80 ] MÄRKTE | Comtrans 2015 DER BÄR BRUMMT Russland: Die Nutzfahrzeugmesse Comtrans in Moskau hat sich als IAA des Ostens positioniert. Auch wenn der Rubel in der aktuell schwierigen Marktsituation nur verhalten rollt, zeigen Hersteller und Industrie Flagge. TEXT & FOTOS: OLIVER WILLMS D er russische Bär brummt, wohl vor Bauchschmerzen. Der Transportmarkt im größten Flächenstaat der Welt liegt brach, die Ölpreise, eine wichtige Einnahmequelle für das Riesenreich, fallen stetig, der Rubel verliert dramatisch an Wert – auch wegen der EU-Sanktionen. Das in diesen Zeiten absterbender Gemütlichkeit auf dem Binnenmarkt von St. Petersburg bis Wladiwostock demzufolge auch weniger Waren umgeschlagen werden, liegt in der Natur der Krise. Trotzdem – oder gerade deshalb – zeigt die Nutzfahr- zeugindustrie mit grimmiger Entschlossenheit Präsenz. Mehr als 300 Aussteller bewiesen auf 30.000 Quadratmeter Comtrans-Messefläche, dass die Show im Transportbranche – Sanktionen hin, Rubeltief her – weiter gehen muss. Es kann eigentlich nur besser werden: Nach dem Spitzenjahr 2012 mit knapp 34.000 neu zugelassenen schweren Lkw brach der Lkw-Markt erdrutschartig zusammen. Für dieses und kommendes Jahr prognostizieren die Hersteller einen historischen Tiefstand mit weniger als 10.000 verkauften Einheiten. Das wäre nur noch ein rundes Viertel des einstigen Marktvolumens. Den Nutzfahrzeug-Produzenten bleibt dabei oft nicht viel mehr übrig als den Laden – zumindest zeitweise – abzuriegeln, bis der Markt wieder nach neuen Lkw verlangt. Was Marktführer Kamaz nicht hindert, auf der Comtrans einen Ausblick in die Zukunft zu erlauben. Zusammen mit Torino Design haben die Russen eine Fahrerhausstudie aufgelegt, die es in sich hat: Vier Kameras übertragen rückwärtige Ansichten auf schmale Displays in der A- Charaktergesicht: Der UAZ Fermer mutet wie ein Relikt aus den 60ern an. lastauto omnibus 11/2015 MÄRKTE | Comtrans 2015 [ 81 ] Trotz Krise weiter wichtiger Weltmarkt 1 2 1N euauflage: GAZ Gazon Next. Sein Yaroslav-Triebwerk könnte bald durch eines von Isuzu ersetzt werden. 2G AZ Gazon Next mit Müllpresse für kommunale Aufgaben. 3M AZ leidet besonders unter der Krise, obwohl die Lkw durchaus zeitgemäß anmuten. 3 Säule, ein futuristischer Arbeitsplatz mit frei belegbaren Touchscreen-TFT-Displays und das in die Lenkradnabe eingelassene Smartphone locken den Kamaz-Besucher mit Zukunftsmusik. Praktisch sieht bei Kamaz die Welt noch ganz anders aus. Die teilweise angenehm modern gestylten schweren Lkw, wie der 5490 mit dem typischen postsozialistischen Nummerncode, decken jeden Einsatzbereich überkomplett ab. Sicher noch ein Erbe aus der Ära des sowjetischen Marktmonopols nur weniger Hersteller. Heute liegt die Chance der Lkw-Riesen in der Fusion, wie das gekonnte Zusammenspiel zwischen Daimler und Kamaz (siehe Kasten Seite 82) beweist. Bei der gemeinsamen Joint-Venture Mercedes-Benz Vostok läuft der Actros Classic weiter vom Band. Der neue Actros wird erst im Um als rollendes Büro und Mini-Appartement durchzugehen, zeigt die Studie kabinenrückseitig eine gekonnte Kombination aus ausklappbarer Duschkabine und in die Rückwand faltbarem Waschbecken ebenso wie ein veritables WC. Nebenan komplettieren ein Kühlschrank und Kochfeld mit Miniküche den Wohnbereich. Anstelle des Beifahrersitzes haben die Designer vorwitziger Weise ein Laufband installiert, um den Lkw-Fahrer in den russischen Weiten fern der Heimat fit zu halten. Theoretisch muss der „Zar of the Road“ (O-Ton Kamaz) seine gute Stube so nur noch alle paar tausend Kilometer zum Tanken verlassen. Ziel von Dongfeng ist es, sich im russischen Markt breit zu machen – etwa mit dem KX. lastauto omnibus 11/2015 Tr a d i t i o n e l l ist auch der Verband der Automobilindustrie (VDA) auf der Leitmesse der russischen Transportbranche vertreten. Dr. Kay Lindemann, G e s c h ä f t s - Geschäftsführer des VDA. führer Dr. Kay Lindemann betonte im Rahmen einer auf der Messe abgehaltenen Pressekonferenz die Bedeutung des gigantischen russischen Transportmarktes auch für die deutsche Industrie. Das Potenzial des Landes bleibe trotz der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen unverändert groß. „Made in Germany hat in Russland immer noch einen exzellente Ruf“, betont VDA-Experte Lindemann. Über zwanzig deutsche Unternehmer, vom Lkw-Hersteller bis zum Komponentenzulieferer, waren auf der Comtrans vertreten. Nachdem moderne Fahrzeugbaureihen in Russland eingeführt sind, steht die Industrie vor dem nächsten Innovationssprung, erklärte Lindemann in Moskau. Moderne Telematiksysteme, hochwertige Fahrzeugtechnik mit Sicherheits- und Assistenzsystemen sowie verbrauchs- und schadstoffreduzierte Antriebe würden künftig vom Markt verstärkt nachgefragt. Die deutsche Nutzfahrzeugindustrie, erklärt Lindemann, habe bislang traditionell auf eine zwei SäulenStrategie – Import und Vor-Ort-Fertigung – gesetzt. Die Produktion in Russland ist seit vergangenen Jahr jedoch dramatisch eingebrochen. Rückgängige Nachfrage, die wechselseitigen Sanktionen und der Kursverfall des Rubel bei anhaltend schwacher Binnenkonjunktur machen Fahrzeugimporte für russische Abnehmer zunehmend unattraktiver. Darüber verzeichnet der russische Transportmarkt ein abnehmendes Frachtvolumen, wodurch weniger Fahrzeuge nachgefragt werden. Die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen in der Transportbranche seinen aber, betonte VDAGeschäftsführer Lindemann auf der Comtrans, keine Einbahnstraße. Im Jahr 2014 seien mit einem Zuwachs von 13 Prozent gegenüber Vorjahr in Russland produzierte von 74 Millionen Euro nach Deutschland exportiert worden. Die angespannte politische Realität könnte den Markt allerdings um mehrerer Jahre zurückwerfen, meinen die VDA-Experten. Der Verband der Automobilindustrie engagiert sich seit 2009 mit einem eigenen Büro seines Qualitäts-Management-Centers in Moskau, um in russischsprachigen Qualitätsseminaren unter dem Motto „Premiumqualität, nicht nur im Premiumsegment“ zu schulen. [ 82 ] MÄRKTE | Comtrans 2015 „Russland spielt in einer anderen Liga“ Interview: Heiko Schulze, CEO von Mercedes-Benz Trucks Vostok über den. Das Gespräch führte Oliver Willms ?: Seit wann engagiert sich Daimler in Russland? Heiko Schulz: Die ersten Beziehungen gehen zuHeiko Schulze, CEO von rück bis ins Mercedes-Benz Trucks Vostok. Jahr 1881, in dem Gottlieb Daimler Moskau und St. Petersburg besuchte, um Geschäftsmöglichkeiten auf dem neuen Markt zu erkunden. 2008 starteten wir eine strategische Partnerschaft mit Kamaz, die 2011 mit der lokalen Produktion von Mercedes-Benz- und Fuso-Lkw in Naberzhyne Chelby weitegeführt wurde. Die Kooperation wird kontinuierlich ausgebaut. So haben wir diesen Juni die Business Units von Mercedes-Benz und Fuso unter einem gemeinsamen Dach vereint. ?: Welche Früchte trägt die Kooperation mit dem Marktführer Kamaz? Heiko Schulz: Mercedes-Benz Trucks Vostok ist ein 50:50-Joint Venture zwischen Daimler und Kamaz. Damit kombinieren wir die Stärken beider Hersteller: Daimler mit seinem Know-how und dem weltweit anerkannten Qualitätsstandard und Kamaz als Kenner des russischen Marktes. Heute verfügen wir über ein Händler- und Service-Netz mit 59 Mercedes-Benz-Händlern und Servicestationen sowie 50 Fuso-Stützpunkten. Mit einem hohen Anteil von lokal gefertigten Bauteilen wollen wir die Fertigungstiefe vor Ort stetig ausbauen. Wir haben mit zwei Zulieferern vor Ort begonnen, heute sind es 30 Zulieferer, die uns mit hochwertigen Komponenten beliefern. Wir planen künftig auch die lokale Fertigung der Fahrerhäuser in Naberzhyne Chelny. Auch deswegen wird Mercedes-Benz heute als lokaler Hersteller akzeptiert. ?: Wie weit trifft Sie die Krise auf dem russischen Transportmarkt? Heiko Schulz: Der russische Lkw-Markt ist in den letzten zwei Jahren zurückgegangen und der Markt wird 2015 und 2016 weiter nachgeben. Die EU-Sanktionen, der niedrige Ölpreis und der Rubelverfall spielen dabei eine wichtige Rolle. Der internationale Kapitalmarkt ist nur eingeschränkt aktiv. Das Zinsniveau für Fahrzeugkunden liegt bei hohen 15 Prozent. Deswegen werden Kaufentscheidungen weiter verschoben. 1 kommenden Jahr als Euro 5-Version sein Russland-Debüt feiern. Wie schwierig das Überleben als Lkw-Saurier ohne Partner sein kann, demonstriert MAZ ein paar Meter weiter. Der Lkw-Gigant ächzt unter der historischen Absatzkrise besonders laut. Putzmunter präsentiert sich dagegen GAZ, der Leicht-Lkw- und Transporterhersteller aus Nizhny Novgorod, der es verstanden hat, den Wechsel vom Staatsbetrieb in die Marktwirtschaft mit Kooperationen und Joint-Ventures sicher zu überstehen. Der Transporter Gazelle Next mit quirligem Cummins-Motor unter der Stummelhaube und robusten Rahmenfahrwerk wäre in unseren Breiten ein echter Herausforderer für den neuen Iveco Daily, der in Moskau neben seinen schweren Lkw-Brüdern debütierte. Der GAZ Gazon Next tritt im Bereich der Leicht-Lkw noch eine Gewichtsklasse höher an. Sein Yaroslav-Triebwerk soll durch das kommende Joint-Venture von GAZ mit Isuzu einem japanischen Motor weichen. Der kompakte HaubenLkw macht einen überraschend erwachsenen und praktikablen Eindruck. Einmal eine komplette Runderneuerung hat auch die GAZ-Legende Ural Next angediehen bekommen – mit Allradantrieb, modernem Fahrerhausinnenleben, martialischem FronthaubenDesign und bösartig blickenden kleinen Projektionsscheinwerfern. Gegen größere Hindernisse gefeit sieht sich auch Volvo. Die Schweden setzen auf der Comtrans mit verstärkter Stahlstoßstange für den FH für Chancengleichheit im chaotischen russischen Straßenverkehr. Die dicke Lippe des großen Schweden besteht aus bis zu drei Millimeter starken Stahleinlagen, an der sich neben Geländehindernissen auch russisches Fahrzeug- 1 Der Innenraum des GAZ Ural Next präsentiert sich verhältnismäßig modern. 2 Die Legende lebt: GAZ Ural Next, mit Allradantrieb gerüstet für schwerste Herausforderungen. 1 2 lastauto omnibus 11/2015 MÄRKTE | Comtrans 2015 [ 83 ] 2 3 1D ie Flaute hindert Kamaz nicht daran, eine futuristische Kabinen-Studie aufzulegen. 2V ier Kameras übertragen, rückwärtige Ansichten auf Displays. 3 F uturistischer Arbeitsplatz von Torino Design mit frei belegbaren TFT-Bildschirmen. einsatz bis zu 160 Tonnen bewegen soll – MAN kann, heißt es hier auch auf kyrillisch. Bei der Bus-Fraktion gibt der Lion‘s Intercity sein Russland-Debüt. Mercedes kontert mit dem Setra S 415 UL Business und bei Scania übernimmt der Touring Tourist Bus in Euro 5 den Part der Messeneuheit. Breit und erstaunlich komplett aufgestellt präsentiert sich dagegen Dongfeng. Der chinesische Marktführer im schweren Bereich hat sich Russland als erklärtes Absatzziel im Kreuzzug zum weltweiten Marktführerschaft gesteckt. Mit dem eleganten Topmodell KX und einem laufenden Joint-Venture mit Volvo beweisen die Chinesen, dass sie nicht nur billig können. Dagegen üben sich andere chinesische Anbieter wie JAC, Naveco oder C&C Trucks auf der Comtrans in diskreter Zurückhaltung. Allein die Japaner von Isuzu und Ford Trucks aus der Türkei stellen ihre Fahrzeuge prominenter ins Moskauer Rampenlicht. So bot die Comtrans auch in der marktkritischen Auflage 2015 einen kompletten MesseÜberblick auf die wichtigsten Spieler auf dem russischen Transportmarkt. Bleibt zu hoffen, dass sich der russische Bär bis zur Neuauflage der wichtigsten Leitmesse der Region im Jahr 2017 wieder erholt hat und statt des grimmigen Grollen wieder ein zufriedenes Brummen anstimmt. ◼ 1 2 1 Russische Buswelten: Der Kamaz-Minibus mutet von außen eher spartanisch an, fährt aber elektrisch. 2 Ansprechendes Design: Volgabus fährt ebenfalls auf alternative Energien ab. 1 Dicke Lippe: Volvo FH mit Stahlstoßstange „Heavy Duty Bumper“. 2 Hörner aufgesetzt: Mercedes Sprinter Classic aus dem Werk Nizhny Novgorod. 3 MAN kann auch Russisch: TGSZugmaschine 40.480 für Mineneinsatz. Die Comtrans postioniert sich als die IAA des Ostens. Trotz Flaute waren alle Hersteller da. 2 alteisen die Zähne ausbeißt. Eine MethandieselVariante des FH und die liftbare Tandem-Antriebsachse für den Baueinsatz komplettierten den schwedischen Neuheiten-Reigen. Die Konzerntochter Renault Trucks rollte mit Variationen zum Thema C- und K-Kipper für den schweren Mineneinsatz auf das Messe-Parkett. Natürlich gab sich auch der amtierenden „Truck of the Year“ Renault T in Moskau die Ehre. MAN macht aus der Absatzkrise das Beste und lässt das Topmodell TGX mit seinem D38-Triebwerk in Moskau debütieren. Fraglich ist freilich, wie viele Kunden heute dazu die nötigen Rubel rollen lassen. Dabei feiert MAN gerade den 1.000sten in St. Petersburg gefertigten Lkw. Handfester ist da das Angebot einer 6x6 TGSSattelzugmaschine, der im schweren Minenlastauto omnibus 11/2015 1 3
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