„Joringel freute sich hoch, berührte die Pforte mit der Blume, und sie sprang auf.“ „Jorinde und Joringel“, in: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen „gulzig wicht, spuugt soms licht“ („gieriges Kind, spukt manchmal leicht“) Holländisches Wiegenlied Die niederländische Künstlerin Ellen Korth hat die seltene Gabe uns Menschen zu zeigen, ohne sie zu entblößen. In ihren international ausgezeichneten Arbeiten rückt sie sehr emphatisch das Private in den künstlerischen Raum, gibt Menschen eine Stimme, die sonst nicht gehört werden. Initialzündung für ihr neues achtes Foto-Kunst-Buch war die Begegnung mit einer jungen Mutter. Jorinde und ihre sechsmonatige Tochter. Sehr zurückgezogen in den Niederlanden lebend, von Ellen Korth in fast schüchternem Gestus fotografiert. Gleichzeitig war Ellen Korth von Madonnenbildern des Barock und der Renaissance in Museen in Amsterdam und Berlin emotional berührt. Im Buch „Jorinde“ fügt sie beides zusammen. Gedruckt wurde in einhunderter Edition, Handoffset auf feinstem japanischen Papier. Gebunden als schweizer Broschur mit offenem Rücken. Der Einband mit Gold geprägt. Jorinde ist der Archetypus eines irdischen Humanismus, die Madonnenbildnisse sind Symbole des Göttlichen. Jeweils durch fotografische Reproduktion fixierte Zeit. Ein „mechanisches Bild der Moderne“ korrespondiert mit dem „kultischen Bild des Mittelalters“ (Charles S. Peirce). Eine Dichotomie der Beständigkeit und des Verschwindens, die die Moderne kennzeichnet. Die immer wieder seriell abstrahierte Madonna wird in Jorindes Körperlichkeit individuell und real. Ellen Korth verknüpft Medien, Geschichten, Materialien, Rhythmen, Musik und bildgebende Techniken zu neuen Analogiebeweisen. Symbole, wie das Bild des Vogels, verbinden Renaissance-Malerei mit der Grimm‘schen Märchenvorlage. Das Rezitieren eines düsteren Wiegenliedes klingt wie ein Mantra; erinnert an den Gesang der Jorinde im Märchen. Ellen Korth geht es dabei nicht um soziologische Geschlechterstudien oder die Ästhetisierung des Mutterglücks - der Topos der Renaissance-Madonna impliziert zudem doppelt den Begriff des Gebärens - sondern um die künstlerische Darstellung von Verschlossenheit, Einsamkeit und Verortung. In ihrem Hortus Conclusus ist Jorinde eine moderne Madame Bovary, beinahe selbst eine madonnenhafte Figur, die der Leser ganz praktisch zu entdecken hat. „Es kann lang dauern, bevor Du weisst, was Du siehst. Es kann sogar lange dauern, bevor Du weisst, dass etwas zu sehen ist. Wer nichts weiss, sieht nichts.“ schrieb Ellen Korth zu ihrer Fotoarbeit der japanischen „No-Masken“. Ähnlich ist das Buch „Jorinde“ ein surreales Vexierspiel von Zeigen, Verstecken und Befreien. Das Erkunden des Buches, denn es ist mehr als ein Umschlagen von Seiten, wird für den Betrachter zum sensiblen Akt. Der Leser ist Joringel, der Jorinde befreien kann. Wie bei Ellen Korths vorangegangenem Fotobuch „Utilité“, wird auch „Jorinde“ zum haptischen Raum, zum Guckloch in privateste Räume, öffnet man die filigranen sechzehn - oder sind es 32 oder gar 33? - panoramenhaften Seiten. „Jorinde“ ist Buchkunst, die über Kategorien wie Fotografie, Biografie, Poesie und Kunstgeschichte hinausgeht. Ellen Korth zieht den Betrachter in einen ganz eigenen Kosmos, der einen die „wirkliche“ Jorinde erahnen lässt. Thorsten Marquardt / www.marquardt-artfoto.de
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