Weg der Entstigmatisierung weitergehen

BAYERISCHE STAATSZEITUNG
NR. 37
AUS DEN BEZIRKEN
FREITAG, 18. SEPTEMBER 2015
13
VERÖFFENTLICHUNG DES BAYERISCHEN BEZIRKETAGS
40 Jahre Psychiatrie-Enquetekommission – Rückblick und Ausblick auf ein sensibles Thema
„Weg der Entstigmatisierung weitergehen“
Mit einem Tag der offenen Tür
feiert das Schullandheimwerk Mittelfranken am Sonntag, 20. September, das 40-jährige Bestehen
seiner Einrichtung in Heidenheim,
Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen. Die Feier beginnt 11 Uhr.
Bis 16 Uhr läuft auf dem Gelände
des Schullandheims am Hahnenkamm dann ein buntes Programm
mit Streichelzoo, Ponyreiten,
Flohmarkt,
Naturerlebnisaktionen und einer Tombola. Der Bezirk
Mittelfranken fördert das Schullandheimwerk seit 1973, seit 1990
ist er ordentliches Mitglied des Vereins. Der Investitionszuschuss des
Bezirks summierte sich in den vergangenen zehn Jahren auf 630 000
Euro. Allein für das Schullandheim Heidenheim stellte der Bezirk im Zeitraum von 2005 bis 2014
140.000 Euro zur Verfügung. > E.B.
I
m September 1975 wurde nach
vierjähriger Arbeit die Psychiatrie-Enquetekommission
dem
Bundestag vorgelegt. Der Bericht
über die Lage der Psychiatrie in
der Bundesrepublik Deutschland wurde von einer Kommission aus zirka 200 Mitarbeitern aus
allen Bereichen der Psychiatrie erstellt.
Diese Lage war katastrophal und
das 40-jährige Jubiläum gibt Anlass
zur Nachfrage: Was wurde bisher
erreicht und wo besteht weiterer
Bedarf an Verbesserungen im Bereich der Psychiatrie? „Es ist auf
Empfehlung der Enquete seither
viel geschehen, vor allem bei der
Umstrukturierung der Psychiatrischen Krankenhäuser von Verwahr- zur Behandlungs-Psychiatrie, ebenso bei Aus- und Fortbildung, Beratungsdiensten und
Selbsthilfe-Gruppen. Es gibt aber
immer noch vieles zu verbessern.“
Das sagt die Professorin für Psychiatrie und Fachärztin für Neurologie und Psychotherapie, Margot
Albus, seit 2007 Ärztliche Direktorin am Klinikum München-Ost,
dem früheren Bezirkskrankenhaus
Haar. Sie ist Mitglied der EthikKommission von Bayerns Landesärztekammer.
Koordinatorin für
Inklusion beim
Bezirk Unterfranken
Größter Nachholbedarf
aller Medizinbereiche
Von allen Bereichen der Medizin
hatte die Psychiatrie nach dem
Zweiten Weltkrieg den größten
Nachholbedarf. Vor dem Dritten
Reich wurden psychisch Kranke
wie geistig behinderte Menschen in
den gleichen Verwahranstalten allenfalls mit Elektroschocks, Insulin oder Cardiazol behandelt und
bei beschränkter Mitarbeit in großen Sälen lebenslang weggesperrt.
Im Dritten Reich wurde ihr „unwertes Leben“ im so genannten Euthanasie-Programm durch systematische Ermordung beendet. Die
Verwahrung in psychiatrischen
Krankenhäusern ging nach 1945
meist so weiter wie in den „Irrenanstalten“ vor dem Krieg.
Etliche an der „Euthanasie“ beteiligte
Psychiatrie-Patriarchen
herrschten unbehelligt weiter, bis
in den 1960er Jahren junge Psychiater rebellierten. In einem Zwischenbericht zu schwerwiegenden
Mängeln stellte die Kommission
schon 1973 fest, „dass eine sehr
Tag der offenen Tür
im mittelfränkischen
Schullandheimwerk
Blick in einen Betten-Saal der Psychiatrie Anfang des vorigen Jahrhunderts. Auch diese wurden nach 1975 im Zuge der Psychiatrie-Reform nach und nach
abgeschafft.
FOTO KBO
große Zahl psychisch Kranker und
Behinderter in den stationären
Einrichtungen unter elenden, zum
Teil menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen leben
müssen“.
Das Jubiläum der Enquete zeigt,
dass diese Zustände nicht Jahrhunderte zurückliegen, sondern die
ersten humanen Verbesserungen
gerade einmal vor 40 Jahren begonnen haben. Seither ist von den Bezirken viel getan worden, Angst vor
„der Psychiatrie“ und Stigmatisierung psychisch Kranker in der Bevölkerung abzubauen. Es gibt aber
noch Vorurteile. Albus: „Psychiatrie wird oft mit der Forensik für
psychisch kranke oder suchtkranke Straftäter gleichgesetzt.“
Medienwirksame Skandale wie
die Fälle Gustl Mollath, Ilona
Haslbauer und umstrittene psychiatrische Gutachten haben zweifellos wieder Rückschläge bewirkt:
„Die Entstigmatisierung der Psychiatrie muss wieder neu aufgebaut
werden,“ bedauert Albus und ergänzt: „Auf Unwissen über Psychiatrie beruhende Vorurteile erschweren die Inklusion psychisch
Behinderter in den normalen Lebensbereich und Arbeitsmarkt.
Dafür tun die Bezirke auch viel, die
Bedingungen am Arbeitsmarkt
sind aber härter geworden.“
„Manchmal muss
man leider fixieren“
In den Medien wechselt aber
leicht die Stimmung gegenüber
psychiatrischen
Einrichtungen.
Albus: „Einmal wird gefordert, psychisch Kranke möglichst lange in
Verwahrung zu halten, ein andermal, dass sie schneller rauskommen. Manchmal muss man bei ag-
gressiven und selbstgefährdeten
Patienten leider auch fixieren oder
mit Medikamenten zwangsbehandeln, bevor man mit einer Therapie
beginnen kann.“
Da psychisch Kranke oft in ihrer
näheren Umgebung mit Vorbehalten rechnen, sind viele nicht daran
interessiert „wohnortnah“ untergebracht, sondern lieber in mehr
Anonymität behandelt zu werden.
Verbesserungen bedarf es nach Ansicht von Albus in stärkerer Differenzierung bei Behandlung und
Wohnformen für langfristig psychisch Behinderte: „In jedem Einzelfall müssen wir prüfen, ob eine
psychiatrische Behandlung stationär oder teilstationär notwendig
oder ambulant möglich ist, aber
auch ob wir die Möglichkeit dazu
haben. Für wen benötigt man auf
Dauer Heime oder wo ist selbstbestimmtes, betreutes Wohnen besser?“ Die Verkleinerung psychi-
atrischer Großkliniken zugunsten
wohnortnaher, kleinerer Kliniken
hat seit der Psychiatrie-Enquete
große Fortschritte gemacht.
In der Dezentralisierung psychiatrischer Abteilungen mit Angliederung an somatische Krankenhäuser sieht Albus Vorteile, sofern
die Abteilungen groß genug sind:
„Wenn sie zu klein sind, sind sie
personalaufwändiger und es können zu wenig spezialisierte Behandlungsmethoden angeboten
werden.“ Insgesamt sieht Albus in
diesen 40 Jahren viele Fortschritte
in der Psychiatrie. Sie warnt aber
sehr deutlich: „Ich befürchte eine
negative Entwicklung durch das
neue Entgeltsystem mit leistungsbezogenen Fallpauschalen für psychische Krankheiten. Dazu kommt
ein absurder Aufwand an Dokumentation. Die Zeit dafür fehlt uns
dann leider für die Patienten.“
> HANNES BURGER
Im Bayreuther
Kurpark wird nur
„frängisch“ geredet
Besuch von Roland Klinger, Verbandsdirektor des Kommunalverbands für Jugend und Soziales Baden-Württemberg
Am Sonntag, 20. September
2015, wird im Kurpark von Bad
Berneck (Landkreis Bayreuth) gesprochen, wie den Oberfranken
der Schnabel gewachsen ist. Die
Veranstaltung beginnt um 13 Uhr
und soll zirka fünf Stunden dauern. Der Eintritt ist frei. Im Mittelpunkt steht dabei als Leitmotiv die
Bodwanna. Ganz passend zum
traditionellen Kurort, sagt Rüdiger
Baumann von der Arbeitsgemeinschaft Mundart-Theater Franken:„Unseren Besuchern bieten
wir in diesem schönen Ambiente
quasi eine Kur für’s Ohr.“ Schon
zum 18. Mal organisieren die Arge
und der Bezirk Oberfranken diese
Veranstaltung, bei der nur „frängisch“ auf dem Programm steht.
„Die oberfränkische Mundart ist
sehr vielschichtig“, erklärt Barbara
Christoph, die als Leiterin der KulturServiceStelle beim Bezirk für
die Veranstaltung verantwortlich
ist. „Diese Vielschichtigkeit ist das
geschichtliche Erbe kleinteiliger
Herrschaftsgebiete. Mundart ist
einfach wichtig für die eigene Identität, für die Identität einer Region“, stellt sie den Wert der Mundart
heraus. 14 Autoren sowie Schauspielgruppen geben Einblicke in
die Prosa und Lyrik Oberfrankens
und zeigen ihre Stücke. Für den
Fall von schlechtem Wetter ist eine
Verlegung in das Veranstaltungszentrum KuKuK geplant. > E.B.
Gerne war Professor Roland
Klinger, Verbandsdirektor des
Kommunalverbands für Jugend
und Soziales Baden-Württemberg
(KVJS) der Einladung von Josef
Mederer, Präsident des Bayerischen Bezirketags, zum Meinungsaustausch in die Geschäftsstelle
nach München gereist. Gegenstand des Gesprächs war dabei in
erster Linie ein Ausloten von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der beiden Verbände. Denn die
Zuständigkeiten bei der sozialen
sowie gesundheitlichen Daseinsvorsorge sind von Bundesland zu
Bundesland anders geregelt.
Der KVJS ist überörtlicher Träger der Sozialhilfe, Jugendhilfe
und Kriegsopferfürsorge sowie der
überörtlichen Betreuungsbehörde
und des Integrationsamtes. Der
Verband berät und unterstützt darüber hinaus die 44 Stadt- und
Landkreise in Baden-Württemberg als örtliche Träger bei diesen
Aufgabenfeldern. Neben eigenen
Forschungsprojekten
werden
auch zahlreiche Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen
überwiegend für die Fachkräfte der Sozialund Jugendhilfe in den Verwaltungen der Stadt- und Landkreise angeboten. Die Gründung erfolgte
zum 1. Januar 2005 durch das Jugend- und Sozialverbandsgesetz.
In der Unterredung der beiden
Verbandsvorsitzenden
wurde
„Kostenverständnis erst noch schaffen“
Gedankenaustausch in München (von links): Professor Roland Klinger, Stefanie Krüger, geschäftsführendes Präsidialmitglied des Bayerischen Bezirketags, und Präsident Josef Mederer.
FOTO KIERMEYER
deutlich, dass auch in BadenWürttemberg die Inklusion eines
der beherrschenden Themen ist.
Laut Professor Klinger entspreche
jedoch die öffentliche Wahrnehmung nicht unbedingt der Realität.
Menschen mit Behinderungen und
ihre Bedürfnisse ließen sich in ihren Anliegen nicht verallgemeinern. Deshalb seien gute Ergebnisse nur mit einem Mehr an Individualität zu erreichen. Josef Mederer unterstützte diese Auffassung.
Dabei betonte er, dass Inklusion
nicht zum gleichen Tarif umgesetzt werden könne wie die bishe-
rige Behindertenarbeit. Für die
zusätzlich anfallenden Kosten
müsse das Verständnis teilweise
noch geschaffen werden. Bei dem
Gespräch zeigte sich deutlich,
dass die südlichen Bundesländer
bei der Bewältigung sozialer Aufgaben viele Gemeinsamkeiten aufweisen. In Bayern und BadenWürttemberg sind die Interessen
insbesondere deswegen auch
gleich geartet, da die Entgelte in
beiden Bundesländern kommunal
finanziert werden. Deshalb müsse
die „Südschiene“ vor allem auf
Bundesebene verstärkt zusam-
Mit einer „Koordinatorin für Sozialplanung und Inklusion“ will
der Bezirk Unterfranken die „UNKonvention über die Rechte von
Menschen mit Behinderung“ weiter vorantreiben. Beim Bezirk koordiniert die Verwirklichung der
Inklusion jetzt die Pädagogin Anne-Katrin Jentsch, die der Leiter
der bezirklichen Sozialverwaltung, Peter Ditze, unlängst in ihr
neues Amt einführte.
Dabei machte die neue Koordinatorin deutlich, dass Inklusion
nicht Sache einiger Experten sei,
sondern ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag. „Die ganze Gesellschaft ist aufgerufen, Menschen
mit Behinderung in ihre Mitte zu
holen“, so die Auffassung der
49-Jährigen. Ihre Aufgabe sehe sie
insbesondere „im Netzwerken“.
„Ich habe mir vorgenommen,
durch intensive Kommunikation
mit allen Beteiligten, den Prozess
zu einer inklusiven Gesellschaft
weiter voranzubringen!“
Bei Ihrer Aufbauarbeit kann sie
auf die Grundlagen setzen, die der
Bezirk bereits geleistet hat. So unterstützt er als dritte kommunale
Ebene bereits erfolgreich die viel-
menarbeiten, hieß es bei dem Gedankenaustausch. Beide Verbände sind Mitglieder in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Höheren
Kommunalverbände, deren Vorsitzender Klinger ebenfalls ist. 18
Kommunalverbände aus insgesamt acht Bundesländern haben
sich in Form einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen, um
kommunale Interessen auf dem
Gebiet der Sozial-, GesundheitsSchul- und Jugend- sowie Kulturpolitik zu bündeln und zu repräsentieren.
Klinger und Mederer wollen
auch weiterhin in einem engen
Schulterschluss ihre Interessen auf
Bundesebene vertreten. Im Bereich des Bundesteilhabegesetzes
sei dies bereits geschehen. Allerdings bedauern beide, dass die großen Versprechungen in Bezug auf
das Bundesteilhabegeld, die die
Große Koalition zu Beginn der Legislaturperiode gemacht habe,
nicht eingehalten wurden. Ein großes Stück Glaubwürdigkeit sei dadurch verlorengegangen, so die
beiden
Verbandsvorsitzenden.
Mederer betonte aber gerade deshalb auch noch einmal, wie wichtig
der Austausch und ein gutes Einvernehmen der Höheren Kommunalverbände seien. Denn nur gemeinsam könne man sich auf Bundesebene politisches Gehör verschaffen.> MICHAELA KIERMEYER
Die Pädagogin
Anne-Katrin
Jentsch ist 49
Jahre alt.
FOTO MAURITZ
fältigen niederschwelligen Angebote in den Bereichen Arbeit, Wohnen, Bildung und Freizeitgestaltung.
Besonders herausragende Projekte werden seit diesem Jahr mit
dem „Unterfränkischen Inklusionspreis“, der am 1. Oktober überreicht werden soll, gewürdigt. Darüber hinaus will Anne-Katrin
Jentsch aber auch neue Strukturen
auf den Weg bringen, um die Versorgungsangebote noch besser zu
vernetzen und die Versorgungsmöglichkeiten zu aktivieren. Darüber hinaus gehört zu ihren Aufgaben, die Sozialverwaltung bei inklusiven Angeboten oder Projekten zu beraten und zu unterstützen.
Großen Wert legt die Pädagogin
nicht zuletzt auf Info- und Fortbildungsveranstaltungen, denn „erst
wenn die breite Mehrheit der Bevölkerung die Inklusions-Ziele
mitträgt, wird der Weg zu einer inklusiven Gesellschaft dauerhaft
gelingen“, so die Überzeugung der
neuen Inklusions-Koordinatorin.
Für Ihre neue Aufgabe ist AnneKatrin Jentsch bestens gerüstet.
Nach ihrem Studium fand sie Anfang der 1990er Jahre den Weg ins
Bezirkskrankenhaus Schloss Werneck, wo sie fast zwanzig Jahre lang
als Sozialpädagogin und Mediatorin arbeitete. Und auch in der Bezirks-Hauptverwaltung ist sie keine Unbekannte mehr, denn hier ist
sie bereits seit 2011 beschäftigt.
> MARKUS MAURITZ