Volker Paulmann Die Arbeit am kollektiven Gedächtnis

Volker Paulmann
Die Arbeit am kollektiven Gedächtnis: Erinnerungsarbeit(erInnen) in Deutschland und
Südafrika – Möglichkeiten des Vergleichs
Anhand der seit einigen Jahren vehement betriebenen Forschungen zum kollektiven Gedächtnis, zu Vergangenheits- und Geschichtspolitik und allgemein: zur Beschaffenheit von Erinnerungskulturen wird deutlich: der Terminus „Erinnerung“ ist zu einem Schlüsselbegriff der
(post-) modernen Geistes- und Sozialwissenschaften geworden. Zusehends wird dieser Begriff aus seinem nationalen Korsett gelöst. Vergleiche in internationaler Perspektive, ebenso
wie die Untersuchung von Verschränkungen verschiedener Erinnerungsräume bekommen
immer mehr Resonanz. Gleichwohl stellt sich die Frage nach Möglichkeiten des Vergleichs
von Gesellschaften, die mit der Vergangenheit verschiedenartiger Gewaltregimes konfrontiert
sind.
Anhand eines Ausblicks auf die Erinnerungskulturen in Deutschland und Südafrika möchte
ich zeigen, dass es Ebenen der Erinnerungspolitik gibt, die trotz der Unvergleichlichkeit der
politischen Systeme Nationalsozialismus und Apartheid doch für die Untersuchung von nationalen Erinnerungsräumen, für Fragen nach ihren Strukturen und den Akteuren interessante
Rückschlüsse erlauben. Die Aufarbeitung von NS bzw. Apartheid haben in beiden Ländern
beispielhaft die nationalen Meistererzählungen alten Typs als Sinnressourcen abgelöst (bzw.
stellen neue „Heldenepen“ dar). Damit sind diese Länder in gewisser Weise auch Vorreiter
einer breiteren Entwicklung: Im Hinblick auf geschichtspolitische Entwicklungen in den 90er
Jahren spricht Elazar Barkan von einer „neuen internationalen Moral“ und konstatiert einen
gewandelten Umgang von Nationalstaaten mit ihrem geschichtlichen Erbe. Schuld wird, so
die These, nicht mehr geleugnet oder verdrängt, sondern dient zur Ausrichtung normativmoralischer Leitlinien von Staat und Gesellschaft. Somit bekommen öffentliche Erinnerungsakte und Präsentationen von Geschichtsbildern einen eminent politischen Charakter. Die Arbeit des Umschmelzens der gesellschaftlichen Erinnerung ist ein Prozess, der plötzliche Brüche und abrupte Erosionen beinhaltet, aber genauso ein kontinuierliches Abtragen überkommener Deutungen und Wahrnehmungsmuster und die allmähliche Konstruktion neuer Bilder
Vor allem letzteres, die verstetigte Arbeit am kollektiven Gedächtnis ist von Bedeutung.
Im Folgenden geht es primär darum, durch den Rückgriff auf Beispiele aus beiden Ländern,
die die gesellschaftliche Auseinandersetzung prägten und prägen, zumindest ähnlich gelagerte
Erscheinungsformen der Erinnerungspolitik aufzuzeigen und in eine Forschungsperspektive
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einzubringen. Schwerpunkt sind die „Orte der Erinnerung“ an denen Aushandelungen von
Geschichtsbildern stattfinden, weil ihnen (neben Filmen, Büchern, Debatten in Zeitungen und
Parlamenten) sowohl in Deutschland als auch in Südafrika in der öffentlichen Wahrnehmung
eine zentrale Rolle zukommt.
Orte der Erinnerung
In diesem Zusammenhang geht es um vier Kategorien, die im Rahmen der Erinnerungspolitik
symbolische und materielle Kristallisationspunkte darstellen und in Deutschland und Südafrika Eckpfeiler der Vergangenheitsbearbeitung sind.
1. Museen und Gedenkorte, die absichtsvoll errichtet werden, um verzerrte historische Perspektiven zu korrigieren. Diese Orte stellen in aller Regel einen sehr reflektierten Ansatz
öffentlicher Erinnerungskonstruktion dar, in dem zumeist Experten das Wort führen
2. Authentische Orte von Gewaltverbrechen, die als Gedenkorte zugänglich gemacht werden. Im Gegensatz zu Museen stützen diese Orte ihre Aussage auf die Kraft des Authentischen
3. Nationale Gedenkstätten als Typus symbolischer Repräsentation, in denen ein nationales
Narrativ geformt wird
4. Gerichtsverfahren und kommissionelle Verfahren als Ausdruck des staatlichen Willens,
vergangenes Unrecht legislativ zu bewältigen.
Diskursive Produktionsweisen der Erinnerung:
Als Untersuchungsgegenstand eignen sich diese Orte, weil sich dort die Erinnerungsarbeit, als
ein von verschiedenen sozialen Gruppen getragener gesellschaftlicher Interaktionsprozess
analysieren lässt. Sowohl in Deutschland als auch in Südafrika ist das Feld der Erinnerungspolitik umkämpft. Neben den an Bedeutung zunehmenden ästhetischen Diskursen sind es vor
allem politische Deutungskämpfe, die diese Orte relevant erscheinen lassen. Im Vordergrund
vieler Untersuchungen über Erinnerungsdiskurse stehen zumeist zum Einen die materiellen
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Repräsentationen (als kulturelles Gedächtnis) zum Anderen die Verkehrsformen im Alltag
(als kommunikatives Gedächtnis), dabei der Unterscheidung Jan Assmanns folgend. Gleichwohl ist die dabei zugrunde liegende Trennung in direkt erzählte/medial vermittelte, erlebte/nicht erlebte und zeitnahe/zeitferne Formen der Erinnerungsrepräsentation bei genauerem
Hinsehen nicht aufrechtzuerhalten. Vielmehr wird deutlich, dass es sich um komplexe Interaktionsprozesse handelt, die die Grenzen von objektiven Strukturen und subjektivem Handeln
verwischen. Die Arbeit am kollektiven Gedächtnis ist als ein gesamtgesellschaftlicher Vorgang zu begreifen.
Es geht im Kern darum, in diesen Mustern eine gesellschaftliche Perspektive wahrzunehmen,
die den Aushandelungsprozess als ein von vielen Faktoren abhängiges Prinzip erkennt und
analysieren kann. Weder ein dichotomes oben-unten Modell, noch ein Spiel freier Kräfte
scheint angemessen, die verschiedenen Optionen von Erinnerungspolitik adäquat zu erfassen.
Erinnerungen werden geformt, sind immer „sozial gerahmt“ (Halbwachs). Zu der Analyse der
sozialen Rahmenbedingungen gesellt sich aber die Frage nach dem Ausgangs- und Fluchtpunkt des Erinnerungs- bzw. Geschichtsbildes. Im Mittelpunkt dieses Aushandelungsprozesses befinden sich soziale Gruppen (Wissenschaftler, Künstler, Architekten, Studierende, Überlebendengruppen, Beamte, Politiker), die als „ErinnerungsarbeiterInnen“ verschiedene
politische und soziale Standpunkte einnehmen. Zwar scheinen diese Beteiligten hinsichtlich
ihrer Nähe zu politischer Handlungs- und Gestaltungsmacht deutlich in verschiedene Großlager zu zerfallen, eine genauere Betrachtung der Gedenklandschaften in Deutschland und Südafrika zeigt jedoch ein vielschichtigeres Bild.
Gerade die Durchsetzung marginaler Positionen im Feld der Geschichtspolitik ist ein signifikantes Kennzeichen eines Aushandelungsprozesses, der weit mehr darstellt, als den bloßen
bipolaren Kampf um Hegemonie. Die Erinnerungslandschaften bieten in beiden Ländern zahlreiche Beispiele, anhand derer der schwierige Verlauf der Erinnerungsarbeit nachgezeichnet
werden kann Als Paradigmen der Erinnerungspolitik lassen sich dabei verschiedene Strategien erkennen:
•
Authentizität/Legitimität (Wer spricht?)
•
Lokalität (Von wo wird gesprochen?)
•
Ökonomie (Über welche Aufwendungen wird gesprochen?)
•
Expertentum/Professionalisierung (Über was wird gesprochen?)
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Der Prozess, bei dem politische, moralische und ideologische Leitmotive, materielle Erfordernisse und geschichtspolitische Allianzen orchestriert werden müssen, stellt die Erinnerungsarbeiter und -Arbeiterinnen vor immer neue (ihnen mehr oder weniger bewusste) Anforderungen. Wie werden diese Ansprüche und oftmals auch Widersprüche wahrgenommen und
transformiert?
Die Erforschung von Erinnerungskulturen im internationalen Kontext steht noch am Anfang.
Mit den hier dargelegten Gedanken möchte ich dafür plädieren, die Vergleiche, trotz der auf
den ersten Blick schwierigen systemischen und zeitlichen und nicht zuletzt trotz der kulturellen Differenzen zu wagen. Dabei muss fraglos auch ein Bewusstsein für koloniale bzw. eurozentristische Prägungen hergestellt werden. Kritiker betonen beispielsweise, dass das „Konzept Erinnerungskultur“ den kolonialen Blick zu reproduzieren drohe, indem „afrikanische
Verhältnisse“ in vorgefertigte Schablonen gepresst werden. Aber der Vergleich und gerade
der Fokus auf die Kämpfe um Erinnerung und Gegenerinnerung bietet die Chance, diesen
Rahmen zu hinterfragen. Für die Erforschung von (nationalen) Erinnerungskulturen bedeutet
das: nicht nur vor dem nationalstaatlichen Hintergrund allein sind die Bezugspunkte von Vergangenheitspolitik zu finden. Gerade der Vergleich von Deutschland und Südafrika zeigt
auch, wie sich Erinnerungsmuster in lokalen und globalen Kontexten zugleich bewegen. So
ist einerseits oftmals die explizite Ablehnung „Holocaust-typischer“ Gedenkformen in Südafrika zu beobachten Aber auch die Formensprache der Architektur und die Ausstellungskonzepte werden zunehmend im internationalen Vergleichsmaßstab konzipiert, wobei nicht zuletzt auch der implizite und explizite Gedanke an touristische Attraktionen an Bedeutung gewinnt. Andererseits hat sich gerade die „Versöhnungsbotschaft“ zu einem „Exportschlager“
made in Südafrika entwickelt. Die Arbeit am kollektiven Gedächtnis ist also bereits eine internationale geworden.
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