Lernen im 21. Jahrhundert

„Kurier" vom 07.09.2015 Seite: 8 Ressort: Sonder Abend, Morgen
Lernen im 21. Jahrhundert
Christiane Spiel. Was Schule aus Sicht der Wissenschaft leisten
muss und wie sich das Bildungssystem verändern sollte:
Darüber hat die Bildungspsychologin pünktlich zum Schulstart
ein Buch geschrieben.
An Österreichs Schulen muss sich etwas ändern. Ein Satz, den viele unterschreiben
können. Doch welche Reform braucht es? Bei dieser Diskussion spielen
wissenschaftliche Erkenntnisse kaum eine Rolle. Mit dem Buch "Schule. Lernen fürs
Leben?" will Bildungspsychologin Christiane Spiel die Debatte versachlichen und auf
ein wissenschaftliches Fundament stellen.
KURIER: In Österreich wird die Bildung eher aufgrund von Ideologien reformiert und
weniger aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse. Frustriert das?
Christiane Spiel: Wie reformiert wird, ist eine Frage der Kultur. Österreich ist kein
Land, in dem radikale Reformen gemacht werden. Der Gordische Knoten wird nicht
mit dem Schwert zerschlagen, sondern eher mühsam aufgewickelt. Die
Interessensvertreter werden sehr gehört. Das ist auf der einen Seite gut, weil alle von
Anfang an eingebunden sind. Auf der anderen Seite führt es dazu, dass Reformen
schwierig sind, und wir lange brauchen, bis wir überhaupt anfangen. Das ist im
Bildungsbereich ein Problem, da Effekte von Reformen erst Jahre später sichtbar sind.
Der Lehrer ist der zentrale Faktor für den Schulerfolg. Wo ist in der Aus- und
Weiterbildung noch zu verbessern?
Das neue Lehrerbildungsgesetz ist ein wichtiger Schritt. Es ist allerdings noch eine
beachtliche Herausforderung, das Gesetz so umzusetzen, dass die gesetzten Ziele
wirklich erreicht werden. Das ist aus mehreren Gründen so. Erstens: Die
Pädagogischen Hochschulen (PH) und Universitäten sind nicht optimal vorbereitet.
Zweitens: Wir haben keine Kultur der Kooperation zwischen Institutionen, nicht nur
zwischen PH und Uni, sondern auch zwischen Uni und Uni. Die Hochschulen stehen
in Konkurrenz zueinander; da ist es schwierig, einen Institutionen-Egoismus
aufzugeben. Hier braucht es zusätzliche Anreize. Kooperation fehlt ja auch im
Klassenzimmer. Nicht alle Lehrkörper verstehen sich als Team, das an einem Strang
zieht. Häufig betonen Lehrer explizit: "Ich bin ein Einzelkämpfer". Das macht Stress.
Wir wissen, dass dort, wo Lehrer zusammenarbeiten, bessere Erfolge bei Schülern
erzielt werden. Wenn ich mich über Schüler und Lehrpläne austausche, Tests
wechselseitig korrigiere etc., unterstützt das mich und indirekt auch die Schüler. Und
als Mitglied eines Teams bin ich auch eingebunden und psychisch entlastet. Ein guter
Lehrer muss mehr sein als ein guter Teamplayer. Die "Lehrerbildung neu" setzt hier
an. Sie sieht mehr Zeit für Schulpraxis vor und soll vermitteln, dass pädagogisches
Handeln genauso wissenschaftlich basiert ist wie etwa ein Physikexperiment. Wenn
ein Lehrer eine Maßnahme wie z. B. Feedback setzt, dann wissen wir aus Studien,
welche Effekte es auf Schülerinnen und Schüler haben wird. Zentral ist das
Professionsverständnis: Lehrer sollten sich in erster Linie als Pädagogen verstehen das Fach ist die Form, in der sie Pädagogik ausüben.
Direktoren sind ein wichtiger Faktor. Was läuft bei ihrer Auswahl und Ausbildung
schief?
Es gibt noch keine etablierte Ausbildung. Die Frage muss sein: Welche
Managementkompetenz braucht es speziell für diese Institution? Eine
Masterausbildung zu etablieren wäre ein gutes Signal, um zu definieren, was ein
Direktor können muss. Wer die Ausbildung macht, wüsste, worauf er sich einlässt.
Sie schlagen ein mittleres Management an Schulen vor.
Führung heißt auch, dass ich Mitarbeitergespräche führe, für Schulentwicklung und
Qualitätssicherung verantwortlich bin etc. - insbesondere, wenn die Schulautonomie
ausgebaut wird. In einer großen Schule kann das von einem Schulleiter nicht geleistet
werden. Es bräuchte die Unterstützung durch ein mittleres Management. Solche
Stellen wären einen neue Berufsperspektive für Lehrer.
Wäre das finanzierbar?
Schwer zu sagen. Ich habe mich immer wieder bei Schulökonomen erkundigt, wo das
Geld im Schulsystem hinfließt. Niemand konnte das klar beantworten. Laut OECD
haben wir wenig Schüler pro Lehrer. De facto sind - besonders in Wien - viele Schüler
in einer Klasse, was aufgrund des Migrantenanteils problematisch ist. Es wäre
interessant, wo das Geld hinfließt. - Ute Brühl
Sechs Schritte zur erfolgreichen Bildungsreform
Leitlinien. Christiane Spiel über die drängendsten Probleme in
der Schule und ihre Lösungen
Pünktlich zum Schulstart hat die Bildungspsychologin Christiane Spiel ein Buch
veröffentlicht. Titel: "Schule. Lernen fürs Leben". Darin fasst sie zusammen, welche
Bildungsreformen aus Sicht der Wissenschaft dringlich sind.
Möglichst früh ansetzen Je früher man fördert, desto effektiver ist es. Dazu braucht
es eine breite Entwicklungsdiagnostik. Wo sich Auffälligkeiten zeigen, muss näher
hingeschaut werden. Die gezielte Förderung selbst sollte im Dreieck zwischen Eltern,
Pädagogen und Kind geschehen.
Gute Lehrer Pädagoginnen und Pädagogen sind der Schlüssel für den Erfolg. Das
hat die Hattie-Studie eindeutig bewiesen. Eine gute pädagogische Ausbildung ist
deshalb die Basis für einen guten Lehrer. Damit ist es nicht getan. Neben
Einzelweiterbildung braucht es auch eine verpflichtende Schulentwicklung, an der sich
alle Lehrer aktiv beteiligen.
Schulen stärken und unterstützen Die Pädagoginnen und Pädagogen vor Ort
wissen am besten, was für die Kinder gut ist. Damit aber am Standort diese
Verantwortung wahrgenommen werden kann, braucht es Autonomie und Leadership:
dafür ausgebildete Direktoren, Ressourcen sowie externe Unterstützung, und ein noch
zu schaffendes mittleres Management, das auch neue Berufsperspektiven für
Lehrerinnen und Lehrer ermöglicht. Zu einem neuen Lehrerbild gehört auch, dass das
Stundenzählen bei den Pädagogen einem Jahresarbeitszeitmodell weicht.
Wissenschaft als Basis Es ist nicht möglich, Bildungssysteme aus anderen Ländern
1:1 zu übernehmen - zu unterschiedlich sind die Kultur und die Bürokratie in den
verschiedenen Staaten. Deshalb braucht es Forschung über die Realität an
Österreichs Schulen und entsprechende Konzepte zur Verbesserung sowie zur
Implementation von Maßnahmen.
Flächendeckende Umsetzung Es reicht nicht, nur Reformmaßnahmen zu
beschließen, sondern es braucht auch entsprechende Transfer- und
Implementationskonzepte. Dazu ist es nötig, dass man alle Pädagoginnen und
Pädagogen - die Befürworter und ganz besonders auch die Gegner von Neuerungen
- mit ins Boot holt.
Fit für die Welt von morgen Niemand weiß genau, wie die Zukunft aussehen wird,
auf die die Schule vorbereiten soll. Junge Menschen werden jedenfalls eine hohe
Bildungsmotivation brauchen, die es ermöglicht eigenständig zu lernen. Auch
Problemlösungskompetenz und die Fähigkeit, mit Informationen kritisch umzugehen,
werden sie für ihre Zukunft brauchen. Für den Schulalltag heißt das: Weg von der
passiven Berieselung im Unterricht hin zu einer aktiv und auch positiv besetzten
Lernzeit. Insgesamt eine beachtliche Herausforderung für Lehrerinnen und Lehrer, die
selbst eine andere Welt erlebt haben, als sie jung waren.