Dietrich H a r t h Gedächtnis und Erinnerung Alle L e b e w e s e n sind um des Ü b e r l e b e n s willen auf eine biologische Merkfähig keit angewiesen, die es ihnen ermöglicht, Wahrnehmungsreize zu „speichern", sie in irgendeiner Form zu v e r a r b e i t e n und je nach Bedarf spontan zu wiederholen oder „ a b z u r u f e n " . Von dieser genetisch v e r a n k e r t e n Merkfähigkeit unterscheidet sich das, was unsere Sprache mit den Worten „ E r i n n e r u n g und Gedächtnis" und was a n d e r e europäische Sprachen mit Vokabeln b e n e n n e n , die von dem lateini schen Wort memoria abgeleitet sind, das seinerseits von griechisch mneme ab stammt. In allen Fällen verweisen die W ö r t e r auf innere, sei es spontane, sei es willentliche D e n k und Vorstellungstätigkeiten, die sich allerdings im Unterschied zu a n d e r e n kognitiven bzw. imaginativen A k t e n auf zeitlich f r ü h e r e Wahrneh m u n g e n oder G e d a n k e n beziehen und das M o m e n t der Wiederholbarkeit (iteratio) einschließen. „Schon unsere Sprache gibt dem Gedächtnis", notiert Hegel in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften", „die h o h e Stellung der u n m i t t e l b a r e n Verwandtschaft mit dem G e d a n k e n " (§ 464). In der europäischen Ideengeschichte ist das E r i n n e r u n g s v e r m ö g e n sehr früh als anthropologisches Apriori, nämlich als eine Bedingung der praktischen wie theoretischen E r f a h r u n g verstanden worden und zählt insofern auf allen Stufen der Tradition zu den allgemein a n e r k a n n t e n Voraussetzungen des leiblichgeisti gen Retentionsvermögens. Im Dialog „ M e n o n " (80a82a) läßt Piaton durch Sokrates den Beweis f ü h r e n , alles E r k e n n e n sei W i e d e r e r i n n e r n (anämnesis). D e r Piatonschüler Aristoteles diskutiert in der kleinen Schrift „De m e m o r i a et remi niscentia" ausführlich Funktion und Leistung des E r i n n e r u n g s v e r m ö g e n s im Ver hältnis zur W a h r n e h m u n g und zum D e n k e n . Seine vermögenspsychologisch grun dierten Ü b e r l e g u n g e n geben f ü r J a h r h u n d e r t e den Ton in der einschlägigen Theo riebildung an. Ihre Quintessenz gerinnt zu folgenden Aussagen: „ G e d ä c h t n i s " (memoria) und „ E r i n n e r n " (reminiscentia) verhalten sich zuein ander wie das langsamere (animalische) zum schnelleren (intelligenten) Be halten (449b), anders gesagt: wie das passive A f f i z i e r t w e r d e n der Sinne zu den aktiven B e w e g u n g e n des D e n k v e r m ö g e n s (453a). W a h r n e h m u n g bezieht sich auf Gegenwärtiges, Voraussicht auf Zukünftiges, G e d ä c h t n i s auf das Vergangene; allein das Gedächtnis stimmt mit dem Zeitsinn überein (449b, 451a). Voraussetzung für das E r i n n e r n ist der Eindruck, den eine f r ü h e r e „Wahrneh m u n g " oder „ M e i n u n g " als „ A f f e k t i o n " oder „Habitus" im Subjekt hinterlas sen hat; eine Spur, die sich in die Seele einzeichnet wie das Bild ins Wachs „beim Siegeln mit d e m R i n g e " (450a). Das f r ü h e r W a h r g e n o m m e n e sowohl wie das f r ü h e r G e d a c h t e werden eidetisch erinnert, will sagen: O b j e k t der E r i n n e r u n g sind Vorstellungsbilder (phantäsmata), nicht der Reiz, die Sache oder das vorige G e d a c h t e selbst (450a). „Hier 738 aus sieht man, welchem Teil oder Vermögen der Seele das Gedächtnis ange hört, demselben nämlich wie die Phantasie" (450a). Es gibt ein spontanes und ein suchendes E r i n n e r n . D a s letztere läßt sich durch technische Verfahren schulen, die in der Topik, d. h. in der rhetorischdialekti schen Heuristik (inventio), entwickelt worden sind: z. B. die methodische Su che nach den „Orten/Plätzen" (töpoi/loci), deren sequentielle Folgen „feste (mnemotechnische) O r d n u n g e n " bilden. Beispiele sind mathematische und al phabetische Reihen, aber auch Schlußfolgerungen im Sinne logisch struktu rierter Satzreihen. Das aristotelische Konzept warf P r o b l e m e auf, die in der Folgezeit immer wieder Gegenstand erinnerungsträchtiger Reflexionen geworden sind. Die in Punkt 5 an gesprochene mögliche Disziplinierung des E r i n n e r u n g s v e r m ö g e n s hat zumindest zwei Seiten. Z u m einen zeigt sie Verwandtschaft mit der Form rationaler Urteils bildung, zum andern erinnert sie an die in der sophistischen R h e t o r i k ausführli cher b e h a n d e l t e n technischen G r u n d l a g e n jener ars memorativa ( = M n e m o n i k ) , die, vermittelt über römische, spätantike, mittelalterliche und humanistische Schriftkundige, in das neuzeitliche Wissenschafts und Bildungssystem eingewan dert sind (Yates 1990; Bolzoni 1991; C o l e m a n 1992). D a s Christentum verstand sich nach dem A b e n d m a h l s w o r t „Tut dies zu m e i n e m Gedächtnis!" (Paulus, 1. Kor. 11, 24) als Erinnerungsgemeinschaft, und die alte M e t a p h o r i k des Ein schreibens hat sich, gestärkt durch die normative M n e m o n i k der religiösen Buch kultur, als geschichtsmächtiges I n t e r p r e t a m e n t durchgesetzt. Die m a ß g e b e n d e n technischen Regeln für das Training sowohl der memoria als auch der korrelativ mit ihr v e r b u n d e n e n inventio, die beide in den Dienst s c h r i f t b e w a h r e n d e r und auslegender Tätigkeiten traten, stammten aus Ciceros „ D e inventione" und aus der Rhetorik des sogenannten Auetor ad H e r e n m i u m . „La m e m o r i a " , schrieb 1613 der Spanier Juan de A r a n d a , „es un escribano que vive d e n t r o del h o m b r e " (Rossi 1991, S. 35). Dieses Sinnbild kennzeichnet eine für die Neuzeit charakteri stische Verschiebung von der passiven zur aktiven F u n k t i o n des Gedächtnisses. Es löst den Topos vom Siegelringabdruck im Wachsblock ab, der seit Piaton (Theaetet, 191cd) und Aristoteles in Umlauf war, um eine angeblich unvermittel te Einwirkung der sinnlichen Perzeption auf den seelischen R e z e p t o r zu um schreiben. Die starke Gewichtung des r e p r o d u k t i v e n Gedächtnisses in der rhetorisch f u n d i e r t e n M n e m o n i k hat jenen T h e o r e t i k e r n keine R u h e gelassen, die mit der Suche nach dem Schöpferischen dem nachspürten, was im cartesianischen Sinne dem Einschreiben bis dahin ungedachter, eben n e u e r Zeichen auf der absicht lich gelöschten Gedächtnistafel {tabula rasa) entsprach. Das Imitationsprinzip in der künstlerischen und literarischen Ausbildung hielt sich bekanntlich weitge hend an die mnemotechnischen Regeln der Iteration. Aristoteles hatte zwar zwi schen dem niederen (langsamen) und dem h ö h e r e n (schnelleren) Gedächtnis bzw. E r i n n e r u n g s v e r m ö g e n unterschieden und die Einbildungskraft an der Er zeugung r e p r o d u z i e r b a r e r Vorstellungsbilder beteiligt; die den normativen A n spruch des mimetischen Gedächtnisses um eines N e u e n willen ü b e r w i n d e n d e schöpferische Spontaneität lag aber a u ß e r h a l b seines Gesichtskreises. D a m i t war ein christlicher, von der Schöpfungstheologie geprägter Aristoteliker wie der ehe malige R h e t o r i k l e h r e r Augustinus nicht zufrieden. E r stieß z. B. bei seiner Selbst befragung im 10. Buch der „Confessiones" auf das irritierende Prinzip, daß selbst das Vergessen im Gedächtnis behalten werde (memoria retinetur oblivio). Dieses 739 E r i n n e r n des Nicht-Erinnerns wird ihm zum Ausgangspunkt f ü r eine Selbstverge wisserung, die mit Hilfe der r e p r o d u k t i v e n E r i n n e r u n g SelbstVergessenheit aus schließt, aber zugleich an die G r e n z e n der Ichtransparenz und damit auf das stößt, woran j e d e endliche W a h r n e h m u n g und E r k e n n t n i s scheitert. Diese Grenze zu überschreiten, ist nach Augustinus gerade nicht mehr Sache der Erinnerung, sondern allein des Willens (voluntas), der die Seele davon abbringt, allein in sich selbst zu „lesen". Die A n n ä h e r u n g an das absolute Prinzip der Schöpfung, an Gott, folgt d e m n a c h einem Weg, der das Gedächtnis durchquert, um es hinter sich zu lassen (De Trinitate XI). Die N e u b e w e r t u n g der schöpferischen Potenz in allen (mechanischen, sprach lichen, ästhetischen) K ü n s t e n nach d e m Siegeszug der N e u e n Wissenschaften unter der Flagge Bacons, aber auch Vicos schien nur im Zerschneiden des ari stotelischen O r g a n o n möglich: Petrus R a m u s t r e n n t e die Phantasie, Montaigne den Intellekt, D i d e r o t die Vernunft vom Gedächtnisvermögen (Rossi 1991, S. 49 ff.; D i d e r o t , E l e m e n t s de physiologie, Kap. X X X I I ) . Was das Erinnerungs v e r m ö g e n , der „innere Schreiber" Arandas, in „Zeichen", „Bildern", „Inschrif t e n " festhält, das ist in der sensualistischen Perspektive John Lockes die not wendige Voraussetzung f ü r alles D e n k e n , Urteilen und E r k e n n e n gerade auch im Sinne neuer Einsichten und E n t d e c k u n g e n . O h n e Gedächtnis (memory) wäre das B e w u ß t s e i n leer, hätte die Reflexion, die Locke mit d e m E r i n n e r n (remembrance) gleichsetzt, keine G e g e n s t ä n d e . Auch wenn die Vorstellungsbilder (ideas) dem Gedächtnis in „verblassenden F a r b e n " eingeschrieben sind, der Geist hat die Macht, sie aktiv e r i n n e r n d wieder ins Bewußtsein zu rufen. G e n a u auf dieser re t e n t i o n a l r e p r o d u k t i v e n Fähigkeit b e r u h t aber, was Locke an Beispielen aus der M a t h e m a t i k und N e w t o n s Physik belegt, die Möglichkeit, eine „vergangene Er k e n n t n i s " wiederzubeleben, um sie zur G r u n d l a g e n e u e r Erkenntnisse werden zu lassen ( A n Essay Concerning H u m a n U n d e r s t a n d i n g II, 10.5; IV, 1.9). D e r Fortschritt positiven Wissens wird bald durch systematisches Vergessen er kauft, da j e d e wissenschaftliche Revolution mit der dogmatischen Setzung eines N e u a n f a n g s das v o r h e r g e h e n d e Wissen entwertet. In Literatur und Künsten, die mit d e m Fortschritt nicht v e r r e c h e n b a r sind, ä u ß e r t e sich die im N a m e n der Neu heit vollzogene A b w e n d u n g von der Autorität des traditionellen Gedächtnis und Imitationsprinzips in der Figur des Genies, von dem Lessing, stellvertretend für viele Zeitgenossen, b e h a u p t e t e , es v e r d a n k e seinen R e i c h t u m nicht dem „erwor b e n e n Vorrat seines Gedächtnisses, sondern ... seinem eigenen G e f ü h l " ( H a m b u r gische D r a m a t u r g i e , 34. Stück). Gedächtnis steht hier f ü r die Autorität des Tra dierten. Wie diesem die Macht zu n e h m e n sei, w u r d e in der „Psychologia empiri ca" Christian Wolffs mit Hinweis auf die produktive Freiheit der E r f i n d u n g s k r a f t (facultas fingendi) b e a n t w o r t e t , die das G e g e b e n e (die ü b e r k o m m e n e n Muster) d e k o m p o n i e r t , um durch spontanes U m s c h r e i b e n bzw. kombinatorisches U m s truktu r i e r e n etwas Neues zu schaffen (§ 149). Die durch die aufgeklärte Traditionskritik unterstützte A b k o p p e l u n g der (mo d e r n e n ) G e g e n w a r t von der Vergangenheit hat die Frage nach der Emanzipation des Bewußtseins von der n o r m a t i v e n Macht des Gedächtnisses verschärft. Wolffs „Psychologia empirica" (§§ 144, 204) hielt an der Macht der Ars mnemonica fest, w ä h r e n d er gleichzeitig die facultas legendi als eine vom Gedächtnis relativ unab hängige Form kreativen U m g a n g s mit den von der Einbildungskraft erzeugten Bildern (phantasmata) beschrieb. Kant verwarf in der „ A n t h r o p o l o g i e " (l.Teil, § 34) die ars mnemonica unter Hinweis auf die b e w u ß t e Willkür des Gedächtnis 740 Vermögens bei der R e p r o d u k t i o n f r ü h e r e r Vorstellungsbilder. Hegel verspottete das „ G e r e d e vom A u f b e w a h r e n der b e s o n d e r e n Vorstellungen in b e s o n d e r e n Fi bern und Plätzen'1 (Enzyklopädie § 453). E r interpretierte die „ E r i n n e r u n g " als ein InBeziehungSetzen zwischen den im „nächtlichen Schacht" der Innerlich keit a u f b e w a h r t e n Bildern und jener Anschauung, durch die das d e n k e n d e Ich verallgemeinernd von dem Besitz ergreift, was ihm äußerlich ist. E r faßt das Ge dächtnis, im Unterschied zur E r i n n e r u n g , als „ Ü b e r g a n g in die Tätigkeit des Ge dankens, der keine B e d e u t u n g m e h r hat", der bildlos und d a h e r o h n e Inhalt ist (§ 464). In der Bestimmung der Leitbegriffe „ E r i n n e r u n g und G e d ä c h t n i s " als formelle, von j e d e m bestimmten Inhalt freie Bedingungen der Geschichtsre//e;d on wehrt sich Hegels Philosophie gegen j e d e n von der Tradition a u s g e h e n d e n in haltlichen Autoritätsanspruch, o h n e die zur Geschichte g e w o r d e n e Tradition je n e m P a r a d o x o n aktiven Vergessens auszuliefern, das Nietzsches Angriff auf die hi storische Bildung in der „Zweiten U n z e i t g e m ä ß e n B e t r a c h t u n g " , „Vom Nutzen und Nachteil der Historie f ü r das L e b e n " , propagiert hat. Es ist bemerkenswert, daß Hegels Gedächtnistheorie durch die B e f u n d e der wissenschaftlichen Neurophysiologie gestützt wird. W ä h r e n d die empirische Psy chologie noch am Modell des Informationsspeichers festhält (Baddeley 1986), konzentriert sich die H i r n f o r s c h u n g auf die formellen Struktureigenschaften der R e t e n t i o n und R e p r o d u k t i o n . D a sich das Gedächtnis im menschlichen G e h i r n nicht lokalisieren läßt, sucht sie die Erinnerungsleistung aus d e m Z u s a m m e n s p i e l aller b e k a n n t e n H i r n f u n k t i o n e n zu erklären (Rosenfield 1988). Die A n n a h m e ei nes solchen Zusammenspiels widerspricht der Isolierung eines einzigen, genau b e s t i m m b a r e n Gedächtnisfeldes. Was wir „ G e d ä c h t n i s " oder „ E r i n n e r u n g " nen nen, ist daher weder von der körperlich vermittelten R a u m noch von der sprach lich vermittelten Z e i t w a h r n e h m u n g noch von der begrifflichen Kategorienbil dung (Verallgemeinerung) zu trennen. Wie das Ich seine Identität im Fluß der Er f a h r u n g e n und in der I n t e r a k t i o n mit a n d e r e n ständig reorganisiert, ebenso ver ändert sich die „dynamische S t r u k t u r " des Gedächtnisses bei j e d e m Wahrneh mungsreiz stets aufs n e u e (Rosenfield 1992, S. 14 ff.). Bewußtsein und E r i n n e r u n g bilden in dieser Perspektive eine flexible Einheit. D e r A k t des E r i n n e r n s gilt ihr worauf die Semantik von „Gedächtnis", „ G e d e n k e n " und „Innerlichmachen" hinweist als Form einer zugleich rezeptiven und kreativen Retentions und Kombinationsleistung kognitiver sowie imaginativer O p e r a t i o n e n . Die entspre chenden Kombinationszüge beziehen sich zwar auf kontextualisierte Wahrneh mungen, doch „speichern" wir gerade nicht irgendwelche „Wahrnehmungsbilder'1, sondern e r k e n n e n , im Vollzug des in wechselnden Kontexten proteisch sich wan delnden Erinnerns, die Kategorien wieder, die w ä h r e n d zeitlich f r ü h e r e r E r f a h rungen ausgebildet worden sind: „ O u r recognition of paintings or of people is the recognition of a category, not of a specific item. People are never exactly what they were m o m e n t s before, and objects are never seen in exactly the same way" (Rosenfield 1988, S. 159). Bleibt die Frage, ob diese B e o b a c h t u n g e n , die der traditionellen, von der Be ziehung zwischen G e f ä ß (Speicher) und Inhalt ( I n f o r m a t i o n ) ausgehenden Theo rie eine offene SchemaStruktur des persönlichen Gedächtnisses vorziehen, auch für das Geltung besitzen, was Begriffe wie „kollektives", „historisches" oder „kulturelles Gedächtnis" umschreiben. Zunächst ist festzuhalten, daß die Entste hung der Geschichte als Gedächtniswissenschaft im Sinne von methodisch kon trollierten Archivierungs, Konservierungs und Aneignungstechniken mit der 741 Evolution j e n e r modernen, komplexen Gesellschaften zusammenfällt, die anders als patrimonial strukturierte G e m e i n s c h a f t e n ein reflektiertes Verhältnis zum Vergangenen besitzen. Es mag sein, daß sich das kulturelle, zunächst auf Mytho gramme, Riten und orale Traditionen, in den Hochkulturen dann auf Schrift und schließlich auf a n d e r e technische bzw. elektronische Informationsspeicher ge stützte Gedächtnis kollektiver Lebenswelten als eine stets komplexer w e r d e n d e „Exteriorisierung" des Kortex interpretieren läßt ( L e r o i G o u r h a n 1988, S. 321 f.). Mit d e m Reflexivwerden der E r i n n e r u n g im Hegeischen Sinne ist diese in Analo gie zur W e r k z e u g e r f i n d u n g konstruierte H y p o t h e s e nicht zu vereinbaren. Indes sen gibt die Philosophie in der Vermittlung von Vernunft und Geschichte zu verstehen, d a ß mit dem G a n g der Geschichte auch das historische Gedächtnis in die Zuständigkeit aktiven Handelns, hier des wissenschaftlich konstruierenden Denkens, fällt. Das vergangene G e s c h e h e n kann nur historische E r i n n e r u n g werden, schreibt D r o y s e n Mitte des 19. Jahrhunderts, wenn es „aus seiner Äußerlichkeit in den wissenden Geist und in dessen Kombinationen verlegt ist" (Droysen 1977, S. 8). Die historische E r i n n e r u n g ist also nicht gegeben. Was vom Vergangenen da ist, bedarf, da es in Bruchstücken vor Augen liegt, des methodischen Verstehens (der I n t e r p r e t a t i o n ) , um E r i n n e r u n g , nämlich sinnhafte „Totalität" zu werden. Wie Hegel geht es auch D r o y s e n um die Freiheit vom Ü b e r k o m m e n e n , und ähnlich wie der Philosoph begreift er die historische E r i n n e r u n g als eine Gestalt der Re flexion: „Erst mit der Reflexion, in der wir es (das ü b e r k o m m e n e , unfreie Wissen) als vermitteltes e r k e n n e n , trennen wir es von uns selbst; die e r k a n n t e Tatsache der Vermittlung ist die E r i n n e r u n g ; und diese E r i n n e r u n g trennen wir von uns selbst ... Erst damit beginnen wir, frei in uns selbst zu sein und mit dem, was un mittelbar unser Inhalt war, schalten zu k ö n n e n " (Droysen 1977, S. 107). Das histo rische Gedächtnis ist d e m n a c h kein naturwüchsiges M n e m o t o p , in dem alles sinn voll geordnet und a b r u f b a r beieinander liegt. Es entsteht erst dann als ein „Ge d a n k e n b i l d " und wird f ü r die G e g e n w a r t zur begriffenen, also geistig „lebendigen E r i n n e r u n g " , wenn es j e n e r methodischen R e c h e r c h e u n t e r w o r f e n worden ist, de ren wissenschaftliche G r u n d l a g e n D r o y s e n s „Historik" Schritt für Schritt entfal tet. Weder ist das historische „ F a k t u m " noch ist die „Totalität" der Geschichte ge geben. Beides ist abhängig von einer konstruktiven Arbeit, die in zweifacher Bahn verläuft: in der Bahn der theoriegeleiteten Forschung und in der Nieder schrift der historischen Darstellung. Tradition erscheint unter den Bedingungen wissenschaftlicher Geschichtskon struktion nicht m e h r als M o m e n t einer u n g e b r o c h e n e n , auf D a u e r gestellten Kontinuität, sondern als eine Leitidee, unter deren F ü h r u n g die Bruchstellen, über die hinweg Sinn „ g e t r a g e n " werden soll (tradere in der U r s p r u n g s b e d e u t u n g von transdare), ins grelle Licht rücken. D e n n die Bruchstellen sind, wie die inne ren Widersprüche in einem Text, die Orte, an denen die Fragen aufgestellt sind, die der I n t e r p r e t zu b e a n t w o r t e n sucht. Droysens Begriff der „Totalität", der auf den Sinn der Geschichte zielt, ist d a h e r so abzuwandeln, daß auch die v e r p a ß t e n G e l e g e n h e i t e n als erinnernswerte Möglichkeiten unter ihn fallen. Die fragmenta rische Synthese des historischen Gedächtnisses entsteht, mit den Worten Paul Ri coeurs, aus der dialektischen Bewegung zwischen „Sedimentierung" (continuite) und „ I n n o v a t i o n " (dis continuite) (Ricoeur 1985, S. 395 ff.). Die E r i n n e r u n g spielt in diesem Prozeß das A m t des Vermittlers. Tradition, so auf A b s t a n d gebracht, steht dann vielleicht als ein neuartiges theatrum memoriae, nämlich als ein R e p e r 742 toire von Geschichten zur Verfügung, über dessen Auswahl sich eine soziale G r u p p e verständigen kann, um dem narrativen K e r n ihrer politischen und kultu rellen Identität das zuzurechnen, was sie f ü r gut hält. In komplexen Gesellschaften hat das historische Gedächtnis seine normative Geltung eingebüßt. Es deckt sich nicht m e h r mit d e m Gedächtnis des Kollektivs. Der Soziologe Maurice Halbwachs hat diesen B r u c h in den 20er Jahren regi striert und die identitätsbildende K r a f t des kollektiven Gedächtnisses als „Tradi tion" von der Geschichte, die „an d e m Punkt beginnt, an d e m die Tradition auf hört", unterschieden (Halbwachs 1985, S. 66). Ihm war durchaus bewußt, daß die z u n e h m e n d e soziale D i f f e r e n z i e r u n g auf das kollektive Gedächtnis einen p e r m a nenten Anpassungsdruck ausübt, und er hat sich nicht gescheut, die vom Kollek tiv diesem unterstellte Beständigkeit als Illusion zu bezeichnen (Halbwachs 1985, S. 76, S. 163). Wenn aber das kollektive Gedächtnis eine imaginäre Struktur be sitzt, die sich, d e m D r u c k beschleunigter gesellschaftlicher und kultureller Diffe renzierungen nicht Stand haltend, in i m m e r k ü r z e r e n A b s t ä n d e n d e k o m p o n i e r t und unter a n d e r e n Vorzeichen wieder a u f b a u t , dann sind umso m e h r die Wissen schaften der historischen Gedächtniskonstruktion (unter Einschluß der Allge mein, der Kultur und Alltagsgeschichte) gefordert, das r e t t e n d zu b e w a h r e n , was im Rausch des Wandels verloren zu gehen droht. Literatur ARISTOTELES: Kleine naturwissenschaftliche Schriften (Parva naturalia), übers, v. E. Rolfes, Leipzig 1926. ASSMANN, A./HARTH, D. (Hg.): Mnemosyne. F o r m e n und F u n k t i o n e n der kulturellen Erinnerung, F r a n k f u r t / M . 1991. ASSMANN, J.: Das kul turelle Gedächtnis. Schrift, E r i n n e r u n g und politische Identität in f r ü h e n Hoch kulturen, M ü n c h e n 1992. ASSMANN, J./HöLSCHER, T. 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