der Mentalität sehr nahe stehen. Der lange kulturelle Einfluss hat sich auf das
Wertesystem und die Tradition der estnischen Bevölkerung ausgewirkt und während
der Besatzungszeit war das Sprichwort in aller Munde, dass die Esten die
sowjetischen Befehle mit deutscher Pünktlichkeit ausführen. Auch mir ist aufgefallen,
dass die Esten einen Hang zur Ordnung und zum Einhalten bestimmter Regeln
haben, was sich nicht zuletzt am Staatshaushalt zeigt.
Vielleicht ist diese Tatsache auch ein Grund, warum ich mich in Estland so wohl
gefühlt habe und erst im Flugzeug zurück nach Düsseldorf-Weeze das erste Mal
bewusst an die Heimat gedacht habe. Aber mich haben viele Facetten dieses
Landes fasziniert und ich werde sicherlich wiederkommen.
Ein Blick in die Zukunft - Herausforderungen und Potentiale bei der
weiteren Integration in die EUBei meiner Reise durch Estland ist mir bewusst geworden, dass der vor ca. 25
Jahren angestoßene Transformationsprozess noch lange nicht als abgeschlossen zu
bezeichnen ist. Dieser kleine baltische Staat arbeitet permanent an seinem Profil und
durch den Beitritt zur EU und NATO im Jahre 2004 sind weitere Entwicklungsimpulse
hinzugekommen. Um eine Prognose bezüglich der Fragestellung zu wagen, welchen
Weg die Esten in Zukunft einschlagen werden, ist es hilfreich sich sowohl mit den
Herausforderungen als auch mit den Potentialen zu beschäftigen, denen sich das
Land in den kommenden Jahren stellen muss.
Die Herausforderungen
Zunächst ist festzuhalten, dass Estland in geografischer Hinsicht zwar eine wichtige
Landmarke an der Grenze zu Russland darstellt, aber von der Fläche (45 200 km 2)17
16
http://www.deutschbalten.de/
Klaus Schameitat, Estland entdecken, S. 18
17
31
eher unbedeutend ist. Kleinen Staaten wird meist ein geringes politisches Gewicht
auf internationaler Ebene zugeschrieben und außerhalb der eigenen Landesgrenzen
sind sie oft unbekannt. Außerdem ist zu bedenken, dass die 1.4 Mio. Esten nicht
dieselben Einflussmöglichkeiten in europäischen Institutionen haben wie
bevölkerungsreiche Staaten. Daher kann auf viele Entscheidungsprozesse nur im
sehr begrenzten Rahmen eingewirkt werden. Nichtsdestotrotz zeigen einige Länder
wie z.B. Luxemburg, dass nicht zwangsweise ein Zusammenhang zwischen der
Fläche und den Handlungsspielraum für Politiker bestehen muss. Das motiviert die
Esten natürlich und daher ist es ihnen auch wichtig, keine unerfahrenen
Abgeordneten nach Brüssel zu schicken, sondern kompetente und angesehene
Persönlichkeiten. Das zeigt sich beispielsweise an der Besetzung der aktuellen
Europäischen Kommission, wo von estnischer Seite Andrus Ansip vertreten ist und er
sich als Vizepräsident und Kommissar um den Bereich „Digitaler Binnenmarkt“
kümmert. Bis April 2014 hat er als Premierminister an der Spitze der Regierung in
seinem Heimatland gestanden und kann auf eine lange politische Laufbahn
zurückblicken. Somit ist zu erkennen, dass die Präsenz auf europäischer Ebene für
diese baltische Republik von großer Wichtigkeit ist und der geografische Nachteil so
gut wie möglich ausgeglichen werden soll.
Als eine weitere Herausforderung ist die bessere Integration der russischen
Bevölkerung zu sehen. Zwar kommt es kaum zu offenen Konfrontationen zwischen
den beiden Bevölkerungsgruppen, aber die Beziehungen sind von gegenseitigen
Misstrauen und Nichtbeachtung geprägt. Es kann aber durchaus als eine Chance
aufgefasst werden, dass sich allein aus demografischen Verhältnissen heraus in
diesem Bereich in Zukunft viel verändern wird. Die alte Generation von Russen, die
während der sowjetischen Besatzungszeit als Arbeiter nach Estland gekommen ist
und kaum ein Wort Estnisch spricht, wird immer kleiner. Gleichzeitig steigt der Anteil
der jungen Generation, die im Gegensatz zu ihren Eltern bereits im Kindergarten
oder in der Schule die estnische Sprache lernt und daher einfacher in die
Gesellschaft integriert werden kann. Um diesen Prozess zu unterstützen sollte die
Regierung gezielte Maßnahmen ergreifen, um Barrieren zwischen Esten und Russen
auf allen Ebenen abzubauen.
Nicht vergessen werden darf die Problematik des Drogen- und insbesondere des
Alkoholkonsums. Bei den Esten hat Alkohol einen ähnlichen Stellenwert wie in den
skandinavischen Ländern und in allen Bevölkerungsschichten wird viel und gerne
getrunken. Bei Feiern besteht oft mindestens die Hälfte des Buffets aus Getränken
wie Bier, Wein, Wodka und Schnaps und der Geschmack spielt meist nur eine
zweitrangige Rolle. Es scheint fast das Ziel zu sein, einen betrunkenen Zustand
herbeizuführen. Sowohl auf offiziellen Empfängen als auch auf der Geburtstagsfeier
der besten Freundin ist Besuchern und Einwanderern aus unterschiedlichen Ländern
dieses Trinkverhalten aufgefallen.
Es ist keine Seltenheit bereits am frühen Morgen viele Menschen, v.a. junge Männer,
mit ihrer Bierflasche durch die Straßen wanken zu sehen. Natürlich ist dies ein
Problem so gut wie jeder etwas größeren Stadt, aber in Estland erreichen die
Ausmaße ein anderes Niveau. In Narwa ist mir dieses traurige Bild am meisten
32
aufgefallen, selbst bei vergleichsweise angenehmen Temperaturen und strahlend
blauen Himmel. Jede Bank in Parks, Einkaufsstraßen und auf öffentlichen Plätzen
war von einer Gruppe Jugendlicher bzw. junger Erwachsener belegt und um sie
herum standen diverse Flaschen mit ihren „Suchtmittel“.
Die erschreckend hohe Zahl an tödlichen Verkehrsunfällen muss in Zusammenhang
mit dem Alkoholismus gesehen werden, da bei polizeilichen Kontrollen regelmäßig
festgestellt wird, dass die Fahrer die Promillegrenze nicht beachten. Daher ist
erklärbar, warum die Lebenserwartung der estnischen Männer lediglich bei 71,4
Jahren liegt, während im EU(28)-Durchschnitt ein Wert von 77,5 Jahren erreicht wird
(Daten von 2012)18. Fast jeder meiner Gesprächspartner konnte mir von Freunden
oder Bekannten berichten, die bereits einen schweren Unfall aus diesem Grund
hatten. Mir wurde immer geraten bei Dunkelheit möglichst den Verkehr zu meiden
und Reflektoren zu tragen, obwohl diese bei alkoholisierten Fahrern auch nur bedingt
hilfreich sein
dürften.
Wie in den
skandinavischen
Ländern auch
wird der
übermäßige
Alkoholkonsum
u.a. auf die
klimatischen
Verhältnisse
zurückgeführt,
da diese Völker
einen langen
und kalten
Winter
Im Bildungssystem sind Einflüsse aus der sowjetischen Besatzungszeit auch noch
überstehen
heutzutage vorhanden. Die Teilnahme an sportlichen und musikalischen Wettkämpfen
müssen. Es ist
gehört fest zum Stundenplan von jedem Schüler.
aber
nichtsdestotrotz eine Aufgabe für die estnische Regierung Lösungsstrategien für diese Problematik zu entwerfen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten.
Vor einigen Jahren wurde bereits die Regelung eingeführt, dass zwischen 22.00 und
10.00 Uhr kein Alkohol mehr verkauft werden darf, aber der Erfolg dieses Gesetzes
ist als niedrig einzustufen.
Da ich in Tallinn unter der Woche das TSG (Tallinna Saksa Gümnaasium) besucht
habe, konnte ich einen Einblick in den estnischen Schulalltag erhalten. Zunächst war
ich beeindruckt von den Disziplin und der Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und
Schüler und fast täglich standen Olympiaden oder Wettbewerbe auf dem Programm.
Die Lehrer der Deutschen Abteilung konnten meinen Eindruck nur bestätigen und im
18
http://wko.at/statistik/eu/europa-lebenserwartung.pdf
33
Gegensatz zu ihrem Berufsleben in der Heimat können sie sich hier fast
ausschließlich auf den Unterricht konzentrieren. Disziplinarverfahren sowie
Elterngespräche sind die absolute Ausnahme.
Jedoch kann das Bildungssystem als ein zweischneidiges Schwert bezeichnet
werden. Das Gewinnen von Goldmedaillen und Pokalen sowie das Auswendiglernen
langer Vokabellisten innerhalb kürzester Zeit gehört nicht allein zu einer
umfassenden Ausbildung und Werte wie kritisches Denken werden kaum vermittelt.
Es ist fast als paradox zu bezeichnen, dass die Esten einerseits keine Mühen
scheuen, um eine noch tiefere Integration in die westlichen Bündnissysteme zu
erreichen und zugleich an alten Strukturen aus der Sowjetzeit festhalten. Denn
dieses Leistungssystem mit dem ständigen Konkurrenzdruck und den unzureichend
vorhandenen Freiraum zur persönlichen Entwicklung, wurde nach der
Unabhängigkeit 1991 einfach fortgeführt. Die Esten sind stolz auf ihre junge
Generation und über 80% schließen die Schulausbildung mit dem Abitur ab.
Angemerkt sei aber, dass diese Prüfung nur bedingt mit den Leistungsanforderungen
in einigen anderen europäischen Ländern zu vergleichen ist und es an der
Universität oft zu Schwierigkeiten kommt. Vor dem Hintergrund der immer mehr
zunehmenden Einflüsse aus der europäisch-amerikanischen Konsumgesellschaft ist
im Bildungssystem ein Umbruch zu erwarten und es sollte dafür gesorgt werden,
dass diese Entwicklung auf die richtigen Schienen gelenkt wird.
Bei der Menge schwieriger Reformen, denen sich Estland seit 1990 unterzogen hat,
wurde eines bisher nicht geschafft: eine Reform der staatlichen Verwaltung.
Insgesamt wird das Land in 15 Landkreise und 226 Gemeinden unterteilt und der
administrative Mehraufwand kostet jedes Jahr viel Geld.
Als eine oder die zentrale Herausforderung für die Zukunft ist eindeutig die
Bevölkerungsentwicklung zu sehen und diese Problematik wirft ihren Schatten
bereits voraus. Mit 1.4 Mio. Einwohnern leben in Estland weniger Menschen als z.B.
in Hamburg (1.8 Mio. Einwohner)19 und die Geburtenzahl sinkt immer weiter. Die
Ursachen für diesen Prozess sind vielfältig, hängen aber alle miteinander zusammen.
Beginnen wir die Analyse mit einem positiven Aspekt. Ein Blick auf den estnischen
Staatshaushalt zeigt uns, dass das Land keine nennenswerten Schulen hat und in
dieser Hinsicht eine Sonderstellung innerhalb Europas einnimmt. Möglich ist dies
aber in erster Linie dadurch, dass die Gehälter auf einem extrem niedrigen Niveau
liegen und Lehrer z.B. erhalten pro Monat lediglich um die 700 bis 800€. Es ist somit
verständlich, dass viele junge und gut ausgebildete Esten besser bezahlte
Arbeitsplätze im Ausland annehmen, obwohl es ihnen meist schwer fällt die Heimat
zu verlassen. Sie hinterlassen eine große Lücke und der Mangel an Fachkräften wird
von Tag zu Tag größer. Die Konsequenzen zeigen sich in vielen Bereichen. Der
Gesundheitsbereich ist besonders hart betroffen und auf einen kleinen, recht
unkomplizierten chirurgischen Eingriff müssen die Patienten oft mehrere Jahre
19
http://de.statista.com/statistik/daten/studie/164790/umfrage/einwohnerzahl-deutschermillionenstaedte/
34
warten. Nicht unerwähnt bleiben darf die Tatsache, dass die Lebenserhaltungskosten
mittlerweile westeuropäisches Niveau erreicht haben und daher die meisten Esten in
mehreren Jobs gleichzeitig tätig sind. Hinzu kommt noch, dass der Sozialstaat nur
ansatzweise vorhanden ist und somit viele Aufgaben von der Familie übernommen
werden müssen, z.B. im Bezug auf die Versorgung alter Menschen, Kranker oder
Arbeitsloser.
Bemerkenswert ist, dass die meisten Esten mit ihren Leben sehr zufrieden sind,
obwohl sie mit ständigen finanziellen Sorgen konfrontiert werden. Wenn Geld auf
dem Konto ist, wird es auch ausgegeben und gespart wird nur bei äußerst kritischen
Engpässen. Außerdem wird auf staatlicher Ebene das Geld bereits eng reguliert,
sodass ein Großteil der Bevölkerung wenigstens Freiheit bei der Verwendung der
eigenen Ressourcen habe möchte.
Potenziale
Ich bin mir sicher, dass ein Großteil dieser Herausforderungen in Zukunft in ein
großes Potenzial umgewandelt werden kann, wenn sie von der estnischen
Regierung ernsthaft in Angriff genommen werden.
Es sei zuerst an die geografische Lage erinnert, denn durch die direkte
Nachbarschaft zu Russland kann den Esten eine Schlüsselrolle als Vermittler
zwischen den Machtblöcken im Osten und Westen zukommen. Angesichts der
momentanen politischen Situation muss dieser Gedanke natürlich relativiert werden,
aber in einigen Jahren können sich neue Entwicklungen abzeichnen. Auch aus dem
Transithandel kann sicherlich verstärkt Profit gezogen werden und in dieser Hinsicht
ist die enge Beziehung zu Finnland von zentraler Bedeutung.
Außerdem bietet sich die Chance zu einem Vorzeigeland bezüglich Integration zu
werden. Zwar existieren zurzeit noch große Barrieren zwischen den Teilen der
russischen und estnischen Bevölkerung, aber der demografische Wandel bringt
automatisch Veränderungen mit sich. Von staatlicher Seite sollte dieser Prozess
aufmerksam verfolgt und unterstützt werden.
Selbstverständlich muss auch die gut ausgebildete und leistungsorientierte junge
Bevölkerung als ein Reichtum des Landes gesehen werden. Es muss ein zentrales
Ziel der jetzigen und kommenden Regierung sein, den Brain-Drain zu stoppen, um
mehr eigene wirtschaftliche Kraft in der baltischen Republik zu halten. Denn die
jungen Esten verlassen ungern die Heimat und im Alter sowie in den Ferien kehren
sie meist zurück. Aber aus finanziellen Gründen locken die Stellenangebote im
Ausland und die sprachlichen Barrieren sind in der Regel relativ gering.
Wie in zahlreichen anderen Ländern muss auch der Tourismusbereich als
Entwicklungsfaktor aufgezählt werden und insbesondere der Besuch aus Finnland
bringt viel Geld in das Land. Die Infrastruktur ist bereits sehr gut ausgebaut und es
wird ununterbrochen an Verbesserungen gearbeitet. In jeglicher Hinsicht hat Estland
viel für neugierige ausländische Gäste zu bieten, denn es gibt viele Rad- und
Wanderwege, die Ostsee lädt im Sommer zum Baden ein und historische Städte wie
Tallinn und Tartu sind über die Landesgrenzen hinaus bekannt.
Abschließend möchte ich noch auf den Bereich „Neue Medien“ und die immer
35
häufiger verwendete Bezeichnung „E-Estonia“ eingehen. Bislang ist Estland der
einzige Staat der Welt, der seinen Bürgern ein verfassungsgemäßes Recht auf einen
kostenlosen Internetzugang garantiert und die digitale Revolution hat in zahlreichen
weiteren gesellschaftlichen Bereichen Einzug erhalten.
Als Estland 1991 unabhängig wurde, musste die Verwaltung, die Justiz und das
Kommunikationssystem neu aufgebaut werden. Zu diesem Zeitpunkt besaß knapp
die Hälfte der Esten überhaupt einen Telefonanschluss. Die estnischen Autoritäten
dachten sich „statt aufholen lieber gleich überholen“ und so wurde 1997 das
Programm „Tiigrihüppe“ ins Leben gerufen. Alle Schulen wurden an das Internet
angeschlossen und Informationstechnologien als Mittel zur Modernisierung
propagiert. Seit 2000 arbeiten die Abgeordneten im Riigikogu papierlos und daher
sind alle Sitze im Parlament mit Laptops ausgestattet. Im Anschluss an jede Debatte
haben interessierte Bürger die Gelegenheit den aktuellen Stand der
Gesetzesentwürfe zu
überprüfen und
Verhandlungen
können auch live
verfolgt werden. Als
erste Nation in Europa
können die Esten seit
2005 bequem per
Mausklick von
Zuhause an Wahlen
teilnehmen, aber
dieses E-Voting ist
umstritten und auch
Experten bemängeln
Sicherheitslücken.
Röntgenbilder aller
Im Riigikogu wird seit 2000 papierlos gearbeitet. Die Vorteile der „Neuen
Patienten sind auf
Medien“ wollen die Esten ausnutzen und haben dabei wenig Bedenken.
einer staatlichen
Datenbank gespeichert und den behandelnden Ärzten frei zugänglich.
Mit dem elektronischen Personalausweis wurde 2002 ein weiterer Schritt in die
moderne, digitalisierte Welt gewagt und die Einsatzmöglichkeiten sind enorm. Mit der
ID-Karte können die Esten Behördengänge über das Internet erledigen, ihre
Einkommenssteuererklärung einreichen, Bankgeschäfte tätigen, ein Busticket kaufen
und vieles mehr. Bezüglich Datenschutz machen sich nur wenige Bürger Gedanken
und es wird versucht, die digitalen Errungenschaften so effizient wie möglich
einzusetzen. Der Alltag kann so erheblich einfacher gestaltet werden und jeder
profitiert davon. Zwar erlebte Estland im April 2007 wie gefährliche eine große
Vernetzung sein kann, als ein Hackerangriff aus Russland sämtliche staatliche
Strukturen lahm legte. Aber es kam zu keiner deutlichen Bewusstseinsänderung und
lediglich die NATO gründete als Reaktion das „Gemeinsame Exzellenzzentrum für
Computer-Verteidigung“ in Tallinn, um sich auf eine mögliche neue Art der
36
Kriegsführung vorzubereiten.
In wirtschaftlicher Hinsicht möchte Estland die Informationstechnologie auch als
treibende Kraft für weiteres Wachstum ausnutzen und Forscher in diesem Bereich
sind sehr erfolgreich. So wurde z.B. Hotmail oder auch Skype in einem Tallinner
Vorort erfunden und hat für großes internationales Interesse gesorgt.
Allerdings sind die meisten elektronischen Produkte und Dienstleistungen für Estland
maßgeschneidert und nicht reif für eine Vermarktung auf der ganzen Welt. Weiterhin
werden neue innovative Ideen meist von ausländischen Unternehmern aufgekauft,
sodass die Errungenschaften aus diesem wirtschaftlichen und zukunftsweisenden
Bereich den Esten kaum zu gute kommen.
Ich bin mir sicher, dass sich Estland in den kommenden Jahren weiteren
Umwandlungsprozessen unterziehen muss und diese aufgrund der guten
Voraussetzungen in positiver Weise genutzt werden können. Somit kann diese kleine
Nation auf europäischer Ebene und in den Institutionen der EU an Einfluss oder
mindestens an Achtung gewinnen. Vor dem Hintergrund der immer noch
anhaltenden Euro-Krise in einigen südeuropäischen Ländern wie Griechenland sollte
das estnische System auch als ein Beispiel dienen, wie der Staatshaushalt
nachhaltig verwaltet werden kann. Und auch anderen europäischen Staaten kann
nur geraten werden, ab und zu einen Blick nach Nordosteuropa zu werfen, da sich
dort ein Land mit vielen Potenzialen immer mehr entfaltet.
37
Fazit
Einige Wochen sind vergangen seit meiner Rückkehr aus Estland. Ein guter
Zeitpunkt, um noch einmal die vielen Bilder und Erfahrungen vor seinem inneren
Auge vorbeiziehen zu lassen. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr mich diese Reise
geprägt hat und was ich durch meinen vierwöchigen Aufenthalt in diesem baltischen
Land lernen durfte.
Hinsichtlich meines Reisethemas „Estland, ein Land zwischen EU und Russland“
habe ich festgestellt, dass es nicht sinnvoll ist sich strikt auf seine Fragestellung zu
beschränken. Natürlich sollte diese niemals aus dem Auge verloren werden, aber es
ist wichtig immer offen für neue Erfahrungen zu sein. Recht schnell konnte ich
feststellen, dass es nicht ausreicht zu untersuchen, ob sich die Esten eher an
europäischen Werten orientieren oder ob sie vielleicht doch an die alten Zeiten des
Kommunismus zurückdenken. Schon vor meiner Reise konnte ich ausschließen,
dass sich das Land für intensive Beziehungen mit dem russischen Nachbarn
interessiert. Und auch die Option mit der EU erschien mir nicht zutreffend. Zweifellos
drängen die Politiker auf eine tiefere Integration in internationale Bündnissysteme,
aber die Bevölkerung sehnt sich in erster Linie nach völliger Unabhängigkeit. D.h.
weder Russland noch die EU sollten Vorschriften machen.
Selbstständigkeit und Freiheit, das sind wichtige Werte, die es jederzeit zu
verteidigen gilt und das wurde mir immer wieder bewusst. Als ich z.B. im TSG zu
Besuch war, wurde ein sog. „Aktus“ veranstaltet (eine Zeremonie in der Schule, die
dreimal pro Jahr abgehalten wird). Sowohl zum Anfang als auch zum Ende wurde
unter dem Singen der Nationalhymne die estnische Flagge durch den Saal getragen
und alle Schüler zeigten sich sehr patriotisch. Auch zu anderen Anlässen, wie
beispielsweise den Unabhängigkeitstag oder zum Eröffnen von Feiern, wurde die
Hymne gespielt und ich glaube, ich habe die Melodie schon fast so häufig gehört wie
die deutsche Nationalhymne. Gespräche mit den unterschiedlichsten Personen
bestätigten meine Annahme, dass die Esten stolz auf ihr Land sind, es selber
regieren wollen und sich davor sträuben die Zügel aus der Hand zu geben.
Abgesehen von dieser Erkenntnis konnte ich während der vier Wochen mal wieder
feststellen, wie sehr die Interpretation einer Situation doch vom Individuum, seiner
Sozialisation und seinen bisherigen Erfahrungen abhängt. Mittlerweile habe ich mich
daran gewöhnt, immer kritisch mit den Informationen aus Nachrichten und anderen
Medien umzugehen und wenn möglich selbst vor Ort gewesen zu sein, um eine
persönliche Stellungnahme zu formulieren. Deshalb war ich bereits sensibilisiert, als
ich mit meinen Rucksack und angelesenen Hintergrundwissen nach Estland
aufbrach, um mein Gedankenkonstrukt zu überprüfen. Erwartungsgemäß musste ich
mich einem kognitiven Umstrukturierungsprozess unterziehen, aber das war eine
spannende und bereichernde Erfahrung.
Jedoch ist mir aufgefallen, dass ich durch meine Position als Beobachterin der
estnischen Gesellschaft einen ganzen anderen Blickwinkel auf die Entwicklungen im
Land hatte als die Esten selber. Dank vieler Gespräche mit dem deutschen
38
Lehrpersonal des TSG und den Mitgliedern der deutschen Gemeinde von Tartu
wurde mir klar, dass ich nicht alleine mit meiner Meinung stehe. Die Politikerklasse
im Riigikogu teilt die Meinung der Bevölkerung, dass es ein Ziel jeder Regierung sein
sollte, die Überbleibsel aus sowjetischer Zeit möglichst effizient zu beseitigen. Im
politischen, wirtschaftlichen und auch im sozialen Bereich. Während es in den ersten
beiden genannten Bereichen recht gut funktioniert hat, ist diese Abwendung im
gesellschaftlichen Bereich erheblich schwerer. Den Esten ist selber z.B. nicht
bewusst, dass ihr auf Leistung und Disziplin ausgerichtetes Bildungssystem noch ein
Erbe aus der Sowjetzeit darstellt. Nein, sie sind vielmehr stolz darauf und melden
ihren Nachwuchs gerne für
die vielen Olympiaden und
Wettkämpfe an. Die
gewonnenen Medaillen und
Pokale werden gut sichtbar
im Haus präsentiert und es
ist wichtig im Leben auf
allen Ebenen Erfolg zu
haben. Das ist nur eines
von unzähligen Beispielen.
Ich möchte damit andeuten,
dass jedes Individuum auf
dieser Welt Situationen auf
eine andere Weise
interpretiert. Jeder nimmt
die Botschaften aus der
Tagesschau oder der
Frankfurter Allgemeine
anders wahr, sowohl der
Sender als auch der
Empfänger. Jeder bewertet
Vorfälle unterschiedlich,
abhängig davon welchen
kulturellen Hintergrund
Der Internationale Frauentag wird in Estland jedes Jahr groß
diese Person mit sich
gefeiert. Ein „Überbleibsel“ aus sowjetischer Zeit. Lea, Beate und ich
bekommen auf der Straße Bumen geschenkt.
bringt.
Diese Erkenntnis mag wenig spektakulär erscheinen, aber für mich persönlich ist sie
doch wichtig und bestärkt mich in meinem Wunsch noch viele Regionen dieser Welt
kennenzulernen. Mein Wertemaßstab und ebenfalls meine Definition vieler
grundlegender Begriffe haben sich in den vergangenen Jahren sehr verändert und
diese Entwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen.
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Jetzt, wo gerade die Bilder des Tallinner Flughafens vor meinem inneren Auge
vorbeiziehen, möchte ich mich herzlich bei der Schwarzkopf-Stiftung für die
Möglichkeit bedanken, dass ich diese unvergesslichen Erfahrungen machen durfte.
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Literaturverzeichnis
Zur thematischen Vorbereitung meiner Reise habe ich viele Informationen im
Internet, in Zeitschriften, Büchern und weiteren Medien gesammelt. Daher habe ich
im Folgenden nur die Literaturquellen aufgeführt, aus denen ich auch Zitate
entnommen habe.
Außerdem habe ich sehr viele Daten und Informationen von meinen zahlreichen
Gesprächspartnern erhalten. Neben vielen weiteren Personen sind v.a. zu nennen:
-Herr Ulrich Wiegand (Leiter der Deutschen Abteilung am TSG)
-Beate und Stephan Noe (Ehepaar aus Deutschland, lebt seit 2004 in Tartu)
-Professor Janno Reiljan (Professor am Wirtschaftsinstitut der Universität von Tartu)
-Professor Peter Friedrich (Professor am Wirtschaftsinstitut der Universität von Tartu)
-Familie Erikson aus Karina
Bücher
-Frank, Alexandra: Estland, Handbuch für individuelles Entdecken. Reise Know-How,
2011
-Herre, Sabine: Gebrauchsanweisung für das Baltikum. München: Piper Verlag
GmbH, 2014
-Knodt, Michèle: Die politischen Systeme der baltischen Staaten, eine Einführung.
VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2012
-Mark, Rudolf: Die Völker der ehemaligen Sowjetunion: Die Nationalitäten der GUS,
Georgiens und der baltischen Staaten, ein Lexikon. VS Verlag für
Sozialwissenschaften, 2012
-Schameitat, Klaus: Estland entdecken, Skandinavische Impressionen im nördlichen
Baltikum. Berlin: Trescher-Reihe Reisen, 2005
-Tuchtenhagen, Ralph: Geschichte der baltischen Länder. C.H. Beck, 2008
Internetseiten
-http://wko.at/statistik/eu/europa-lebenserwartung.pdf
-http://de.statista.com/statistik/daten/studie/164790/umfrage/einwohnerzahldeutscher-millionenstaedte/
-http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/waehrungseinfuehrung-der-eurokommt-nach-estland-wie-der-schnee-1572721.html
-http://de.wikipedia.org/wiki/Grenze_zwischen_Estland_und_Russland
-http://www.n-tv.de/politik/Obama-sichert-Baltikum-ewigen-Beistand-zuarticle13540216.html
-http://www.en.europeonline-magazine.eu/die-russische-minderheit-inestland_379491.html
-http://www.deutschbalten.de/
-http://www.roedl.com/fileadmin/user_upload/Roedl_Lithuania/Newsletter/Baltikumsbrief- Unternehmenskommunikation_Roedl-Partner-20130131.pdf
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Danksagung
Obwohl es unmöglich ist allen zu danken, die mir vor, während und auch nach
meiner Reise ihre Freundschaft bekundet und Hilfe angeboten haben, möchte an
dieser Stelle einige Personen erwähnen, die für die Realisation meines Projektes
unverzichtbar waren.
An erster Stelle möchte ich der Schwarzkopf-Stiftung ein herzliches Dankeschön
aussprechen, da das Stipendium die Grundvoraussetzung für meine Reise war. Ich
bin nach wie vor von der Idee begeistert, jungen Erwachsenen die Möglichkeit zu
bieten, im Ausland eigenständig Erfahrungen zu sammeln.
Meinen Gastgeberinnen und Gastgebern in Estland bin ich sehr dankbar für die
Gelegenheit, dass ich einen tiefen, authentischen und unvergesslichen Einblick in
das estnische Alltagsleben nehmen konnte.
-In Tallinn: Anneli Tombak
-In Tartu: Stephan, Beate und Lea Noe
-In Kadrina: Familie Erikson
Insbesondere Külli Erikson hat mir bei meinen Planungen sehr geholfen, auch in sehr
schwierigen Situationen.
Dank Herr Ulrich Wiegand war es möglich, dass ich das estnische Schulsystem
kennenlerne und viele interessante Erfahrungen sammeln konnte. Außerdem hat er
mir viel von seinen persönlichen Eindrücken berichtet, denn er beobachtet die
Entwicklungen in Estland sehr genau.
Durch die Gespräche mit Professor Reiljan, Friedrich und Tulviste konnte ich nicht
allein meine thematischen Kenntnisse bezüglich meines Reisethemas erweitern,
sondern auch spannende Menschen kennenlernen.
…
Diese Liste könnte ich noch beliebig lange fortsetzen.
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