Gedächtnis und Erinnerung

Dietrich H a r t h
Gedächtnis und Erinnerung
Alle L e b e w e s e n sind um des Ü b e r l e b e n s willen auf eine biologische Merkfähig­
keit angewiesen, die es ihnen ermöglicht, Wahrnehmungsreize zu „speichern", sie
in irgendeiner Form zu v e r a r b e i t e n und je nach Bedarf spontan zu wiederholen
oder „ a b z u r u f e n " . Von dieser genetisch v e r a n k e r t e n Merkfähigkeit unterscheidet
sich das, was unsere Sprache mit den Worten „ E r i n n e r u n g und Gedächtnis" und
was a n d e r e europäische Sprachen mit Vokabeln b e n e n n e n , die von dem lateini­
schen Wort memoria abgeleitet sind, das seinerseits von griechisch mneme ab­
stammt. In allen Fällen verweisen die W ö r t e r auf innere, sei es spontane, sei es
willentliche D e n k ­ und Vorstellungstätigkeiten, die sich allerdings im Unterschied
zu a n d e r e n kognitiven bzw. imaginativen A k t e n auf zeitlich f r ü h e r e Wahrneh­
m u n g e n oder G e d a n k e n beziehen und das M o m e n t der Wiederholbarkeit (iteratio) einschließen. „Schon unsere Sprache gibt dem Gedächtnis", notiert Hegel in
der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften", „die h o h e Stellung der
u n m i t t e l b a r e n Verwandtschaft mit dem G e d a n k e n " (§ 464).
In der europäischen Ideengeschichte ist das E r i n n e r u n g s v e r m ö g e n sehr früh
als anthropologisches Apriori, nämlich als eine Bedingung der praktischen wie
theoretischen E r f a h r u n g verstanden worden und zählt insofern auf allen Stufen
der Tradition zu den allgemein a n e r k a n n t e n Voraussetzungen des leiblich­geisti­
gen Retentionsvermögens. Im Dialog „ M e n o n " (80a­82a) läßt Piaton durch Sokrates den Beweis f ü h r e n , alles E r k e n n e n sei W i e d e r e r i n n e r n (anämnesis). D e r
Piatonschüler Aristoteles diskutiert in der kleinen Schrift „De m e m o r i a et remi­
niscentia" ausführlich Funktion und Leistung des E r i n n e r u n g s v e r m ö g e n s im Ver­
hältnis zur W a h r n e h m u n g und zum D e n k e n . Seine vermögenspsychologisch grun­
dierten Ü b e r l e g u n g e n geben f ü r J a h r h u n d e r t e den Ton in der einschlägigen Theo­
riebildung an. Ihre Quintessenz gerinnt zu folgenden Aussagen:
­ „ G e d ä c h t n i s " (memoria) und „ E r i n n e r n " (reminiscentia) verhalten sich zuein­
ander wie das langsamere (animalische) zum schnelleren (intelligenten) Be­
halten (449b), anders gesagt: wie das passive A f f i z i e r t w e r d e n der Sinne zu den
aktiven B e w e g u n g e n des D e n k v e r m ö g e n s (453a).
­ W a h r n e h m u n g bezieht sich auf Gegenwärtiges, Voraussicht auf Zukünftiges,
G e d ä c h t n i s auf das Vergangene; allein das Gedächtnis stimmt mit dem
Zeitsinn überein (449b, 451a).
­ Voraussetzung für das E r i n n e r n ist der Eindruck, den eine f r ü h e r e „Wahrneh­
m u n g " oder „ M e i n u n g " als „ A f f e k t i o n " oder „Habitus" im Subjekt hinterlas­
sen hat; eine Spur, die sich in die Seele einzeichnet wie das Bild ins Wachs
„beim Siegeln mit d e m R i n g e " (450a).
­ Das f r ü h e r W a h r g e n o m m e n e sowohl wie das f r ü h e r G e d a c h t e werden eidetisch
erinnert, will sagen: O b j e k t der E r i n n e r u n g sind Vorstellungsbilder (phantäsmata), nicht der Reiz, die Sache oder das vorige G e d a c h t e selbst (450a). „Hier­
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aus sieht man, welchem Teil oder Vermögen der Seele das Gedächtnis ange­
hört, demselben nämlich wie die Phantasie" (450a).
­ Es gibt ein spontanes und ein suchendes E r i n n e r n . D a s letztere läßt sich durch
technische Verfahren schulen, die in der Topik, d. h. in der rhetorisch­dialekti­
schen Heuristik (inventio), entwickelt worden sind: z. B. die methodische Su­
che nach den „Orten/Plätzen" (töpoi/loci), deren sequentielle Folgen „feste
(mnemotechnische) O r d n u n g e n " bilden. Beispiele sind mathematische und al­
phabetische Reihen, aber auch Schlußfolgerungen im Sinne logisch struktu­
rierter Satzreihen.
Das aristotelische Konzept warf P r o b l e m e auf, die in der Folgezeit immer wieder
Gegenstand erinnerungsträchtiger Reflexionen geworden sind. Die in Punkt 5 an­
gesprochene mögliche Disziplinierung des E r i n n e r u n g s v e r m ö g e n s hat zumindest
zwei Seiten. Z u m einen zeigt sie Verwandtschaft mit der Form rationaler Urteils­
bildung, zum andern erinnert sie an die in der sophistischen R h e t o r i k ausführli­
cher b e h a n d e l t e n technischen G r u n d l a g e n jener ars memorativa ( = M n e m o n i k ) ,
die, vermittelt über römische, spätantike, mittelalterliche und humanistische
Schriftkundige, in das neuzeitliche Wissenschafts­ und Bildungssystem eingewan­
dert sind (Yates 1990; Bolzoni 1991; C o l e m a n 1992). D a s Christentum verstand
sich nach dem A b e n d m a h l s w o r t „Tut dies zu m e i n e m Gedächtnis!" (Paulus,
1. Kor. 11, 24) als Erinnerungsgemeinschaft, und die alte M e t a p h o r i k des Ein­
schreibens hat sich, gestärkt durch die normative M n e m o n i k der religiösen Buch­
kultur, als geschichtsmächtiges I n t e r p r e t a m e n t durchgesetzt. Die m a ß g e b e n d e n
technischen Regeln für das Training sowohl der memoria als auch der korrelativ
mit ihr v e r b u n d e n e n inventio, die beide in den Dienst s c h r i f t b e w a h r e n d e r und ­
auslegender Tätigkeiten traten, stammten aus Ciceros „ D e inventione" und aus
der Rhetorik des sogenannten Auetor ad H e r e n m i u m . „La m e m o r i a " , schrieb
1613 der Spanier Juan de A r a n d a , „es un escribano que vive d e n t r o del h o m b r e "
(Rossi 1991, S. 35). Dieses Sinnbild kennzeichnet eine für die Neuzeit charakteri­
stische Verschiebung von der passiven zur aktiven F u n k t i o n des Gedächtnisses.
Es löst den Topos vom Siegelringabdruck im Wachsblock ab, der seit Piaton
(Theaetet, 191c­d) und Aristoteles in Umlauf war, um eine angeblich unvermittel­
te Einwirkung der sinnlichen Perzeption auf den seelischen R e z e p t o r zu um­
schreiben.
Die starke Gewichtung des r e p r o d u k t i v e n Gedächtnisses in der rhetorisch
f u n d i e r t e n M n e m o n i k hat jenen T h e o r e t i k e r n keine R u h e gelassen, die mit der
Suche nach dem Schöpferischen dem nachspürten, was ­ im cartesianischen Sinne
­ dem Einschreiben bis dahin ungedachter, eben n e u e r Zeichen auf der absicht­
lich gelöschten Gedächtnistafel {tabula rasa) entsprach. Das Imitationsprinzip in
der künstlerischen und literarischen Ausbildung hielt sich bekanntlich weitge­
hend an die mnemotechnischen Regeln der Iteration. Aristoteles hatte zwar zwi­
schen dem niederen (langsamen) und dem h ö h e r e n (schnelleren) Gedächtnis­
bzw. E r i n n e r u n g s v e r m ö g e n unterschieden und die Einbildungskraft an der Er­
zeugung r e p r o d u z i e r b a r e r Vorstellungsbilder beteiligt; die den normativen A n ­
spruch des mimetischen Gedächtnisses um eines N e u e n willen ü b e r w i n d e n d e
schöpferische Spontaneität lag aber a u ß e r h a l b seines Gesichtskreises. D a m i t war
ein christlicher, von der Schöpfungstheologie geprägter Aristoteliker wie der ehe­
malige R h e t o r i k l e h r e r Augustinus nicht zufrieden. E r stieß z. B. bei seiner Selbst­
befragung im 10. Buch der „Confessiones" auf das irritierende Prinzip, daß selbst
das Vergessen im Gedächtnis behalten werde (memoria retinetur oblivio). Dieses
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E r i n n e r n des Nicht-Erinnerns wird ihm zum Ausgangspunkt f ü r eine Selbstverge­
wisserung, die mit Hilfe der r e p r o d u k t i v e n E r i n n e r u n g Selbst­Vergessenheit aus­
schließt, aber zugleich an die G r e n z e n der Ichtransparenz und damit auf das
stößt, woran j e d e endliche W a h r n e h m u n g und E r k e n n t n i s scheitert. Diese Grenze
zu überschreiten, ist nach Augustinus gerade nicht mehr Sache der Erinnerung,
sondern allein des Willens (voluntas), der die Seele davon abbringt, allein in sich
selbst zu „lesen". Die A n n ä h e r u n g an das absolute Prinzip der Schöpfung, an
Gott, folgt d e m n a c h einem Weg, der das Gedächtnis durchquert, um es hinter sich
zu lassen (De Trinitate XI).
Die N e u b e w e r t u n g der schöpferischen Potenz in allen (mechanischen, sprach­
lichen, ästhetischen) K ü n s t e n nach d e m Siegeszug der N e u e n Wissenschaften ­
unter der Flagge Bacons, aber auch Vicos ­ schien nur im Zerschneiden des ari­
stotelischen O r g a n o n möglich: Petrus R a m u s t r e n n t e die Phantasie, Montaigne
den Intellekt, D i d e r o t die Vernunft vom Gedächtnisvermögen (Rossi 1991,
S. 49 ff.; D i d e r o t , E l e m e n t s de physiologie, Kap. X X X I I ) . Was das Erinnerungs­
v e r m ö g e n , der „innere Schreiber" Arandas, in „Zeichen", „Bildern", „Inschrif­
t e n " festhält, das ist ­ in der sensualistischen Perspektive John Lockes ­ die not­
wendige Voraussetzung f ü r alles D e n k e n , Urteilen und E r k e n n e n gerade auch im
Sinne neuer Einsichten und E n t d e c k u n g e n . O h n e Gedächtnis (memory) wäre das
B e w u ß t s e i n leer, hätte die Reflexion, die Locke mit d e m E r i n n e r n (remembrance)
gleichsetzt, keine G e g e n s t ä n d e . Auch wenn die Vorstellungsbilder (ideas) dem
Gedächtnis in „verblassenden F a r b e n " eingeschrieben sind, der Geist hat die
Macht, sie aktiv e r i n n e r n d wieder ins Bewußtsein zu rufen. G e n a u auf dieser re­
t e n t i o n a l ­ r e p r o d u k t i v e n Fähigkeit b e r u h t aber, was Locke an Beispielen aus der
M a t h e m a t i k und N e w t o n s Physik belegt, die Möglichkeit, eine „vergangene Er­
k e n n t n i s " wiederzubeleben, um sie zur G r u n d l a g e n e u e r Erkenntnisse werden zu
lassen ( A n Essay Concerning H u m a n U n d e r s t a n d i n g II, 10.5; IV, 1.9).
D e r Fortschritt positiven Wissens wird bald durch systematisches Vergessen er­
kauft, da j e d e wissenschaftliche Revolution mit der dogmatischen Setzung eines
N e u a n f a n g s das v o r h e r g e h e n d e Wissen entwertet. In Literatur und Künsten, die
mit d e m Fortschritt nicht v e r r e c h e n b a r sind, ä u ß e r t e sich die im N a m e n der Neu­
heit vollzogene A b w e n d u n g von der Autorität des traditionellen Gedächtnis­ und
Imitationsprinzips in der Figur des Genies, von dem Lessing, stellvertretend für
viele Zeitgenossen, b e h a u p t e t e , es v e r d a n k e seinen R e i c h t u m nicht dem „erwor­
b e n e n Vorrat seines Gedächtnisses, sondern ... seinem eigenen G e f ü h l " ( H a m b u r ­
gische D r a m a t u r g i e , 34. Stück). Gedächtnis steht hier f ü r die Autorität des Tra­
dierten. Wie diesem die Macht zu n e h m e n sei, w u r d e in der „Psychologia empiri­
ca" Christian Wolffs mit Hinweis auf die produktive Freiheit der E r f i n d u n g s k r a f t
(facultas fingendi) b e a n t w o r t e t , die das G e g e b e n e (die ü b e r k o m m e n e n Muster)
d e k o m p o n i e r t , um durch spontanes U m s c h r e i b e n bzw. kombinatorisches U m ­
s truktu r i e r e n etwas Neues zu schaffen (§ 149).
Die durch die aufgeklärte Traditionskritik unterstützte A b k o p p e l u n g der (mo­
d e r n e n ) G e g e n w a r t von der Vergangenheit hat die Frage nach der Emanzipation
des Bewußtseins von der n o r m a t i v e n Macht des Gedächtnisses verschärft. Wolffs
„Psychologia empirica" (§§ 144, 204) hielt an der Macht der Ars mnemonica fest,
w ä h r e n d er gleichzeitig die facultas legendi als eine vom Gedächtnis relativ unab­
hängige Form kreativen U m g a n g s mit den von der Einbildungskraft erzeugten
Bildern (phantasmata) beschrieb. Kant verwarf in der „ A n t h r o p o l o g i e " (l.Teil,
§ 34) die ars mnemonica unter Hinweis auf die b e w u ß t e Willkür des Gedächtnis­
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Vermögens bei der R e p r o d u k t i o n f r ü h e r e r Vorstellungsbilder. Hegel verspottete
das „ G e r e d e vom A u f b e w a h r e n der b e s o n d e r e n Vorstellungen in b e s o n d e r e n Fi­
bern und Plätzen'1 (Enzyklopädie § 453). E r interpretierte die „ E r i n n e r u n g " als
ein In­Beziehung­Setzen zwischen den im „nächtlichen Schacht" der Innerlich­
keit a u f b e w a h r t e n Bildern und jener Anschauung, durch die das d e n k e n d e Ich
verallgemeinernd von dem Besitz ergreift, was ihm äußerlich ist. E r faßt das Ge­
dächtnis, im Unterschied zur E r i n n e r u n g , als „ Ü b e r g a n g in die Tätigkeit des Ge­
dankens, der keine B e d e u t u n g m e h r hat", der bildlos und d a h e r o h n e Inhalt ist
(§ 464). In der Bestimmung der Leitbegriffe „ E r i n n e r u n g und G e d ä c h t n i s " als
formelle, von j e d e m bestimmten Inhalt freie Bedingungen der Geschichtsre//e;d­
on wehrt sich Hegels Philosophie gegen j e d e n von der Tradition a u s g e h e n d e n in­
haltlichen Autoritätsanspruch, o h n e die zur Geschichte g e w o r d e n e Tradition je­
n e m P a r a d o x o n aktiven Vergessens auszuliefern, das Nietzsches Angriff auf die hi­
storische Bildung in der „Zweiten U n z e i t g e m ä ß e n B e t r a c h t u n g " , „Vom Nutzen
und Nachteil der Historie f ü r das L e b e n " , propagiert hat.
Es ist bemerkenswert, daß Hegels Gedächtnistheorie durch die B e f u n d e der
wissenschaftlichen Neurophysiologie gestützt wird. W ä h r e n d die empirische Psy­
chologie noch am Modell des Informationsspeichers festhält (Baddeley 1986),
konzentriert sich die H i r n f o r s c h u n g auf die formellen Struktureigenschaften der
R e t e n t i o n und R e p r o d u k t i o n . D a sich das Gedächtnis im menschlichen G e h i r n
nicht lokalisieren läßt, sucht sie die Erinnerungsleistung aus d e m Z u s a m m e n s p i e l
aller b e k a n n t e n H i r n f u n k t i o n e n zu erklären (Rosenfield 1988). Die A n n a h m e ei­
nes solchen Zusammenspiels widerspricht der Isolierung eines einzigen, genau
b e s t i m m b a r e n Gedächtnisfeldes. Was wir „ G e d ä c h t n i s " oder „ E r i n n e r u n g " nen­
nen, ist daher weder von der körperlich vermittelten R a u m ­ noch von der sprach­
lich vermittelten Z e i t w a h r n e h m u n g noch von der begrifflichen Kategorienbil­
dung (Verallgemeinerung) zu trennen. Wie das Ich seine Identität im Fluß der Er­
f a h r u n g e n und in der I n t e r a k t i o n mit a n d e r e n ständig reorganisiert, ebenso ver­
ändert sich die „dynamische S t r u k t u r " des Gedächtnisses bei j e d e m Wahrneh­
mungsreiz stets aufs n e u e (Rosenfield 1992, S. 14 ff.). Bewußtsein und E r i n n e r u n g
bilden in dieser Perspektive eine flexible Einheit. D e r A k t des E r i n n e r n s gilt ihr
­ worauf die Semantik von „Gedächtnis", „ G e d e n k e n " und „Innerlichmachen"
hinweist ­ als Form einer zugleich rezeptiven und kreativen Retentions­ und
Kombinationsleistung kognitiver sowie imaginativer O p e r a t i o n e n . Die entspre­
chenden Kombinationszüge beziehen sich zwar auf kontextualisierte Wahrneh­
mungen, doch „speichern" wir gerade nicht irgendwelche „Wahrnehmungsbilder'1,
sondern e r k e n n e n , im Vollzug des in wechselnden Kontexten proteisch sich wan­
delnden Erinnerns, die Kategorien wieder, die w ä h r e n d zeitlich f r ü h e r e r E r f a h ­
rungen ausgebildet worden sind: „ O u r recognition of paintings or of people is the
recognition of a category, not of a specific item. People are never exactly what
they were m o m e n t s before, and objects are never seen in exactly the same way"
(Rosenfield 1988, S. 159).
Bleibt die Frage, ob diese B e o b a c h t u n g e n , die der traditionellen, von der Be­
ziehung zwischen G e f ä ß (Speicher) und Inhalt ( I n f o r m a t i o n ) ausgehenden Theo­
rie eine offene Schema­Struktur des persönlichen Gedächtnisses vorziehen, auch
für das Geltung besitzen, was Begriffe wie „kollektives", „historisches" oder
„kulturelles Gedächtnis" umschreiben. Zunächst ist festzuhalten, daß die Entste­
hung der Geschichte als Gedächtniswissenschaft im Sinne von methodisch kon­
trollierten Archivierungs­, Konservierungs­ und Aneignungstechniken mit der
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Evolution j e n e r modernen, komplexen Gesellschaften zusammenfällt, die ­ anders
als patrimonial strukturierte G e m e i n s c h a f t e n ­ ein reflektiertes Verhältnis zum
Vergangenen besitzen. Es mag sein, daß sich das kulturelle, zunächst auf Mytho­
gramme, Riten und orale Traditionen, in den Hochkulturen dann auf Schrift und
schließlich auf a n d e r e technische bzw. elektronische Informationsspeicher ge­
stützte Gedächtnis kollektiver Lebenswelten als eine stets komplexer w e r d e n d e
„Exteriorisierung" des Kortex interpretieren läßt ( L e r o i ­ G o u r h a n 1988, S. 321 f.).
Mit d e m Reflexivwerden der E r i n n e r u n g im Hegeischen Sinne ist diese in Analo­
gie zur W e r k z e u g e r f i n d u n g konstruierte H y p o t h e s e nicht zu vereinbaren. Indes­
sen gibt die Philosophie ­ in der Vermittlung von Vernunft und Geschichte ­ zu
verstehen, d a ß mit dem G a n g der Geschichte auch das historische Gedächtnis in
die Zuständigkeit aktiven Handelns, hier des wissenschaftlich konstruierenden
Denkens, fällt.
Das vergangene G e s c h e h e n kann nur historische E r i n n e r u n g werden, schreibt
D r o y s e n Mitte des 19. Jahrhunderts, wenn es „aus seiner Äußerlichkeit in den
wissenden Geist und in dessen Kombinationen verlegt ist" (Droysen 1977, S. 8).
Die historische E r i n n e r u n g ist also nicht gegeben. Was vom Vergangenen da ist,
bedarf, da es in Bruchstücken vor Augen liegt, des methodischen Verstehens (der
I n t e r p r e t a t i o n ) , um E r i n n e r u n g , nämlich sinnhafte „Totalität" zu werden. Wie
Hegel geht es auch D r o y s e n um die Freiheit vom Ü b e r k o m m e n e n , und ähnlich
wie der Philosoph begreift er die historische E r i n n e r u n g als eine Gestalt der Re­
flexion: „Erst mit der Reflexion, in der wir es (das ü b e r k o m m e n e , unfreie Wissen)
als vermitteltes e r k e n n e n , trennen wir es von uns selbst; die e r k a n n t e Tatsache
der Vermittlung ist die E r i n n e r u n g ; und diese E r i n n e r u n g trennen wir von uns
selbst ... Erst damit beginnen wir, frei in uns selbst zu sein und mit dem, was un­
mittelbar unser Inhalt war, schalten zu k ö n n e n " (Droysen 1977, S. 107). Das histo­
rische Gedächtnis ist d e m n a c h kein naturwüchsiges M n e m o t o p , in dem alles sinn­
voll geordnet und a b r u f b a r beieinander liegt. Es entsteht erst dann als ein „Ge­
d a n k e n b i l d " und wird f ü r die G e g e n w a r t zur begriffenen, also geistig „lebendigen
E r i n n e r u n g " , wenn es j e n e r methodischen R e c h e r c h e u n t e r w o r f e n worden ist, de­
ren wissenschaftliche G r u n d l a g e n D r o y s e n s „Historik" Schritt für Schritt entfal­
tet. Weder ist das historische „ F a k t u m " noch ist die „Totalität" der Geschichte ge­
geben. Beides ist abhängig von einer konstruktiven Arbeit, die in zweifacher
Bahn verläuft: in der Bahn der theoriegeleiteten Forschung und in der Nieder­
schrift der historischen Darstellung.
Tradition erscheint unter den Bedingungen wissenschaftlicher Geschichtskon­
struktion nicht m e h r als M o m e n t einer u n g e b r o c h e n e n , auf D a u e r gestellten
Kontinuität, sondern als eine Leitidee, unter deren F ü h r u n g die Bruchstellen,
über die hinweg Sinn „ g e t r a g e n " werden soll (tradere in der U r s p r u n g s b e d e u t u n g
von trans­dare), ins grelle Licht rücken. D e n n die Bruchstellen sind, wie die inne­
ren Widersprüche in einem Text, die Orte, an denen die Fragen aufgestellt sind,
die der I n t e r p r e t zu b e a n t w o r t e n sucht. Droysens Begriff der „Totalität", der auf
den Sinn der Geschichte zielt, ist d a h e r so abzuwandeln, daß auch die v e r p a ß t e n
G e l e g e n h e i t e n als erinnernswerte Möglichkeiten unter ihn fallen. Die fragmenta­
rische Synthese des historischen Gedächtnisses entsteht, mit den Worten Paul Ri­
coeurs, aus der dialektischen Bewegung zwischen „Sedimentierung" (continuite)
und „ I n n o v a t i o n " (dis continuite) (Ricoeur 1985, S. 395 ff.). Die E r i n n e r u n g spielt
in diesem Prozeß das A m t des Vermittlers. Tradition, so auf A b s t a n d gebracht,
steht dann vielleicht als ein neuartiges theatrum memoriae, nämlich als ein R e p e r ­
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toire von Geschichten zur Verfügung, über dessen Auswahl sich eine soziale
G r u p p e verständigen kann, um dem narrativen K e r n ihrer politischen und kultu­
rellen Identität das zuzurechnen, was sie f ü r gut hält.
In komplexen Gesellschaften hat das historische Gedächtnis seine normative
Geltung eingebüßt. Es deckt sich nicht m e h r mit d e m Gedächtnis des Kollektivs.
Der Soziologe Maurice Halbwachs hat diesen B r u c h in den 20er Jahren regi­
striert und die identitätsbildende K r a f t des kollektiven Gedächtnisses als „Tradi­
tion" von der Geschichte, die „an d e m Punkt beginnt, an d e m die Tradition auf­
hört", unterschieden (Halbwachs 1985, S. 66). Ihm war durchaus bewußt, daß die
z u n e h m e n d e soziale D i f f e r e n z i e r u n g auf das kollektive Gedächtnis einen p e r m a ­
nenten Anpassungsdruck ausübt, und er hat sich nicht gescheut, die vom Kollek­
tiv diesem unterstellte Beständigkeit als Illusion zu bezeichnen (Halbwachs 1985,
S. 76, S. 163). Wenn aber das kollektive Gedächtnis eine imaginäre Struktur be­
sitzt, die sich, d e m D r u c k beschleunigter gesellschaftlicher und kultureller Diffe­
renzierungen nicht Stand haltend, in i m m e r k ü r z e r e n A b s t ä n d e n d e k o m p o n i e r t
und unter a n d e r e n Vorzeichen wieder a u f b a u t , dann sind umso m e h r die Wissen­
schaften der historischen Gedächtniskonstruktion (unter Einschluß der Allge­
mein­, der Kultur­ und Alltagsgeschichte) gefordert, das r e t t e n d zu b e w a h r e n , was
im Rausch des Wandels verloren zu gehen droht.
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