Abi Deutsch 6

Originalklausur
mit Musterlösung
Abitur Deutsch
Aufgabe I:
Aufgabe II:
Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz
Peter Rühmkorf: Gestelzte Manierlichkeiten
In den Aufgabenstellungen werden unterschiedliche Operatoren (Arbeitsanweisungen) verwendet; sie weisen auf unterschiedliche Anforderungsbereiche
(Schwierigkeitsgrade) hin und bedeuten, dass unterschiedlich viele Punkte
erzielt werden können. Die Lösungen zeigen beispielhaft, welche Antworten
die verschiedenen Operatoren erfordern.
Alles Wissenswerte rund um die Abiprüfung finden Sie im Buch im Kapitel
„Prüfungsratgeber und Prüfungsaufgaben“.
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Für die Fächer Deutsch, Englisch, Mathematik, Geschichte,
Biologie, Chemie, Physik sowie Politik und Wirtschaft
Zentralabitur 2008
Deutsch
Aufgabe I
eA
Schülermaterial
Bearbeitungszeit: 300 min
Aufgabenstellung
1. Interpretieren Sie den vorliegenden Textauszug aus „Berlin Alexanderplatz“ von
Alfred Döblin.
2. Setzen Sie sich mit der Frage auseinander, inwiefern die Figurenkonzeptionen von
Franz Biberkopf und Lenz unter dem Aspekt von Ich- und Wirklichkeitszerfall miteinander vergleichbar sind.
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Zentralabitur 2008
Deutsch
Aufgabe I
eA
Schülermaterial
Bearbeitungszeit: 300 min
Material
Auszug aus: Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf
(1929)
(abgedruckt in: Alfred Döblin: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Hg. von W. Stauffacher. Zürich; Düsseldorf 1996, S. 15–17.)
Mit der 41 in die Stadt
Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei. Gestern hatte er
noch hinten auf den Äckern Kartoffeln geharkt mit den andern, in Sträflingskleidung, jetzt ging er im gelben Sommermantel, sie harkten hinten, er war frei. Er
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ließ Elektrische auf Elektrische vorbeifahren, drückte den Rücken an die rote
Mauer und ging nicht. Der Aufseher am Tor spazierte einige Male an ihm vorbei,
zeigte ihm seine Bahn, er ging nicht. Der schreckliche Augenblick war gekommen (schrecklich, Franze, warum schrecklich?), die vier Jahre waren um. Die
schwarzen eisernen Torflügel, die er seit einem Jahre mit wachsendem Widerwil-
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len betrachtet hatte (Widerwillen, warum Widerwillen), waren hinter ihm geschlossen. Man setzte ihn wieder aus. Drin saßen die andern, tischlerten, lackierten, sortierten, klebten, hatten noch zwei Jahre, fünf Jahre. Er stand an der Haltestelle.
Die Strafe beginnt.
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Er schüttelte sich, schluckte. Er trat sich auf den Fuß. Dann nahm er einen Anlauf und saß in der Elektrischen. Mitten unter den Leuten. Los. Das war zuerst,
als wenn man beim Zahnarzt sitzt, der eine Wurzel mit der Zange gepackt hat
und zieht, der Schmerz wächst, der Kopf will platzen. Er drehte den Kopf zurück
nach der roten Mauer, aber die Elektrische sauste mit ihm auf den Schienen
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weg, dann stand nur noch sein Kopf in der Richtung des Gefängnisses. Der Wagen machte eine Biegung, Bäume, Häuser traten dazwischen. Lebhafte Straßen
tauchten auf, die Seestraße, Leute stiegen ein und aus. In ihm schrie es entsetzt:
Achtung, Achtung, es geht los. Seine Nasenspitze vereiste, über seine Backe
schwirrte es. «Zwölf Uhr Mittagszeitung», «B. Z.», «Die neuste Illustrirte», «Die
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Funkstunde neu», «Noch jemand zugestiegen?» Die Schupos haben jetzt blaue
Uniformen. Er stieg unbeachtet wieder aus dem Wagen, war unter Menschen.
Was war denn? Nichts. Haltung, ausgehungertes Schwein, reiß dich zusammen,
kriegst meine Faust zu riechen. Gewimmel, welch Gewimmel. Wie sich das bewegte. Mein Brägen hat wohl kein Schmalz mehr, der ist wohl ganz ausgetrockNiedersächsisches Kultusministerium
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Deutsch
Aufgabe I
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net. Was war das alles. Schuhgeschäfte, Hutgeschäfte, Glühlampen, Destillen.
Die Menschen müssen doch Schuhe haben, wenn sie so viel rumlaufen, wir hatten ja auch eine Schusterei, wollen das mal festhalten. Hundert blanke Scheiben,
laß die doch blitzern, die werden dir doch nicht bange machen, kannst sie ja kaputt schlagen, was ist denn mit die, sind eben blankgeputzt. Man riß das Pflaster
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am Rosenthaler Platz auf, er ging zwischen den andern auf Holzbohlen. Man
mischt sich unter die andern, da vergeht alles, dann merkst du nichts, Kerl. Figuren standen in den Schaufenstern in Anzügen, Mänteln, mit Röcken, mit Strümpfen und Schuhen. Draußen bewegte sich alles, aber – dahinter – war nichts! Es –
lebte – nicht! Es hatte fröhliche Gesichter, es lachte, wartete auf der Schutzinsel
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gegenüber Aschinger zu zweit oder zu dritt, rauchte Zigaretten, blätterte in Zeitungen. So stand das da wie die Laternen – und – wurde immer starrer. Sie gehörten zusammen mit den Häusern, alles weiß, alles Holz.
Schreck fuhr in ihn, als er die Rosenthaler Straße herunterging und in einer kleinen Kneipe ein Mann und eine Frau dicht am Fenster saßen: die gossen sich
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Bier aus Seideln in den Hals, ja was war dabei, sie tranken eben, sie hatten Gabeln und stachen sich damit Fleischstücke in den Mund, dann zogen sie die Gabeln wieder heraus und bluteten nicht. Oh, krampfte sich sein Leib zusammen,
ich kriege es nicht weg, wo soll ich hin? Es antwortete: Die Strafe.
Er konnte nicht zurück, er war mit der Elektrischen so weit hierher gefahren, er
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war aus dem Gefängnis entlassen und mußte hier hinein, noch tiefer hinein.
Das weiß ich, seufzte er in sich, daß ich hier rin muß und daß ich aus dem Gefängnis entlassen bin. Sie mußten mich ja entlassen, die Strafe war um, hat seine Ordnung, der Bürokrat tut seine Pflicht. Ich geh auch rin, aber ich möchte
nicht, mein Gott, ich kann nicht.
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Er wanderte die Rosenthaler Straße am Warenhaus Wertheim vorbei, nach
rechts bog er ein in die schmale Sophienstraße. Er dachte, diese Straße ist
dunkler, wo es dunkel ist, wird es besser sein. Die Gefangenen werden in Einzelhaft, Zellenhaft und Gemeinschaftshaft untergebracht. Bei Einzelhaft wird der
Gefangene bei Tag und Nacht unausgesetzt von andern Gefangenen gesondert
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gehalten. Bei Zellenhaft wird der Gefangene in einer Zelle untergebracht, jedoch
bei Bewegung im Freien, beim Unterricht, Gottesdienst mit andern zusammengebracht. Die Wagen tobten und klingelten weiter, es rann Häuserfront neben
Häuserfront ohne Aufhören hin. Und Dächer waren auf den Häusern, die
schwebten auf den Häusern, seine Augen irrten nach oben: wenn die Dächer nur
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nicht abrutschten, aber die Häuser standen grade. Wo soll ick armer Deibel hin,
er latschte an der Häuserwand lang, es nahm kein Ende damit. […]
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Aufgabe I
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Bearbeitungszeit: 300 min
Anmerkungen:
(1) 41 – Nummer einer Straßenbahnlinie in Berlin, auch (5) Elektrische; (2) Er stand vor dem Tor des Tegeler
Gefängnisses – er, Franz Biberkopf, ehemaliger Transportarbeiter, wegen Totschlags zu vier Jahren Haft
verurteilt; (2) Tegel – Stadtteil Berlins; (24) B.Z. – Berliner Zeitung; (25) Schupo – Schutzpolizist; (29) Brägen
– Bregen, umgangssprachlich, scherzhaft für >Hirn<, >Schädel<; (30) Destille – ursprünglich berlinerisch,
kleinere Gastwirtschaft; (40) Aschinger – Name eines Bierlokals; (45) Seidel – Bierglas; (55) Wertheim –
großer Kaufhaus-Konzern mit zahlreichen Filialen in Berlin; (65) Deibel – Deiwel, umgangssprachlich, mundartlich für >Teufel<
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Aufgabe II
eA
Schülermaterial
Bearbeitungszeit: 300 min
Aufgabenstellung
Im Jahr 1975 befragt Marcel Reich-Ranicki achtzehn Autoren zu dem Thema „Was bedeutet
Ihnen Thomas Mann, was verdanken Sie ihm?“ und publiziert die Antworten in der Beilage
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Einer der Beiträge ist Peter Rühmkorfs Text „Gestelzte
Manierlichkeiten“.
Nun will sich Reich-Ranicki wieder der Thomas-Mann-Rezeption zuwenden und stellt in Bezug auf Rühmkorfs Beitrag Schülerinnen und Schülern die Frage: „Was bedeutet Ihnen
Thomas Mann? Schülerinnen und Schüler antworten Peter Rühmkorf“. Die besten Texte
werden in einem Sammelband veröffentlicht.
Aufgabe ist es, im Rahmen einer eigenen Rezension Stellung zu Rühmkorfs Einschätzung
von Thomas Mann und von dessen Roman „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ zu
nehmen.
Vor diesem Hintergrund bearbeiten Sie folgende Aufgaben:
1. Erschließen Sie die Position und die argumentative Entwicklung des Textes von
Rühmkorf.
2. Gestalten Sie eine eigene Rezension zu Rühmkorfs Text, die auf Thomas Manns Roman „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ Bezug nimmt.
Erläutern Sie wichtige gestalterische Entscheidungen Ihrer Textproduktion.
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Deutsch
Aufgabe II
eA
Schülermaterial
Bearbeitungszeit: 300 min
Material
Auszug aus: Peter Rühmkorf: Gestelzte Manierlichkeiten (1975)
(abgedruckt in: Was halten Sie von Thomas Mann? Achtzehn Autoren antworten. Hg. und mit
einem Nachwort versehen von M. Reich-Ranicki. Frankfurt am Main 1986, S. 69-70.)
Das Werk von Thomas Mann interessiert mich zwanzig Jahre nach seinem Ableben so wenig wie noch zur Zeit seines Erdenwallens.
Alle Versuche, dem Meister über eines seiner Bücher nahezukommen, scheiterten an einer Sprachbarriere, die ich – rückblickend – fast für eine Klassenschran5
ke halten möchte. Was hier Laut gibt, ist eine nur an ihren Rändern gebrochene
Großbürgerlichkeit, deren Sorgen nie die meinen waren, deren Perspektiven
oder Retrospektiven mir schnurz sind, deren Ausdrucksweise mir beinahe physisch zuwider ist.
Leider hat mir im Verlauf des letzten Vierteljahrhunderts immer die nötige Zeit
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gefehlt, den Rang eines Autors anzufechten, dessen gestelzte Manierlichkeiten
ziemlich allgemein für Stil gehalten werden; ich hätte anders zu viele Bücher
wälzen müssen, bei denen mir jeweils bereits nach den ersten dreißig Seiten
schlecht wurde.
Der ungute Eindruck, den ich von zahlreichen und immer unglücklichen Kontakt-
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versuchen mit nach Hause nahm, bestätigte sich mir, als ich den sogenannten
Zauberer am 8. Juni 1953 in Hamburg aus dem >Krull< vortragen hörte: die oblatendünne Ironie genüßlich nachkostend und fast affenhaft in den selbstgemachten Ziericht verliebt. Als praktizierender Parodist kann ich dabei die allseits geschätzten Alfanzereien durchaus nach ihrem literarischen Wert beurteilen.
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Meines Erachtens, das heißt nach Maßgabe meiner Spurenanalysen, handelt es
sich bei den ironischen Travestien Thomas Manns um das reichlich primanerhafte Vergnügen, mühselig erworbene Wissensstoffe kunstvoll auszustellen und –
gleichzeitig! – den subjektiven Abstand zu den Bildungsunterlagen mitzuinszenieren. Daß ich damit nichts gegen Parodie allgemein beweisen möchte, betone
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ich schon im eigenen Interesse.
Parodie heißt seit einiger Zeit nichts anderes als kritisch gebrochene Überlieferung oder auch problematisierte Tradition. Wo sich die Adaption von kultureller
Hinterlassenschaft freilich so leichtflüssig anläßt wie bei diesem Autor und die
Widerstandslosigkeit der Anverleibung nur noch durch den mediokren Überset-
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Aufgabe II
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Schülermaterial
Bearbeitungszeit: 300 min
zungsgrad unterboten wird, beginnt für mich eine Sphäre von gehobener Hausmusik, in der Anwesenheit meinerseits mir nicht erforderlich scheint. [...]
Immerhin scheint mir die raumgreifende Überschätzung unseres Jubilars nur die
andere Seite eines Verdrängungsprozesses, dem zahllose gewichtigere Dichter
zum Opfer gefallen sind.
Anmerkungen
(2) Erdenwallen – Erdenleben; (16f.) oblatendünn – zu Oblate, >dünnes, rundes Gebäck<; (18) Ziericht –
Kompositum Rühmkorfs zu Zierat, hier: >Verzierung<; (19) Alfanzerei – Possenreißerei, Schwindelei; (21f.)
primanerhaft – unreif, unbeholfen; (27) Adaption – Anpassung; (29) medioker – mittelmäßig
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Musterlösungen für die
Prüfungsaufgaben Abitur
Prüfungsfach:
Autorin:
I.
Deutsch (Niedersachsen 2008)
Annette Schomber
Aufgabe
1. Aufgabenstellung
Franz Biberkopf wird nach vierjähriger Haftstrafe aus dem Gefängnis entlassen und wird mit
der Realität der Metropole Berlin konfrontiert. Der Protagonist scheitert an dem Versuch, sich
als freier Mensch in der Wirklichkeit des Großstadtlebens zurechtzufinden.
Bei der Interpretation sollten aufgrund der oben genannten Ausgangssituation drei Aspekte
berücksichtigt werden:
a) Textgehalt
ˆ Biberkopf zögert nach der Entlassung, in die Straßenbahn einzusteigen (Z. 1 – 4);
ˆ er überwindet sich schließlich, allerdings ist die Fahrt zu schnell und die rasche
Eindrücke verwirren ihn, so dass er Stationen später aussteigt und zu Fuß weiter geht;
(Z. 15 – 26);
ˆ er ist beim Gang durch die Straßen über die Leblosigkeit der Menschen entsetzt und er
fasst den Entschluss, tiefer in die Stadt hineinzugehen (Z. 27 – 54);
ˆ er flieht ins Dunkle, und auch hier erschrickt er über die Hektik der Großstadt (Z. 55 –
66).
b) Figurenkonzeption
ˆ Widerspruch: da Biberkopf durch die Hektik und Anonymität der Großstadt zutiefst
erschüttert ist, nimmt er die Freiheit nicht als Neuanfang wahr, sondern als Bedrohung,
als Strafe (Z. 4 – 48);
ˆ Biberkopf kompensiert die Bedrohung unterschiedlich: Zögern vor dem Einstieg in die
Straßenbahn (Z. 7), Ausstieg (Z. 26); Aggression gegen sich selbst (Z. 27 f.) und
Warenwelt (Z. 32 ff.), Sehnsucht nach der Geborgenheit im Gefängnis (Z. 2ff., Z. 51f.,
Z. 61f.);
ˆ keine Lösung der Situation: der Protagonist ist nicht in der Lage, äußere Eindrücke und
innere Wahrnehmung zu koordinieren; die Folge sind Schmerz (Z. 16 ff.),
Orientierungslosigkeit (Z. 48, Z. 64 ff.), die Flucht in die Tiefen der Großstadt (Z. 50),
Flucht in die Dunkelheit der Erinnerung (Z. 56 – 62) und schließlich Verzweiflung (Z.
64ff.);
ˆ die Konfrontation Biberkopfs mit Großstadt führen zu Entsetzen (Z. 22f f.), Aggression
(Z. 28/ Z. 32 – 34), Selbstzweifel (Z. 29 f.), zur Depersonalisierung des Subjekts (Z. 22/
Z. 47 f.) und zur Überhöhung des Leids (Z. 14; Z. 62 – 66).
© Dudenverlag, Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim, 2008
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c) Erzählgestaltung und sprachliche Form
ˆ Authentizität des Großstadtlebens durch das Zitieren von Orts-, Straßen- und
Produktnamen (Z.1, Z. 24f, Z. 40), die Bedrohung wir durch die Personifikation (Z. 21f./
Z. 62 f.) verdeutlicht, den Gebrauch des unpersönlichen Personalpronomens ‚es’ (Z. 38
– 48) und den Vergleich (Z. 41);
ˆ Zerrissenheit des Protagonisten wird durch Erzählgestaltung und der Montage von
Erzähler- und Figurenrede verdeutlicht: Erzählbericht (Z. 2.f.), Einschübe einer Stimme
aus dem ‚off’ (Z. 8), innerer Monolog (Z. 16/ Z. 27 f.); Verschachtelung von personalem
und auktorialem Erzählen (Z. 6 – 14); Reihung disparater Assoziationen im
Bewusstseinsstrom (Z. 23 ff.), der wiederum durch die Hektik nachbildende,
parataktische Satzstruktur verstärkt wird (Z. 30); Montagetechnik durch Intertextualität
(Zitate von Produktnamen im Bewusstseinstrom [Z. 24 f.], die Erinnerung als Zitat der
Gefängnisordnung [Z. 57 – 62] und die Simultaneität von Zeit- und Erlebnisräumen [Z.
1 – 14]);
ˆ mythologisch konnotierte Lexik und Bilder (Z. 14/ Z. 63 ff.);
ˆ Verwendung des Personalpronomens ‚es’ (Depersonalisierung – siehe oben);
ˆ Identifikation von Erzähler und Leser mit Schicksal des ‚Helden’ durch Einschübe als
Zwiegespräch (Z. 8/ Z. 10), durch die Nähe zu Biberkopfs Gedanken durch personales
Erzählen und Bewusstseinstrom; restringierte Lexik und niederes Stilniveau (Soziolekt,
Dialekt) (Z. 27 – 30/ Z. 65 f.).
2. Aufgabenstellung
a) Argumente für die Vergleichbarkeit von Biberkopf und Lenz (Gemeinsamkeiten der beiden
Figuren):
ˆ Störung der Raum- und Zeitwahrnehmung (Irritation durch die Hektik der Großstadt bei
Biberkopf; Irritation über die Dauer des Abstiegs bei Lenz; Wahnvorstellung von
abrutschenden Dächern bei Biberkopf; Wahnvorstellungen von Wolken und Licht bei
Lenz); Desorientierung beim Gang durch das Gebirge/ die Stadt; affektive Störungen
(Überreaktion durch Aggressivität/ Selbstgespräche); Depersonalisierung;
ˆ Wirklichkeitszerfall durch assoziative Reihung von Textfragmenten.
b) Argumente gegen die Vergleichbarkeit von Biberkopf und Lenz (Unterschiede):
ˆ Vorgeschichte/Flucht: Lenz flieht vor der väterlichen Autorität und unglücklichen Liebe
ins Gebirge (von der Stadt in eine ländliche Region), Biberkopf flieht vor der Gegenwart
der Metropole in die Erinnerung der Vorgeschichte und tiefer in die Stadt hinein;
ˆ Bei Lenz ist die Erinnerung negativ besetzt, der Neuanfang wird als Chance begriffen;
Biberkopf nimmt die Erinnerung als etwas Positives wahr, der Beginn ist für ihn eine
Strafe;
ˆ die Begegnung mit dem einfachen Landleben hilft Lenz zunächst; die Begegnung mit
der Großstadt entsetzt Biberkopf;
ˆ Ich- und Wirklichkeitszerfall bei Lenz als Schübe eine plötzlich ausbrechenden
Krankheit; bei Biberkopf als Symptom schockhafter Konfrontation mit der modernen
Großstadt;
ˆ bei Biberkopf ist der Ich-Zerfall Symptom der nicht zu begreifenden Wirklichkeit,
danach wird ‚Wirklichkeit’ zur Projektion des zerrissenen Ich; bei Lenz ist der
Wirklichkeitszerfall als Projektion des von Beginn an gespaltenen Ich.
© Dudenverlag, Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim, 2008
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II. Aufgabe
1. Aufgabenstellung
a) Mögliche Aspekte der Erschließung:
ˆ Rühmkorf kritisiert polemisch den Autor Thomas Mann und dessen literarisches
Schaffen;
ˆ er kritisiert insbesondere Manns Roman Felix Krull und das von ihm angewandte
Stilmittel der Ironie.
b) Argumentationsentwicklung:
ˆ betont subjektiv und persönlich artikulierte Abkehr vom Autor Thomas Mann; Rühmkorf
zieht dadurch dessen Rang als Schriftsteller in Zweifel (Z. 1f.; Z. 14 _ 19; Z. 31);
ˆ kritisiert die Sprache und den Stil Manns als zu großbürgerlich und preziös (Z. 4 ff./ Z.
10 f.); Mann selbst sei arrogant und selbstverliebt (Z. 17f.);
ˆ Kritik an Manns Formen des Komischen: dünne Ironie (Z. 16f.), Travestie von
zweifelhaftem Wert (Z. 21 – 24) und mittelmäßige Parodie (Z. 26 – 31);
ˆ Rühmkorf weist auf eine von Mann hervorgerufene Differenz hin, die einen Konflikt
zwischen Autoren unterschiedlicher Herkunft und Generation markiert (Z. 5 ff.; Z. 18f.;
Z. 24f.);
ˆ Manns Bedeutung sei überbewertet im öffentlichen Diskurs, wodurch andere wichtige
Autoren in den Hintergrund gedrängt würden. (Z. 32 – 34);
ˆ dialektische Argumentation, indem Rühmkorf die allgemeine Wertschätzung Manns als
„Meister“, Stilist, „Zauberer“ und Humorist (Z. 3 ff.) widerlegt;
ˆ der kommunikativ- pragmatische Ansatz Rühmkorfs, indem er aus der Position des
praktizierenden Parodisten (Z. 18f.) heraus Mann kritisiert und so seine Haltung,
Sprache und Ironie bestimmt.
d) Beispiele für die sprachliche Gestaltung:
ˆ subjektive Wertung (Z. 4, Z. 14 – 19), Hervorhebung des Ekels bei der Lektüre (Z. 7f.;
Z. 13);
ˆ Verurteilung durch negativ wertende Adjektive (Z. 10 – 17; Z. 21f, Z. 30f.);
ˆ Verwendung von Schlagworten, um Manns ‚Größe’ und dessen Attitüden bloßzustellen
(„Meister“, „Großbürgerlichkeit“; oder „Hausmusik“);
ˆ Ironie zur Bloßstellung Manns durch das Zitieren dessen Stils (Z. 5/ Z. 15f.), die
anschließend den Autor durch derben Ausdruck entlarvt (Z. 7; Z. 13; Z. 17; Z. 21 f.);
ˆ Zusammenprall von ‚elaboriertem’ und provokativ angelegtem ‚restringierten’
Sprachcode (sprachlicher Kontrast zwischen „Retrospektive“ und dem saloppen
Ausdruck „schnurz“).
2. Aufgabenstellung
a) mögliche Aspekte der Gestaltung:
ˆ Erörterung inhaltlicher Aussagen des Textes (zu Manns Selbststilisierung, persönliche
Lektüreempfehlung);
ˆ Auseinadersetzung mit Rühmkorfs Kritik an Manns Ironie (an Formen des Komischen)
hinsichtlich der Sprachkomik (z. B. Krulls Redeweise, sprechende Namen),
Situationskomik (z. B. Krulls Musterung), Figurenkomik durch typisierende
Überzeichnung (z. B. Hausarzt Düsing);
ˆ Auseinandersetzung mit Rühmkorfs Kritik an Manns Parodie (mit Blick auf die Adaption
des Bildungsromans, der Mythologie, des Opferkults beim Stierkampf), an Manns
Travestie (etwa in Krulls Erzählung beim König) an Manns Ironie als perspektivischem
Stilmittel zur Ausbalancierung von Sein und Schein (z. B. in der Episode mit MüllerRosé);
ˆ Bewertung der Argumentation Rühmkorfs (die Polemik, die subjektive Form der Kritik
oder der Ansatz aus der Perspektive eines Schriftstllers);
© Dudenverlag, Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim, 2008
3
ˆ Stellungnahme zu Aspekten des Krull über Rühmkorfs Kritik hinaus (z. B. mit Blick auf
die Formen des autobiographischen Erzählens).
b) Aspekte des Adressatenbezogenen Schreibens:
ˆ Struktur der Rezension gemäß des Standardtypus (z. B. nach Anz);
ˆ Inhaltliche Gestaltung entsprechend gewählter Funktion (Stellungnahme,
Neuinterpretation) und Intention (Zustimmung oder Ablehnung Rühmkorfs mit Blick auf
Manns Roman);
ˆ eine deutlich artikulierte Wertung der Vorlage bzw. Vorlagen mittels einer klaren
Terminologie;
ˆ stilistische Imitation der Textvorlage oder deutliche Abgrenzung zur Vorlage, unter
Berücksichtigung des situativen Rahmens (medialer Kontext, Adressatenbezug).
c) Aspekte der Erläuterung:
ˆ einzelne inhaltliche und sprachlich-strukturelle Aspekte der Textvorlage können in der
Darstellung der eigenen Position reflektiert werden;
ˆ Textstruktur, Sprache und Stil können in Relation zu Funktion, Intention und situativer
Einbettung der eigenen Rezension näher betrachtet werden.
© Dudenverlag, Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim, 2008
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Die hier abgedruckten Lösungsvorschläge entsprechen den amtlichen Lösungen des
zuständigen Kultusministeriums.
Impressum:
Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck, auch auszugsweise, vorbehaltlich der Rechte die sich aus den Schranken des
UrhG ergeben, nicht gestattet.
© Dudenverlag, Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim 2008
Redaktionelle Leitung: Simone Senk
Redaktion: Christa Becker
Autorin: Annette Schomber
© Dudenverlag, Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim, 2008
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