Fälle 1-

Kartellrecht I
Skript
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KARTELLRECHT I
Fälle zur Vorlesung
Stand: 7.12.2015
Diese Unterlagen sind für Teilnehmer des Kurses bestimmt.
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Wintersemester 2015/16
Prof. Dr. Florian Bien
Kartellrecht I
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A. Kartellrecht in transnationalen Fällen
(Originalaufgaben aus der studienabschließenden Klausur im SPB 3 im WS 2014/15)
I. Aufgaben
Fall 1: Die beiden Konkurrenten A und B, ein russisches und ein brasilianisches Unternehmen, vereinbaren einen Mindestpreis für Waren, die sie nach Deutschland exportieren. Andere Mitgliedsstaaten der EU sind nicht von dem Kartell betroffen. A und B halten mit dem kartellierten Produkt in
Deutschland einen gemeinsamen Marktanteil von 50 Prozent.
Fragen:
(1) Welche europäischen Kartellrechtsordnungen sind anwendbar? (2) Welche europäischen
Kartellbehörden sind für die Anwendung zuständig? (3) In welchem Verhältnis stehen die
anwendbaren Kartellrechtsordnungen zueinander?
Fall 2: Die beiden großen US-amerikanischen Flugzeughersteller C und D wollen fusionieren (gemeinsamer weltweiter Umsatz: 20 Milliarden EUR/Jahr). Beide verkaufen Flugzeuge unter anderem an die
Deutsche Lufthansa, an Air France und an British Airways. Allein die Deutsche Lufthansa kauft jedes
Jahr sowohl bei C als auch bei D mindestens vier Flugzeuge pro Jahr zum Preis von 80 Millionen EUR
pro Stück.
Fragen:
(1) Welche europäische Kartellrechtsordnung ist anwendbar? (2) Welche europäische Kartellbehörde ist für die Anwendung zuständig?
II. Lösungen
Fall 1
Frage 1
(a) Deutschland: hier gilt gemäß § 130 Abs. 2 GWB 1 das sog. Auswirkungsprinzip  Deutsches Kartellrecht anwendbar.
(b) EU: Hier gilt Entsprechendes, wenngleich der EuGH eine eindeutige Festlegung bislang
vermeidet und wenigstens formal am Territorialitätsprinzip festhält. Im praktischen Ergebnis
besteht kein Unterschied, da er nicht auf den Ort der Absprache, sondern der Ausführung abstellt (sog. „implementation doctrine“). 2
Als weitere Voraussetzung für die Anwendbarkeit des EU-Rechts bedarf es noch einer Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels (Art. 101 AEUV). Dieses Tatbestandsmerkmal
wird weit ausgelegt. Es genügt bereits, wenn sich ein Kartell wie vorliegend auf das gesamte
1
„Dieses Gesetz findet Anwendung auf alle Wettbewerbsbeschränkungen, die sich im Geltungsbereich dieses
Gesetzes auswirken, auch wenn sie außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes veranlasst werden.“
EuGH, Urt. v. 27.9.1988 - Rs 89/85, Slg. 1988, 5193 = NJW 1988, 3086 – Zellstoffhersteller: „1. Art. 85 EWGV
[jetzt Art. 101 AEUV] ist auf Unternehmen mit Sitz außerhalb der Europäischen Gemeinschaft anwendbar, wenn
diese sich über die Preise für ihre in der Gemeinschaft ansässigen Kunden abstimmen und tatsächlich zu den
koordinierten Preisen verkaufen, weil diese Abstimmung eine Einschränkung des Wettbewerbs innerhalb des
gemeinsamen Marktes bezweckt oder bewirkt (Wirkungsprinzip).
2
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Gebiet eines mindestens großen Mitgliedsstaates wie Deutschland erstreckt, weil das Kartell
„seinem Wesen nach die Wirkung [hat], die Abschottung der Märkte auf nationaler Ebene zu
verfestigen“. 3
Von der Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung ist angesichts des hohen Marktanteils
von A und B (50 Prozent) auszugehen.
 EU-Kartellrecht ist anwendbar.
Frage 2: Zuständigkeit für die Anwendung:
Für das EU-Recht: Kommission und nationale Kartellbehörden (hier: Bundeskartellamt) gemäß Art. 4 bzw. 5 VO 1/2003 sowie §§ 48, 50 GWB. Bei Einleitung eines Verfahrens durch die
Kommission entfällt gem. Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003 die Zuständigkeit der nationalen Behörden.
Für das deutsche Recht: allein das Bundeskartellamt (§ 48 GWB).
Frage 3: Verhältnis der beiden Rechtsordnungen zueinander
Vorliegend steht ein Kartellverstoß in Rede (Art. 101 AEUV). Das deutsche Kartellrecht kann
trotz der Anwendbarkeit des EU-Rechts angewandt werden. Das Bundeskartellamt ist gem.
Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 allerdings zur parallelen Anwendung von Art. 101 AEUV verpflichtet. Die Anwendung von § 1 GWB darf gem. Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003 nicht zu abweichenden Ergebnissen der Beurteilung aus Art. 101 AEUV führen. Insbesondere darf kein Verhalten von Unternehmen auf nationaler Ebene untersagt werden, welches auf europäischer
Ebene erlaubt wäre. Nationales (hier: deutsches) und Unionskartellrecht müssen in diesen
Fällen exakt so angewendet werden wie das Unionskartellrecht (Konvergenz der Ergebnisse).
Fall 2:
(1) Anwendbares Recht
Entscheidend für die Anwendbarkeit der europäischen FKVO ist das Merkmal der gemeinschaftsweiten Bedeutung. Diese bestimmt sich objektiv anhand des Umsatzes der beteiligten Unternehmen (sog. Aufgreifkriterien). Da im vorliegenden Fall der weltweite Gesamtumsatz der beiden Unternehmen C und D 20 Milliarden EUR/Jahr beträgt und die Unternehmen
C und D außerdem jeweils mehr als 250 Millionen EUR/Jahr in der Europäischen Union erwirtschaften (4 x 80 Millionen EUR/Jahr), greift gem. Art. 1 Abs. 1, 2 FKVO die europäische
Fusionskontrolle ein. Dass der vorliegend in Rede stehende Zusammenschluss der Unternehmen C und D in den USA und damit außerhalb Europas vollzogen werden soll, steht der
Anwendbarkeit europäischen Rechts nicht entgegen. Entscheidend ist allein der Umstand,
dass (erhebliche) Umsätze im Gebiet der EU erzielt werden.
Die Anwendbarkeit des nationale Fusionskontrollrechts (z. B. des deutschen, französischen
und britischen) ist daneben ausgeschlossen, Art. 21 Abs. 3 FKVO. Man spricht vom Prinzip
3
EuGH v. 13. 7. 1966 – Rs. 56/64 und 58/64, Slg. 1966, 321, 389 – Consten und Grundig.
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des one stop shop. Die Anwendbarkeit des mitgliedsstaatlichen Fusionskontrollrechts kommt
allerdings in Betracht, wenn eine entsprechende Verweisung erfolgt (siehe sogleich).
(2) Zuständigkeit
Gem. Art. 21 Abs. 2 FKVO ist für die Anwendung des EU-Rechts ausschließlich die EUKommission zuständig. Anders als im Bereich des Kartellverbots und des Verbots des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung ist das Bundeskartellamt zur Anwendung des
EU-Fusionskontrollrechts nicht befugt. Allerdings ist eine Verweisung von der Kommission zu
einer nationalen Behörde möglich (mit der Folge der Anwendbarkeit des nationalen Rechts).
Dies kann auf Antrag der Beteiligten (Art. 4 Abs. 4 FKVO) oder auf Antrag eines Mitgliedsstaats erfolgen (Art. 9 FKVO).
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B. EuGH, Urt. v. 14.07.1972, Rs. 48/69, Slg. 1972, 619 – Teerfarben
I. Tatbestand (Tz. 1 ff.)
Die führenden europäischen Farbstoffhersteller treffen sich seit Jahren in unregelmäßigen Abständen und in unterschiedlicher Zusammensetzung zu einem allgemeinen und unverbindlichen Austausch von Erfahrungen und Informationen. Gegenstand dieser Besprechungen sind insbesondere
die Marktlage und die Verkaufsbreite für Teerfarben. Am 18. August 1967 fand ein solches Treffen
bei der Sandoz AG in Basel statt. Teilgenommen haben u. a. Vertreter von Unternehmen aus
Deutschland, Frankreich, England und der Schweiz. Nachdem zunächst einige allgemeine Tagesordnungspunkte diskutiert worden waren, erklärte ein Vertreter der schweizerischen J. R. Geigy AG, als
größtes Unternehmen der Branche, dass diese ihre Preise für Teerfarben alsbald um 8% erhöhen
werden. Danach meldeten sich auch andere Hersteller zu Wort und äußerten ihre Besorgnis über die
Erlös- und Kostenentwicklung in diesem Sektor und dass innerhalb des Unternehmens ständig Überlegungen zur Erhöhung der Verkaufspreise angestellt würden. Man bestärkte sich gegenseitig in der
Ansicht, dass eine 8%ige Preiserhöhung durchgesetzt werden müsse. Zum 16. Oktober 1967 wurde
dann von den betroffenen Unternehmen durch zeitlich nacheinander liegende Beschlüsse und Ankündigungen die Preise für Teerfarben gleichförmig um 8% erhöht. Eine ähnliche Vorgehensweise zur
Erhöhung der Farbstoffpreise fand bereits in den Jahren 1964 und 1965 erfolgreich statt.
Aufgrund der gleichförmigen Preiserhöhungen hat die Kommission durch Beschluss vom 31. Mai
1967 nach Art. 3 der VO Nr. 17/62 von Amts wegen ein Verfahren wegen mutmaßlicher Verletzung
von Art. 85 Abs. 1 EWG-Vertrag [jetzt: Art. 101 Abs. 1 AEUV] gegen siebzehn Farbstoffhersteller mit
Sitz innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft sowie gegen zahlreche Tochtergesellschaften und
Vertreter dieser Unternehmen eingeleitet. Die Kommission hat durch Entscheidung am 24. Juli 1969
festgestellt, dass die Preiserhöhungen, da sie das Ergebnis von willentlich aufeinander abgestimmten
Verhaltensweisen seien, einen Verstoß gegen Art. 85 Abs. 1 EWG-Vertrag [jetzt: 101 Abs. 1 AEUV]
darstellen und entsprechende Geldbußen in Höhe von 40.000 bis 50.000 Rechnungseinheiten gegen
die betreffenden Unternehmen festgesetzt. Gegen diese Entscheidung hat die Firma Imperial Chemical Industries LTD. am 01. Oktober 1969 Klage erhoben.
Der EuGH hatte sich mit der Frage zu befassen, inwieweit die bloße Ankündigung eines Unternehmens in oligopolistisch strukturierten Märkten zu einem bestimmten Stichtag die Preise erhöhen zu
wollen, einen Verstoß gegen das Wettbewerbsgesetz darstellt.
Gehen Sie dazu von folgenden Annahmen 4 aus: (1) Das größtes Unternehmen, J. R. Geigy AG, hat
einen Marktanteil von über 20%. (2) Der Umsatz der J. R. Geigy AG beträgt weit mehr als 40 Mio €
pro Jahr.
II. Überblick über das Prüfungsschema des EuGH
Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen nach Art. 101 AEUV (= ex Art. 85 EGV, ex Art. 81 EG)
I. Bestimmung der Marktstruktur
→ Oligopol
→ es gibt ein großes Unternehmen, das ankündigt, die Preise zu erhöhen
4
Im Urt. des EuGH v. 14.7.1972 finden sich hierzu keine konkreten Angaben.
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1. Produktions- und Kostenstruktur der beteiligten Unternehmen
→ unterschiedlich
2. Grad der Austauschbarkeit der Erzeugnisse
a. Standardfarbstoffe
→ relativ gut
b. Spezialfarbstoffe
→ sehr niedrig
II. Relevante Märkte
1. Ausgestaltung
→ nationale Märkte mit zum Teil deutlich unterschiedlichem Preisniveau
2. Einfluss des Preisführers
→ hoch
a. Markttransparenz
→ aufgrund der wenigen Unternehmen kann man sehr gut beobachten, was im Markt
passiert
b. Abschottung der Märkte
→ Notwendigkeit eines anwenderfreundlichen Kundendienstes ist unabdingbar
III. Bewertung durch den EuGH
1. Ankündigung von Preisen ist Form von willentlich koordiniertem Verhalten
→ zielt ab auf abgeschottete nationale Märkte mit unterschiedlicher Nachfrage- und Kostenstrukturen
→ Abgrenzung von autonomem Parallelverhalten
2. Entscheidungsgründe
a. Preisentwicklungstendenzen
→ in den verschiedenen nationalen Märkten hätten sich andere Preise entwickelt
b. Weitere anormale Marktbedingungen
→ gleiche Erhöhung zu annähernd gleichen Stichtagen
→ dieses Phänomen ist nicht mit normalen Wettbewerbsregeln zu erklären
III. Gutachten 5
I. Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV und Unwirksamkeit der Verhaltensweise gem. Art. 101 Abs.
2 AEUV
5
Auf der Grundlage einer Bearbeitung von Matthias Keller.
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Gleichförmige Preiserhöhungen nach vorheriger Ankündigung durch ein größeres Unternehmen
könnten gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßen und damit gemäß Art. 101 Abs. 2 AEUV unwirksam
sein.
1. Unternehmen
Ein Unternehmen ist definitionsgemäß „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsnorm und Art der Finanzierung“ 6. Sämtliche Beteiligte sind selbständig wirtschaftlich tätig und handeln weder rein privat noch rein hoheitlich. Sie sind damit Unternehmen entsprechend dem funktionalen Unternehmensbegriff.
2. Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise
a. Vereinbarung oder Absprache
In Betracht käme zunächst neben einem Vertrag im juristischen Sinne auch ein gentleman´s agreement. Dazu müsste zwischen den Beteiligten eine Vereinbarung i. S. d. Art. 101 Abs. 1 AEUV vorliegen. Vereinbarungen i. S. d. Art. 101 Abs. 1 AEUV sind alle vertikalen oder, wie hier, horizontalen
Abreden mit Bindungswillen, ohne dass es auf die Wirksamkeit der Abrede oder eine allgemeine
Zwang- oder Drucksituation ankommt. Da ein expliziter Bindungswille bei einem reinen Informationsaustausch auf unregelmäßigen Treffen jedoch fehlt, ist eine rechtliche Bindung (Vertrag, Beschluss) nicht erfolgt. Eine Vereinbarung i. S. d. Art. 101 Abs. 1 AEUV zwischen den Unternehmen
liegt nicht vor.
b. Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen
Fraglich ist jedoch, ob eine aufeinander abgestimmte Verhaltensweise vorliegt. Unter aufeinander
abgestimmten Verhaltensweisen versteht man die willentliche Koordinierung des Verhaltens, die,
ohne bereits Vertrag i. e. S. zu sein, durch vorherige Information oder sonstige Kontaktaufnahme
eine Abstimmung ermöglicht. Dazu müsste zunächst eine faktische Bindung vorliegen, die den gemeinschaftlichen Willen zum Ausdruck bringt, sowie ein dadurch bedingtes kausales Marktverhalten
bestehen (bewusstes Parallelverhalten). Reines Parallelverhalten von Unternehmen kann dagegen
nicht als ein aufeinander abgestimmtes Verhalten erfasst werden, da die Beurteilung keine Widersprüche und keine Verstöße gegen Erfahrungssätze erhalten darf (in dubio pro reo). Vorliegend nutzte das größte Unternehmen des Oligopols eines der unregelmäßig stattfindenden Treffen, um die
anderen Teilnehmer über die beabsichtigte Preiserhöhung in Höhe von 8% zu einem bestimmten
Stichtag in Kenntnis zu setzen. Da es dem Zweck eines Unternehmens entspricht, Gewinne zu erwirtschaften und diese zu maximieren, ist auch für die kleineren Unternehmen zweifellos ein Anreiz gegeben, ihr eigenes Preisniveau in identischer Weise zu erhöhen. Da die beteiligten Unternehmen
allesamt ihre Preise zu einem bestimmten Stichtag jeweils um den identischen Prozentsatz (8%) erhöhten, ist zudem von einem bewussten Parallelverhalten auszugehen. Ein solches Phänomen widerspricht den gängigen Wettbewerbsregeln. Reines Parallelverhalten ist somit nicht ersichtlich. 7 Damit
verstößt die nach der Ankündigung erfolgte, gleichförmige Preiserhöhung der betreffenden Unternehmen um 8% gegen Art. 101 AEUV. Ein Zusammenwirken der betreffenden Unternehmen liegt vor.
6
EuGH v. 23.4.1991, Rs. C-41/90, Slg. 1991. I-1979 – Höfner.
Eine andere Ansicht vertrat der BGH in seinem Beschl. v. 17.12.1970 - KRB 1/70 (KG) – Teerfarben, Tz. 41. Zu
beachten ist jedoch, dass das deutsche GWB den Tatbestand der abgestimmten Verhaltensweise zu dieser Zeit
noch nicht kannte.
7
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3. Wettbewerbsbeschränkung
Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen sind nach Art. 101 AEUV nur verboten, wenn sie eine
Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken. Bezweckt ist eine Wettbewerbsbeschränkung, wenn sie das Ziel einer bestimmten Regelung darstellt.
Bewirkt wird eine Wettbewerbsbeschränkung bereits dann, wenn sie adäquat kausale Folge der Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltensweise der Unternehmen ist. Festzustellen ist dies anhand
eines Vergleichs der tatsächlichen mit den hypothetischen Marktverhältnissen. Vorliegend kommt
eine Einschränkung des Wettbewerbs gemäß Art. 101 Abs. 1 lit. a) AEUV in Betracht. Eine Einschränkung von Wettbewerb liegt bei jeder Einschränkung des Spielraums einer der den Wettbewerb bestimmenden Variablen vor. Hierzu zählt insbesondere auch der Wettbewerbsparameter Preis. Eine
gleichförmige Preiserhöhung aller europaweit tätigen Unternehmen zu einem bestimmten Stichtag
ist aber schon deshalb nicht mit gängigen Wettbewerbsregeln zu erklären, da die jeweiligen nationalen Märkte (Deutschland, Frankreich, England, usw.) eine unterschiedliche Nachfrage- und Kostenstruktur aufweisen. Ohne die Information des größten Unternehmens auf einem der unregelmäßig
stattfindenden Treffen bezüglich einer konkreten Preiserhöhung hätten sich im Wettbewerb unterschiedliche Preise eingestellt. Mit der Einschränkung gemäß Art. 101 Abs. 1 lit. a) AEUV wird die
Wettbewerbsbeschränkung sowohl bezweckt (Preiserhöhung als Ziel der Ankündigung) als auch bewirkt (Gleichförmigkeit der Preiserhöhung zu bestimmtem Stichtag als adäquat kausale Folge), wobei
beides für sich ausgereicht hätte.
4. Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung
Allgemein anerkannt ist die ungeschriebene Voraussetzung der Spürbarkeit, die auf einer teleologischen Reduktion beruht und dafür sorgt, dass nur Verhaltensweisen erfasst werden, die abstrakt
generell geeignet sind, den Wettbewerb tatsächlich zu stören. Bei (konkludenten) horizontalen
Übereinkünften, wie hier, muss der insgesamt betroffene Marktanteil nach der de minimisBekanntmachung der Kommission 10% betragen, es sei denn, es sind besonders schwerwiegende
Wettbewerbsbeschränkungen vorherrschend. 8 Allein das Unternehmen, das die Preiserhöhung ankündigt, hat als größtes der beteiligten Unternehmen im Oligopolmarkt, in dem ohnehin nur wenige
Unternehmen mit tendenziell größeren Marktanteilen tätig sind, bereits einen deutlich höheres
Marktanteilsvolumen als die erwähnten 10%. Zwar sind diese Zahlen nur für die Kommission bindend, nicht aber für die deutsche Kartellbehörde sowie die deutschen und europäischen Gerichte,
allerdings richten sich sowohl Behörden als auch Gerichte in aller Regel nach diesen Werten. Somit
ist die Voraussetzung der Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung gegeben.
5. Zwischenstaatlichkeit
Vorliegend ist auch das Erfordernis einer spürbaren Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels zu bejahen.
II. Freistellung durch Art. 101 Abs. 3 AEUV
Die vorliegende Wettbewerbsbeschränkung könnte jedoch durch die Ausnahmen in Art. 101 Abs. 3
AEUV freigestellt sein. 9 Dazu müssten die dort aufgeführten vier Voraussetzungen kumulativ erfüllt
sein. Entsprechend müsste die beanstandete Verhaltensweise zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts beitra-
8
De minimis-Bekanntmachung der Kommission, ABl. EG 2001 Nr. C 368/13, Tz. 7ff.
9
Das Prinzip der Legalausnahme ergibt sich aus Art. 1 Abs. 2 der VO 1/2003.
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gen, die Verbraucher angemessen am entstehenden Gewinn beteiligen, erforderlich sein und dürfte
keine Möglichkeiten eröffnen, den Wettbewerb für einen wesentlichen Teil der betreffenden Ware
auszuschalten. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist das wettbewerbsbeschränkende Verhalten ex
lege gestattet. Hier fehlt es jedoch schon an einer Verbesserung der Warenerzeugung oder verteilung bzw. einem wirtschaftlichen oder technischen Fortschritt. Der alleinige Verweis auf wirtschaftliche Schwierigkeiten ist diesbezüglich nicht entscheidend. Eine Freistellung scheidet damit aus.
III. Ergebnis
Bei der gleichförmigen Preiserhöhung nach vorheriger Ankündigung durch ein größeres Unternehmen handelt es sich um eine aufeinander abgestimmte Verhaltensweise, die eine Wettbewerbsbeschränkung mit sich bringt, Art. 101 Abs. 1 AEUV. Eine Freistellung gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV
scheidet aus.
IV. Entscheidungsbesprechungen
Meessen, Karl Matthias: Der räumliche Anwendungsbereich des EWG-Kartellrechts und das allgemeine Völkerrecht - Zugleich eine Stellungnahme zu den international-kartellrechtlichen Aspekten
der Farbstoffe-Urteile des EuGH, Europarecht 1973, S. 18-38
Mestmäcker, Ernst-Joachim: Die Farbstoff-Urteile des GH, Europäisches Wettbewerbsrecht 1974, 1.
Auflage, S. 214-218
Korah, Valentine: The EEC Dyestuffs Case, The Journal of Business Law 1972, S. 319-324
Steindorff, Ernst: Annotation on the Decisions of the European Court in the Dyestuff Cases of July 14,
1972, Common Market Law Review 1972, S. 502-510
C. EuGH, Urt. v. 28.5.1998, Rs. C-7/95 P, Slg. 1998, I-3111 – John Deere, WuW
1998, 747 und EuG, Urt. v. 27.10.1994, Rs. T-35/92, Slg. 1994, II-957 – John
Deere
Siehe außerdem: Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer, Schlussanträge vom 16.9.1997, Rechtssache
C-7/95 P - Deere gegen Kommission
I. Tatbestand
EuGH, Urt. v. 28.5.1998, Rs. C-7/95 P, Slg. 1998, I-3111 – John Deere, Tz. 2
„Die Agricultural Engineers Association Limited (nachstehend: AEA) ist ein Berufsverband, der allen
Herstellern und Einführern von landwirtschaftlichen Zugmaschinen im Vereinigten Königreich offensteht. Ihr gehörten zum Zeitpunkt des streitigen Geschehens ungefähr 200 Mitglieder an, hierunter
Case Europe Limited, John Deere Limited, Fiatagri UK Limited, Ford New Holland Limited, MasseyFerguson (United Kingdom) Limited, Renault Agricultural Limited, Same-Lamborghini (UK) Limited
und Watveare Limited.
…
Am 4. Januar 1988 meldete die AEA bei der Kommission eine Vereinbarung über ein Informationssystem mit der Bezeichnung .UK Agricultural Tractor Registration Exchange' an, das auf vom Verkehrsministerium des Vereinigten Königreichs verwaltete Zulassungsdaten von landwirtschaftlichen Zugmaschinen gestützt ist, und beantragte ein Negativattest, hilfsweise eine individuelle Freistellungserklärung (nachstehend: erste Anmeldung).
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Die Beteiligung an der Vereinbarung steht allen Herstellern oder Einführern von landwirtschaftlichen
Zugmaschinen im Vereinigten Königreich ohne Rücksicht auf ihre Mitgliedschaft in der AEA frei. Diese
ist als Sekretariat für die Vereinbarung tätig. Die Zahl der an der Vereinbarung Beteiligten schwankte
nach Angaben der Klägerin im Untersuchungszeitraum infolge der Umstrukturierungsbewegungen
innerhalb des Wirtschaftszweigs; zum Zeitpunkt der Anmeldung waren acht Hersteller, darunter die
Klägerin, an der Vereinbarung beteiligt. Bei diesen handelt es sich um die acht in Randnummer 1
dieses Urteils genannten Unternehmen, die nach Angaben der Kommission 87 % bis 88 % des Marktes des Vereinigten Königreichs für landwirtschaftliche Zugmaschinen halten, während sich mehrere
kleine Hersteller den Rest dieses Marktes teilen.
…
Am 12. März 1990 meldeten fünf Mitglieder der AEA — darunter die Klägerin — bei der Kommission
eine neue Vereinbarung über den Austausch von Informationen mit der Bezeichnung .UK Tractors
Registration Data System' (nachstehend: Data System) an (nachstehend: zweite Anmeldung).“
EuG, Urt. v. 27.10.1994, Rs. T-35/92, Slg. 1994, II-957 – John Deere, Tz. 15
Laut Kommission lassen sich die den an der Vereinbarung Beteiligten übermittelten Angaben wie
folgt in drei verschiedene Kategorien einteilen:
- Gesamtdaten für den Sektor: Gesamtumsatzzahlen, gegebenenfalls aufgeschlüsselt nach PSGruppen oder Fahrzeugtypen; diese Angaben seien für Jahres-, Vierteljahres-, Monats- und Wochenzeiträume erhältlich;
- Daten über die Umsätze jedes einzelnen Mitglieds: verkaufte Stückzahlen und Marktanteil der einzelnen Hersteller, aufgeschlüsselt nach räumlichen Gebieten (Vereinigtes Königreich insgesamt, Region, Grafschaft, Händlergebiet, das mit Hilfe der Postleitzonen, aus den sich jedes Gebiet zusammensetzt, festgestellt wird); diese Angaben seien auf Monats-, Vierteljahres- und Jahresbasis erhältlich (im letzten Fall für die letzten zwölf Monate, für das Kalenderjahr oder auf gleitender Jahresbasis);
- Umsatzdaten für die Händler des Vertriebsnetzes jedes Mitglieds, insbesondere für die Einfuhren
und Ausfuhren der Händler in ihrem jeweiligen Gebiet. Diese Angaben ermöglichten die Ermittlung
der Einfuhren und Ausfuhren zwischen den verschiedenen Händlergebieten und den Vergleich dieser
Verkaufstätigkeiten mit den Umsätzen, die die Händler in ihrem eigenen Gebiet erzielt hätten.
II. Gutachten 10
Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV (= ex Art. 230 EG)
10
Bearbeitet von Matthias Krah.
Bei dem Urteil des EuGH handelte es sich um die Rechtsmittelentscheidung in 2. Instanz gemäß Art 256 I 3
AEUV (ex- Art 225 I 3 EGV). Aus didaktischen Gründen wurde im Folgenden der Aufbau der Nichtigkeitsklage in
1. Instanz gewählt.
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1. Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage
a. Zuständigkeit des Gerichts gemäß Art. 156 I 1 AEUV
b. Parteifähigkeit
Jede natürliche und juristische Person.
c. Klagegegenstand:
Rechtlich existente Unionshandlung mit Außenwirkung. Kläger muss nicht unbedingt Adressat der
Entscheidung sein, es genügt, dass er unmittelbar und individuell betroffen ist.
d. Klagebefugnis:
-
Adressaten der Entscheidung (Alt. 1)
-
Unmittelbare und individuelle Betroffenheit (Alt. 2):
o
Betroffenheit: Kläger muss durch den angegriffenen Akt beschwert sein.
o
Unmittelbarkeit: Er darf nicht bloß potentiell betroffen sein, etwa falls weitere
Umstände hinzutreten.
o
Individualität: Plaumann-Formel : „Wer nicht Adressat einer Entscheidung ist, [kann]
nur dann geltend machen, von ihr individuell betroffen zu sein, wenn die
Entscheidung ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer,
ihn aus dem Kreis der übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn
daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten.“
e. Rechtsschutzinteresse
Im Hinblick auf etwaige Amtshaftungsklage auch nach Erledigung gegeben
f. Richtiger Beklagter und Formvorschriften
Art. 21 I Satzung des EuGH bzw. Art. 44 VerfO-EuG
g. Klagefrist
Zwei Monate nach Bekanntgabe der Handlung oder Mitteilung an den Kläger bzw. Kenntnis (Abs. 6)
2. Sachentscheidung des Gerichts
Vorliegen eines Klagegrundes Art. 263 II AEUV.
Hier möglicherweise Verstoß gegen Art. 101 I AEUV
a. Tatbestand des Art. 101 I AEUV
1. Adressaten des Kartellverbots: Unternehmen und Unternehmensvereinigungen
2. Vereinbarungen, abgestimmte Verhaltensweisen, Beschlüsse
-
Vereinbarungen sind sowohl Verträge im juristischen Sinne, als auch bloße Gentlemen´s Agreements
-
Vereinbarung des Informationsaustauschsystems
3. Wettbewerbsbeschränkung
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- Bezweckte oder bewirkte Wettbewerbsbeschränkung
-
Hier nur bewirkte Wettbewerbsbeschränkung, d. h. Auswirkungen sind zu prüfen
-
Durch den Austausch von Marktinformationen könnte möglicherweise aufgrund
künstlich erzeugter Offenheit die Unsicherheit des Marktes beseitigt und der Geheimniswettbewerb zerstört werden. Dadurch könnte das Selbstständigkeitspostulat
leiden, d. h. die Anforderung an Unternehmen, autonome Entscheidungen zu treffen.
Dies könnte eine Wettbewerbsbeschränkung bewirken.
-
Zu berücksichtigen sind vor allem die Struktur des relevanten Marktes und die Natur
der ausgetauschten Informationen, insbesondere
o
die Marktkonzentration (Individualisierbarkeit der Wettbewerber)
o
Detaillierungsgrad der ausgetauschten Informationen
o
Aktualität der Daten
o
Offenlegung gegenüber Dritten
-
Vorliegend ist der Austausch von Marktinformationen auf einem hochgradig konzentrierten oligopolistischen Markt wie dem hier relevanten Markt geeignet, den Unternehmen Aufschluss über die Marktpositionen und die Strategien ihrer Wettbewerber zu geben und damit den noch bestehenden Wettbewerb zwischen den Wirtschaftsteilnehmern spürbar zu beeinträchtigen
-
Zudem werden potentielle neue Wettbewerber benachteiligt
o
Tritt der betreffende Wirtschaftsteilnehmer dem Informationsaustauschsystem nicht bei, verzichtet er auf die ausgetauschten Informationen und die
durch sie vermittelte Marktkenntnis.
o
Im Falle des Beitritts wird seine Unternehmensstrategie sofort allen seinen
Wettbewerbern offengelegt.
4. Zwischenstaatlichkeitsklausel
-
Geeignetheit und Spürbarkeit der Handelsbeeinträchtigung
5. Eingriffsschwelle: de minimis-Regel (Spürbarkeitsgrenze)
-
Ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal von Art. 101 AEUV (nicht zu verwechseln mit
dem Erfordernis der spürbaren Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels).
-
Konkretisierung durch Kommission (für Gerichte unverbindlich) in der de minimisBekanntmachung vom (ABl. v. 22.1.2001, C 368/13)
b. Freistellung vom Kartellverbot (Art. 101 III AEUV)
-
Vier Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein.
-
Effizienzgewinn: Bspw. kann die eigene Leistung an der besten Praxis in der
Branche messen und entsprechende interne Anreizsysteme entwickelt werden.
Unerlässlichkeit: Hier ist Informationsaustausch zu Erreichung der Effizienzgewinne nicht unerlässlich, „da firmeneigene Daten üner den Sektor insgesamt für
das Vorgehen auf dem Markt für landwirtschaftliche Zugmaschinen ausreichen“
(EuGH, Urt. v. 28.5.1998, Rs. C-7/95 P, Slg. 1998, I-3111 – John Deere, Tz. 123).
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III. Literatur
Europäische Kommission, Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, Rz. 55 ff.
Pischel/Hausner, Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern – Zum Stand der kartellrechtlichen Entwicklung, EuZW 2013, 498
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D. EuGH, Urt. v. 28.02.1991, Rs. C-234/89, Slg. 1991, I-935 – Delimitis
I. Tatbestand
Die Bierbrauerei Henninger Bräu (nachstehend: Brauerei) verlangt von Stergios Delimitis, ehemaliger Pächter einer Gastwirtschaft in Frankfurt am Main (nachstehend: Gastwirt), einen Geldbetrag, den der Gastwirt nach der Kündigung des am 14. 5. 1985 zwischen den Parteien geschlossenen Pachtvertrags der Brauerei angeblich schuldet.
Nach Ziffer 1 dieses Vertrags verpachtet die Brauerei an den Gastwirt eine Gaststätte. Gemäß
Ziffer 6 des Vertrags ist der Gastwirt verpflichtet, seinen Bedarf an Bieren in Fass, Flasche und
Dose mit den Produkten und Handelswaren der Brauerei und seinen Bedarf an alkoholfreien
Getränken bei den Tochtergesellschaften der Brauerei zu decken. Der Gastwirt darf jedoch Biere
und alkoholfreie Getränke von Unternehmen mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten beziehen.
Der Gastwirt hat nach Ziffer 6 außerdem jährlich mindestens 132 hl Bier zu beziehen. Im Falle
des Minderbezugs hat er Schadensersatz wegen Nichterfüllung zu leisten.
Der Vertrag wurde von dem Gastwirt am 31. 12. 1986 gekündigt. Die Brauerei war daraufhin der
Ansicht, dass der Gastwirt ihr noch 6 032,15 DM (Miete, Pauschalbetrag wegen Nichterfüllung
der Mindestbezugsverpflichtung und verschiedene Nebenkosten) schulde. Diesen Betrag verrechnete sie mit der Pachtkaution, die der Gastwirt ihr gestellt hatte.
Es ist von Folgendem auszugehen 11: (1) Der Gastwirt hatte einen durchschnittlichen jährlichen
Bierumsatz in Höhe von 135 hl. (2) Die Öffnungsklausel ist so zu verstehen, dass es dem Gastwirt lediglich gestattet ist, selbst Bier in anderen Mitgliedsstaaten zu kaufen, nicht aber Bier, das
aus anderen Mitgliedsstaaten stammt, von dritten Unternehmen zu beziehen. (3) 60 Prozent
aller deutschen Gaststätten haben vergleichbare Bierlieferungsverträge abgeschlossen. Sie verkaufen auch in etwa 60 Prozent des in Gaststätten konsumierten Biers. (4) Die Brauerei hat in
Deutschland einen Marktanteil von ca. 20 Prozent. Das gilt sowohl für den Einzelhandel als auch
für den Bereich der Gaststätten. (5) Die Brauerei schließt üblicherweise Bierlieferverträge über
einen Zeitraum von sieben Jahren. In der Branche sind dagegen fünfjährige Laufzeiten üblich.
Kann die Brauerei von dem Gastwirt Zahlung aus dem Pachtvertrag verlangen?
II. Gutachten 12
Es stellt sich die Frage, ob die Brauerei von dem Gastwirt Delimitis Zahlung von 6 032,15 DM aus dem
zwischen den beiden Parteien geschlossenen Vertrag verlangen kann.
Zwar haben die Parteien laut Sachverhalt einen entsprechenden Vertrag geschlossen. Dieser Vertrag
ist jedoch möglicherweise nach Art. 101 Abs. 2 AEUV nichtig. Das ist der Fall, wenn die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 1 AEUV erfüllt sind und der Vertrag auch nicht gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV
vom Kartellverbot freigestellt ist.
11
In der originalen Vorlagefrage des OLG Frankfurt finden sich hierzu keine Angaben.
12
Auf der Grundlage einer Fallbearbeitung von Per Rummel.
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1. Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV
Zunächst gilt es einen möglichen Verstoß des zwischen den Parteien geschlossenen Vertrags gegen
Art. 101 Abs. 1 AEUV zu prüfen.
a. Unternehmen i.S.v. Art. 101 Abs. 1 AEUV
Gastwirt und Bierbrauerei sind Unternehmen im Sinne der Vorschrift.
b. Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise
Der Vertrag zwischen Brauerei und Gastwirt ist eine Vereinbarung i.S.v. Art. 101 Abs. 1 AEUV.
c. Wettbewerbsbeschränkung
(1) Beeinträchtigung der wettbewerblichen Handlungsfreiheit
Die erste Voraussetzung für das Vorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung ist die Einengung der
wettbewerblichen Handlungsfreiheit mindestens eines Unternehmens, das als Anbieter oder Nachfrage auf einem Markt tätig wird. Die Abnahmeverpflichtung aus Ziffer 6 des Vertrages bedeutet
vorliegend eine Beschneidung der wettbewerblichen Handlungsfreiheit des Gastwirts, der einen sehr
großen Teil seines Bierbedarfs zwingend bei der Brauerei Henninger decken muss und insofern in
seiner Wahlfreiheit eingeschränkt ist.
(2) Nachteilige Veränderung der Marktverhältnisse
Die Einschränkung der wettbewerblichen Handlungsfreiheit des Gastwirts Delimitis (hier: Verpflichtung zum praktisch exklusiven Bezug von Bier bei Henninger), hat zur Konsequenz, dass andere Brauereien und Zwischenhändler auf dem relevanten Markt, nämlich dem Markt für den Vertreib von Bier
in Gaststätten, der Absatzwege durch die Abnahmeverpflichtung blockiert werden könnten. Mangels
Absicht zur Beschränkung des Wettbewerbs kommt vorliegend nur eine bewirkte Wettbewerbsbeschränkung in Betracht.
(2) Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung
Von einem einzelnen Bierlieferungsvertrag würde keine materielle Wettbewerbsbeschränkung ausgehen, da genügend alternative Absatzwege zur Verfügung stehen. Möglicherweise führt der Vertrag
jedoch als Teil eines „Vertragsbündels“ zu einer Verstopfung der Absatzwege.
60 Prozent von dem in Gaststätten konsumierten Bier wurde im Rahmen von Bierbelieferungsverträgen erworben. Daraus ergibt sich eine potentielle Wettbewerbsbeschränkung, da sich für Wettbewerber, die auf dem Markt für den Vertrieb von Bier in Gaststätten Fuß fassen oder ihren Marktanteil vergrößern wollen, Schwierigkeiten ergeben könnten, geeignete Absatzkanäle aufzutun.
Weiterhin ist zu prüfen, ob der streitige Vertrag in erheblichem Maße zu der Abschottungswirkung
beiträgt, die das Bündel dieser Verträge aufgrund ihres wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtzusammenhangs entfaltet. Die Bedeutung des Beitrags des einzelnen Vertrags hängt von der Stellung
der Vertragspartner auf dem relevanten Markt und von der Vertragsdauer ab. Der Marktanteil der
Brauerei von 20 Prozent spricht für eine Abschottungswirkung. Ebenso liegt die Vertragslaufzeit über
der branchenüblichen Vertragsdauer, wodurch sich die Abschottungswirkung verstärkt.
Eine Öffnungsklausel, wie hinsichtlich des Bezugs aus anderen Mitgliedsstaaten besteht, könnte geeignet sein, die Abschottungswirkung des Vertrags einzudämmen. Da der Gastwirt jedoch insgesamt
135 hl Bier umsetzt und zum Bezug von 132 hl Bier von der Brauerei verpflichtet ist, erscheint die
Wirkung der Öffnungsklausel marginal. Die Öffnungsklausel ist somit nicht geeignet, die Abschottungswirkung des Vertrags zu auszuschalten.
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d. Zwischenstaatlichkeitsklausel
Der Vertrag kann spürbare Wirkungen auf dem gemeinsamen Markt entfalten, da er auch ausländischen Brauereien oder Biergroßhändlern den Einstieg in den deutschen Markt erschwert.
Die Öffnungsklausel ist schon deshalb nicht geeignet, Auswirkungen auf den gemeinsamen Markt zu
verhindern, weil sie dem Gastwirt lediglich gestattet ist, selbst Bier in anderen Mitgliedsstaaten zu
kaufen, nicht aber Bier, das aus anderen Mitgliedsstaaten stammt, von dritten Unternehmen zu beziehen.
e. Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung im Sinne eines Aufgreifkriteriums für die Kommission
Da es sich vorliegend um eine zivilrechtliche Streitigkeit handelt, kommt der de-minimisBekanntmachung der Kommission (ABl. EG 2001 Nr. C 368/13) keine Bedeutung zu.
f. Zwischenergebnis
Der Vertrag zwischen Brauerei und Gastwirt verstößt gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV. Damit ist er gemäß
Art. 101 Abs. 2 AEUV nichtig, soweit er nicht gemäß Abs. 3 der Vorschrift freigestellt ist.
2. Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV?
a. Gruppenfreistellung
Der Bierlieferungsvertrag könnte jedoch im Wege der Gruppenfreistellung nach Art.2 Abs. 1 VertikalGVO vom Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen sein. In Frage käme eine Freistellung
nach der Vertikal-GVO (VO 330/2010).
Der Bierlieferungsvertrag ist eine vertikale Vereinbarung i.S.v. Art. 1 Abs. 1 lit. a) Vertikal-GVO. Die
Abnahmeverpflichtung ist eine vertikale Beschränkung i.S.v. Art. 1 Abs. 1 lit. b) Vertikal-GVO. Auch
existierieren keine anderen vorrangigen GVOs i.S.v. Art. 2 Abs. 5 Vertikal-GVO. Der sachliche Anwendungsbereich der Vertikal-GVO ist somit eröffnet.
Brauerei und Gastwirt bleiben hinter der Marktanteilsschwelle von 30 Prozent nach Art. 3 Abs. 1
Vertikal-GVO zurück. Die Marktanteile der betroffenen Unternehmen führen somit nicht zu einem
Ausschluss von der Freistellung.
Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) der VO schließt jedoch eine Freistellung „für unmittelbare oder mittelbare
Wettbewerbsverbote, die für eine unbestimmte Dauer oder für eine Dauer von mehr als fünf Jahren
vereinbart werden“ aus.
Die VO liefert in Art. 1 Abs. 1 lit. d) folgende Legaldefinition für ein Wettbewerbsverbot:
„Wettbewerbsverbot“ ist eine unmittelbare oder mittelbare Verpflichtung, die den Abnehmer veranlasst, keine Waren oder Dienstleistungen herzustellen, zu beziehen, zu verkaufen oder weiterzuverkaufen, die mit den Vertragswaren oder -dienstleistungen im Wettbewerb stehen, oder eine unmittelbare oder mittelbare Verpflichtung des Abnehmers, auf dem relevanten Markt mehr als 80 % seines
Gesamtbezugs an Vertragswaren oder -dienstleistungen und ihren Substituten, der anhand des Werts
des Bezugs oder, falls in der Branche üblich, anhand des bezogenen Volumens im vorangehenden
Kalenderjahr berechnet wird, vom Anbieter oder von einem anderen vom Anbieter benannten Unternehmen zu beziehen;
Die Bierlieferungsvertrag ist eine Wettbewerbsverbot im Sinne der VO. Da der in Frage stehende
Vertrag eine Laufzeit von sieben Jahren besitzt, ist der Anwendungsbereich der Vertikal-GVO nicht
eröffnet.
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Eine Freistellung aus einer GVO ist zu verneinen.
b. Einzelfreistellung
(a)
Verbesserung der Warenerzeugung oder Förderung des technischen Fortschritts
Im Sachverhalt finden sich keine Angaben, die auf eine Verbesserung der Warenerzeugung oder eine
Förderung des technischen Fortschritts hindeuten.
(b)
Zwischenergebnis
Eine Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV ist nicht möglich.
3. Ergebnis
Der Vertrag ist nach Art. 101 Abs. 2 AEUV nichtig. Ein auf den Vertrag gestützter Anspruch besteht
damit nicht. Henninger stehen allenfalls bereicherungsrechtliche Ansprüche gegen Delimits zu.
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E. Beispielsfall in Anlehnung an Expedia Inc. – EuGH, Urt. v. 13.12.2012, Rs. C226/11, NZKart 2013, 111
I. Sachverhalt
Die staatliche französische Eisenbahngesellschaft wollte ihren Vertrieb von Bahnfahrkarten und anderen Reisedienstleistungen im Internet ausbauen und suchte dafür einen erfahrenen Partner. Ihre
Wahl fiel auf das amerikanische Online-Reisebüro Expedia, mit dem sie eine gemeinsame Tochtergesellschaft mit dem Namen „Agence de voyages SNCF“ gründete. SNCF vereinbarte mit Expedia, dass
die Website voyages-SNCF.com, die bis dahin nur der Information, der Reservierung und dem Verkauf von Bahnfahrkarten der SNCF im Internet gedient hatte, fortan dem Tätigkeitsfeld der gemeinsamen Tochtergesellschaft angehören soll. Dafür wurde die Internetseite umgestaltet und bot nun
neben den ursprünglichen Leistungen auch die eines Online-Reisebüros an. Expedia kam über die
Tochtergesellschaft damit in den Genuss einer Vorzugsbehandlung für ihre eigenen Dienstleistungen,
die anderen Reisevermittlern vorenthalten blieb: Neben der gemeinsamen und kostenfreien Markenführung (SNCF) und Nutzung des Domain-Namens „-sncf.com“ lenkte der gemeinsame Internetauftritt die gesamte Bahnfahrkarten-Kundschaft der SNCF auf das gemeinsame Reisebüroportal. Hinsichtlich des Verkaufs von Bahnfahrkarten hat SNCF einen Marktanteil von über 80 %. Ferner stellte
SNCF dem Gemeinschaftsunternehmen die gesammelten Nutzerdaten zur Verfügung.
Drei konkurrierende Online-Reisebüros beschweren sich daraufhin bei der zuständigen Autorité de la
concurrence [= französische Wettbewerbsbehörde]. Sie sind der Ansicht, dass die Partnerschaft von
SNCF und Expedia und die damit einhergehende Vorzugsbehandlung des Gemeinschaftsunternehmens ein gegen Art. 101 AEUV verstoßendes Kartell darstellen, mit dem bezweckt und bewirkt werde, die gemeinsame Tochtergesellschaft auf dem Markt für Reisebürodienstleistungen für Urlaubsreisen zum Nachteil der Wettbewerber zu fördern.
Expedia hält das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV hingegen für nicht anwendbar. Da Expedia
und SNCF auf dem Markt für Online-Reisebürodienstleistungen Wettbewerber seien und nicht mehr
als 10 % Marktanteil halten, fehle es bereits an der Spürbarkeit einer etwaigen Wettbewerbsbeschränkung. Außerdem sei eine nationale Wettbewerbsbehörde nach der de-minimisBekanntmachung der Kommission nicht befugt, solche Bagatellfälle zu verfolgen.
Darf die nationale Wettbewerbsbehörde einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV feststellen?
Auszug aus der De-minimis-Bekanntmachung der Kommission:
In den Ziff. 1, 2, 4, 6 und 7 der Bekanntmachung der Kommission über Vereinbarungen von geringer
Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Artikel 81 [EG] nicht spürbar beschränken (de minimis) (ABl.
2001, C 368, S. 13; im Folgenden: De-minimis-Bekanntmachung), heißt es:
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„1.
… Der Gerichtshof … hat präzisiert, dass [Artikel 81 Absatz 1 EG] nicht eingreift, wenn die Vereinbarung keine spürbaren Auswirkungen auf den innergemeinschaftlichen Handel hat oder keine
spürbare Wettbewerbsbeschränkung vorliegt
2. In der vorliegenden Bekanntmachung quantifiziert die Kommission anhand von Marktanteilsschwellen, wann keine spürbare Wettbewerbsbeschränkung gemäß Artikel 81 [EG] vorliegt. Diese
negative Definition der Spürbarkeit bedeutet nicht, dass Vereinbarungen zwischen Unternehmen,
deren Marktanteile über den in dieser Bekanntmachung festgelegten Schwellen liegen, den Wettbewerb spürbar beschränken. Solche Vereinbarungen können trotzdem nur geringfügige Auswirkungen
auf den Wettbewerb haben und daher nicht dem Verbot des Artikels 81 Absatz 1 unterliegen …
…
4. In Fällen, die in den Anwendungsbereich dieser Bekanntmachung fallen, wird die Kommission
weder auf Antrag noch von Amts wegen ein Verfahren eröffnen. Gehen Unternehmen gutgläubig
davon aus, dass eine Vereinbarung in den Anwendungsbereich der Bekanntmachung fällt, wird die
Kommission keine Geldbußen verhängen. Die Bekanntmachung soll auch den Gerichten und Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung von Artikel 81 als Leitfaden dienen, auch wenn sie für
diese nicht verbindlich ist.
…
6. Die Bekanntmachung greift der Auslegung von Artikel 81 durch den Gerichtshof und das Gericht
… nicht vor.
7. Die Kommission ist der Auffassung, dass Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen, den Wettbewerb im Sinne des Artikels 81 Absatz 1
nicht spürbar beschränken,
a) wenn der von den an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen insgesamt gehaltene Marktanteil auf keinem der von der Vereinbarung betroffenen relevanten Märkte 10 % überschreitet in
Fällen, wo die Vereinbarung zwischen Unternehmen geschlossen wird, die tatsächliche oder potenzielle Wettbewerber auf einem dieser Märkte sind (Vereinbarung zwischen Wettbewerbern) …
…“
II. Gutachten 13
Die nationale Wettbewerbsbehörde darf einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV feststellen, wenn
alle Tatbestandsvoraussetzungen des Kartellverbots erfüllt sind und keine Freistellung nach Art. 101
Abs. 3 AEUV in Betracht kommt.
1. Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV
a. Adressaten des Kartellverbots: Unternehmen und Unternehmensvereinigungen
Expedia und SNCF sind als Unternehmen Adressaten des Kartellverbots nach Art. 101 Abs. 1 AEUV.
13
Bearbeitet von Ulrich Pfeffer.
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b. Vereinbarungen, abgestimmte Verhaltensweise, Beschlüsse
Zum Zwecke der Gründung ihres Gemeinschaftsunternehmens vereinbarten SNCF und Expedia, dass
die ursprünglich von SNCF zum Fahrkartenverkauf genutzte Internetseite fortan dem Tätigkeitsbereich ihres Gemeinschaftsunternehmens angehören soll. Expedia wurde dadurch die kostenlose Führung der Marke „SNCF“ und die Nutzung des Domain-Namens „-sncf.com“ auf dem Markt für OnlineReisebürodienstleistungen gestattet. Dies stellt eine Vereinbarung zwischen im Vertikalverhältnis
zueinander stehenden Unternehmen dar.
c. Bezweckte oder bewirkte Wettbewerbsbeschränkung
Die Vereinbarung müsste „eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs“
bezwecken oder bewirken. Wenn feststeht, dass eine Vereinbarung einen wettbewerbswidrigen
Zweck verfolgt, brauchen ihre Auswirkungen auf den Wettbewerb nicht geprüft zu werden. 14 Der
wettbewerbsbeschränkende Zweck ist aus dem Inhalt der Vereinbarung und den objektiven Zielen,
die sie zu erreichen sucht, zu ermitteln, nicht nach den subjektiven Vorstellungen der Parteien. 15
Über das gemeinsame Internetportal machen sich Expedia und SNCF den hohen Marktanteil von
SNCF auf dem Markt des Fahrkartenverkaufs zunutze. Denn durch die Nutzung des einheitlichen Vertriebskanals (SNCF-Internetportal) sowohl für Fahrkarten als auch für Reisebürodienstleistungen,
wird das gesamte Nachfragepotenzial der Fahrkartenkundschaft erreicht. Da anderen Wettbewerbern der Zugang zu diesem Internetportal verwehrt ist, ist die Vereinbarung zwischen SNCF und Expedia schon ihrer Natur nach geeignet, den Markt erheblich abzuschotten bzw. den Marktzutritt für
andere Wettbewerber erheblich zu erschweren. Folglich ist von einer spürbaren Wettbewerbsbeschränkung auszugehen.
d. Zwischenstaatlichkeitsklausel
Die Wettbewerbsbeschränkung ist auch geeignet , den Handel zwischen Mitgliedsstaaten spürbar zu
beeinträchtigen. Da sich die Vereinbarung auf den gesamten französischen Markt bezieht, hat sie
schon ihrem Wesen nach die Wirkung, die Abschottung des französischen Marktes zu verfestigen. 16
e. Eingriffsschwelle: de-minimis-Regel (Spürbarkeitsgrenze)
Die Wettbewerbsbeschränkung müsste auch spürbar sein. Die Kommission hat in ihrer Bagatellbekanntmachung (de minimis) 17 einen negativen Definitionsversuch unternommen und anhand von
Marktanteilsschwellen quantifiziert, wann eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung nicht vorliegt.
Die zwischen Expedia und SNCF getroffenen Vereinbarungen könnten demnach von der Bagatellbekanntmachung erfasst sein. Da Expedia und SNCF Wettbewerber sind und zusammen nicht über einen Marktanteil von 10 % auf dem betroffenen relevanten Markt für Onlinereisedienstleistungen
14
EuGH, 13.7.1966, Grundig/Consten, Slg. 1966, 321, 390 f.
15
Langen/Bunte, Art. 81 Rn. 119.
Vgl. zur weiten Auslegung der Zwischenstaatlichkeitsklausel EuGH v. 13. 7. 1966 – Rs. 56/64 und 58/64, Slg.
1966, 321, 389 – Consten und Grundig.
16
Bekanntmachung der Kommission vom 22.12.2001 über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den
Wettbewerb gemäß Artikel 81 Abs. 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nicht spürbar beschränken, ABl. 2001 C 368/07.
17
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verfügen, ist Ziff. 7 lit. a) der Bagatellbekanntmachung anwendbar. Demnach ist die Wettbewerbsbeschränkung nach der Bagatellbekanntmachung nicht spürbar.
Fraglich bleibt allerdings, ob die Bagatellbekanntmachung der Kommission für die nationalen Wettbewerbsbehörden einen verbindlichen Auslegungsmaßstab darstellt, der sie in ihrer Beurteilung der
Spürbarkeit einer Wettbewerbsbeschränkung bindet. Dagegen spricht zunächst der eindeutige Wortlaut der Bekanntmachung. So heißt es in Ziff. 4 S. 3, dass die Bekanntmachung „den Gerichten und
Behörden der Mitgliedsstaaten bei der Anwendung von Artikel 81 als Leitfaden dienen“ soll, „auch
wenn sie für diese nicht verbindlich ist“. 18
Auch die Zielsetzung der Bagatellbekanntmachung, die Verwaltungspraxis der Kommission transparenter zu gestalten und als Leitfaden den Unternehmen, Behörden und Gerichten der Mitgliedsstaaten nützliche Auslegungshinweise an die Hand zu geben, spricht gegen die Annahme eines verbindlichen Auslegungsmaßstabs. 19
Ferner hat die Kommission die Bekanntmachung nicht in Ausübung von Rechtssetzungsbefugnissen,
sondern vielmehr in ihrer Eigenschaft als Wettbewerbsbehörde herausgebracht. 20 Rechtsverbindliche Vorschriften zur Verwirklichung der europäischen Wettbewerbsregeln können nach Art. 103
AEUV grundsätzlich nur allein vom Rat in Form von Verordnungen oder Richtlinien erlassen werden. 21
Auch die Veröffentlichung der Bekanntmachung in der Reihe C des Amtsblatts der Europäischen Gemeinschaft weist eindeutig darauf hin, dass nicht die Setzung eines verbindlichen Rechtssatzes beabsichtigt war. Denn in Reihe „C“ sollen – anders als in Reihe „L“ – nur Informationen, Empfehlungen
und Stellungnahmen veröffentlicht werden.
Die Bagatellbekanntmachung stellt somit keinen verbindlichen Auslegungsmaßstab für die nationalen
Gerichte und Behörden dar. Die französische Wettbewerbsbehörde kann daher auch bei Nichterreichen der in der Bagatellbekanntmachung genannten Marktanteilsschwellen die Spürbarkeit einer
Wettbewerbsbeschränkung feststellen.
Zur Vertiefung: Die zuständige Generalanwältin Kokott weist in ihren Schlussanträgen 22 (Rz. 35 ff.)
darauf hin, dass Leitfäden wie die Bagatellbekanntmachung für das Funktionieren des dezentralen
Systems der Kartellrechtsdurchsetzung von erheblicher Relevanz sind. Sie führen zu einer einheitli-
Vgl. ferner Ziff. 2 („...quantifiziert die Kommission...“), Ziff. 6 („greift...nicht vor“), Ziff. 7 („Die Kommission ist
der Auffassung...“) und Ziff. 9 („Die Kommission ist weiter der Auffassung...).
18
19
Vgl. dazu insbes. Ziff. 4.
Vgl. Art. 105 AEUV i. V. m. Art. 292 S. 4 AUEV, woraus sich die Befugnis der Kommission ableiten lässt, auch
wettbewerbspolitische Stellungnahmen oder Empfehlungen abzugeben.
20
21
Ausnahme nach Art. 105 Abs. 3 AEUV: Gruppenfreistellungsverordnungen i. S. d. Art. 101 Abs. 3 AEUV.
22
GA Kokott, Schlussanträge vom 6.11.2012, Rechtssache C-226/11 – Expedia Inc.
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chen Anwendung der Wettbewerbsvorschriften des AEUV und damit der Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt („level playing field“). Die Funktion solcher Leitfäden und die
Führungsrolle der Kommission bei der Ausgestaltung der europäischen Wettbewerbspolitik würde
jedoch untergraben werden, wenn die nationalen Gerichte und Behörden eine Bekanntmachung der
Kommission einfach ignorieren könnten. Daher fordert Kokott, dass die nationalen Gerichte und
Behörden, bevor sie von den Vorgaben einer Bekanntmachung abweichen, sich mit dieser gebührend
auseinanderzusetzen zu haben.
Fraglich ist aber, welche Anforderungen an den Nachweis der Spürbarkeit einer Wettbewerbsbeschränkung zu stellen sind. Da die Vereinbarung zwischen Expedia und SNCF eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung darstellt, die bereits ihrer Natur nach als schädlich für das gute Funktionieren
des normalen Wettbewerbs angesehen wird, ist sie unabhängig von ihren konkreten Auswirkungen
als spürbar einzustufen. 23
2. Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV
a. Gruppenfreistellung?
Nach Art. 101 Abs. 3 AEUV können Gruppen von Vereinbarungen vom Verbot des Art. 101 Abs. 1
AEUV freigestellt werden. Eine Gruppenfreistellung ist i. v. F. jedoch nicht ersichtlich.
b. Einzelfreistellung
Die Vereinbarung zwischen Expedia und SNCF könnte jedoch im Wege der Einzelfreistellung vom
Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV auszunehmen sein.
1) Effizienzvorteile
Dies setzt zunächst voraus, dass die Vereinbarung zu einer Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder der Förderung des technischen Fortschritts führt. M. a. W. es
müssen Effizienzvorteile vorliegen.
Auch wenn sich dem Sachverhalt keine eindeutigen Anhaltspunkte für die Schaffung von
Effizienzvorteilen entnehmen lassen, so ist die Nutzung von Synergieeffekten aus der Zu
sammenlegung des Fahrkartenvertriebs und des Online-Angebots von Reisebürodienstleis
tungen durchaus denkbar.
2) Unerlässlichkeit der den Unternehmen auferlegten Beschränkungen für die Zielverwirklichung
Fraglich ist aber, ob die genannten Synergieeffekte nicht auch mit einer weniger wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung erzielt werden kann. Da etwaige Synergieeffekte auch
erreicht werden können, wenn das Internetportal den anderen Wettbewerbern frei zu gänglich ist, kann von der Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung nicht ausge
gangen werden.
23
So der EuGH ausdrücklich in Tz. 37 des Urteils.
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Folglich kommt auch eine Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV nicht in Betracht.
c. Endergebnis
Da die Vereinbarung zwischen Expedia und SNCF gegen das Kartellverbot verstößt kann die nationale
Wettbewerbsbehörde einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV feststellen.
III. Entscheidungsbesprechungen
Pinar Akman, The Court of Justice’s Expedia ruling undermines the economic approach by eliminating
the „de minimis“ defence in object agreements, abrufbar unter
http://competitionpolicy.wordpress.com/2013/06/04/the-court-of-justices-expedia-rulingundermines-the-economic-approach-by-eliminating-the-de-mimimis-defence-in-object-agreements/
Christoph Palzer, EWS-Kommentar, EWS 2013, 151 ff., abrufbar unter, http://www.zivilrecht2.unibayreuth.de/de/team/research_assistant/3_Christoph_Palzer/EuGH_Expedia.pdf
Johannes Zöttl, Kann eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung de minimis sein?, abrufbar unter
http://kartellblog.de/2013/05/13/kann-eine-bezweckte-wettbewerbsbeschraenkung-de-minimissein/
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F. EuGH, Urt. v. 3.5.2011, Rs. C-375/09 - Tele2 Polska, WuW/E EU-R 2105
I. Tatbestand (Tz. 11 ff.)
„Der [polnische] Prezes UOKiK leitete als nationale Wettbewerbsbehörde im Sinne von Art. 3 Abs. 1
der VO [1/2003] gegen die Telekommunikacja Polska SA ein Verfahren wegen des Verdachts eines
Verstoßes gegen Art. 8 des Wettbewerbs- und Verbraucherschutzgesetzes und Art. 82 EG [heute Art.
102 AEUV] ein. Nach Durchführung dieses Verfahrens stellt er fest, dass das Verhalten des betreffenden Unternehmens, das eine beherrschende Marktstellung hatte, keinen Missbrauch dieser Stellung
und damit keinen Verstoß gegen das nationale Recht und Art. 102 AEUV darstelle. Er erließ daher
eine Entscheidung nach nationalem Recht, mit der er eine wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweise des Unternehmens verneint, und stellte bezüglich der Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV
das Verfahren ein, weil es gegenstandslos sei.“
Auf die Anfechtungsklage eines Wettbewerbers, Tele2 Polska, hin, hatte sich in dritter Instanz das
der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) mit der Frage zu befassen, in welcher Form eine nationale
Wettbewerbsbehörde in einer solchen Situation über den von ihr verneinten Verstoß gegen das unionsrechtliche Missbrauchsverbot entscheiden kann.
Das polnische Wettbewerbs- und Verbraucherschutzgesetz sieht in seinem Artikel 11 vor: „Der Prezes [UOKiK] erlässt eine Entscheidung, mit der eine wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweise
verneint wird, wenn er keinen Verstoß gegen die in den Art. 5 und 8 [Missbrauchsverbot, entspricht
Art. 102 AEUV] aufgestellten Verbote feststellt.“
II. Gutachten
Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV (= ex Art. 234 EG)
1. Zulässigkeit der Richtervorlage
a. Zuständigkeit des Gerichtshofs (von Art. 256 Abs. 3 AEUV wurde bislang kein Gebrauch gemacht)
b. Vorlageberechtigung: Gericht eines Mitgliedstaats
c. Zulässiger Vorlagegegenstand
aa. Auslegung des Primärrechts („Verträge“) oder
bb. Gültigkeit und Auslegung von Sekundärrecht („Handlungen der Organe“, vgl.
Art. 288 AEUV = ex Art. 249 EG).
d. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage
aa. nicht offensichtlich ohne Zusammenhang mit Sachverhalt oder Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits und
bb. kein rein hypothetischer Fall
e. Klärungsbedürftigkeit der Vorlagefrage
aa. Zweifel des Gerichts und
bb. keine Umgehung der Bestandskraftwirkung von Art. 263 Abs. 6 AEUV = ex Art. 230 Abs. 6
EG bei offensichtlich zulässigen Nichtigkeitsklagen
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f. Form: Geeignete Formulierung der Vorlagefrage
2. Sachentscheidung des Gerichts
Auslegung der VO 1/2003
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Wortlaut von Art. 5 S. 2 und 3 (außerdem: Art. 29 Abs. 2 VO): (abschließende) Aufzählung
der Sachentscheidungsbefugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden
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Systematik, vgl. Art. 10 VO 1/2003, außerdem Art. 11 der VO
-
Telos: vgl. Erwägungsgrund Nr. 14: einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionskartellrechts
Ne bis in idem, Reichweite aber ungeklärt, vgl. Schlussanträge Mazák, Rdnr. 30.
-
Genese, dazu Mazák, aaO, Rdnr. 28 und 39ff. (zum Weißbuch der Kommission von 1999)
III. Aus den Gründen
[…]
(22) Nach Art. 5 Abs. 2 der VO können die nationalen Wettbewerbsbehörden, wenn die Voraussetzungen für ein Verbot nach den ihnen vorliegenden Informationen nicht gegeben sind, entscheiden,
dass für sie kein Anlass besteht, tätig zu werden.
(23) Der Wortlaut der letztgenannten Bestimmung weist eindeutig darauf hin, dass die Zuständigkeit
der nationalen Wettbewerbsbehörde in einem solchen Fall auf den Erlass einer Entscheidung beschränkt ist, wonach für sie kein Anlass besteht, tätig zu werden.
(24) Diese Beschränkung der Befugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden wird durch die Festlegung der Entscheidungsbefugnisse der Kommission im Fall des Nichtvorliegens eines Verstoßes
gegen die Art. 101 AEUV und 102 AEUV bestätigt. Nach Art. 10 der VO kann die Kommission durch
Entscheidung feststellen, dass die Art. 81 EG und 82 EG keine Anwendung finden.
(25) Im 14. Erwägungsgrund der VO heißt es, dass eine solche Entscheidung deklaratorischer Art der
Kommission "in Ausnahmefällen" ergehen kann. Ziel dieses Vorgehens ist nach diesem Erwägungsgrund, "die Rechtslage zu klären und eine einheitliche Rechtsanwendung in der Gemeinschaft sicherzustellen; dies gilt insbesondere in Bezug auf neue Formen von Vereinbarungen oder Verhaltensweisen, deren Beurteilung durch die bisherige Rechtsprechung und Verwaltungspraxis noch nicht geklärt ist".
(26) Darüber hinaus hat der EuGH festgestellt, dass, um eine kohärente Anwendung der Wettbewerbsregeln in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten, durch die VO ein Mechanismus der Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden im Rahmen des
allgemeinen Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit eingerichtet wurde […].
(27) Erlaubte man den nationalen Wettbewerbsbehörden, Entscheidung zu treffen, mit denen ein
Verstoß gegen Art. 102 AEUV verneint wird, würde das durch die VO eingeführte System der Zusammenarbeit in Frage gestellt und die Zuständigkeit der Kommission beeinträchtigt.
(28) Eine solche "negative" Sachentscheidung könnte nämlich die einheitliche Anwendung der Art.
101 AEUV und 102 AEUV beeinträchtigen, die eines der im ersten Erwägungsgrund der VO hervorgehobenen Ziele dieser VO ist, weil sie die Kommission daran hindern könnte, später festzustellen, dass
die fragliche Verhaltensweise eine Zuwiderhandlung gegen diese unionsrechtlichen Bestimmungen
darstellt.
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(29) Sowohl aus dem Wortlaut als auch aus der Systematik der VO und dem mit dieser verfolgten
Ziel geht somit hervor, dass die Feststellung des Nichtvorliegens eines Verstoßes gegen Art. 102
AEUV der Kommission vorbehalten ist, selbst wenn dieser Art. in einem von einer nationalen Wettbewerbsbehörde durchgeführten Verfahren angewandt wird.
[…]
IV. Entscheidungsbesprechung
Petra Pohlmann, EuGH: Nationale Kartellbehörden dürfen das Nichtvorliegen eines EUKartellverstoßes nicht feststellen, LMK 2011, 320463
Johannes Zöttl, GA Mazák zu den Grenzen der Verfahrensautonomie durch Verordnung Nr. 1/2003
(Tele2 Polska), abrufbar unter http://kartellblog.de/2010/12/09/ga-mazak-zu-den-grenzen-derverfahrensautonomie-durch-verordnung-nr-12003-tele2-polska/
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G. Luxuskosmetik im Internet (nach EuGH, Urteil v. 13.10.2011 – C-439/09 –
Pierre Fabre, Slg. 2011 I-9447) 24
I. Sachverhalt
Das Unternehmen P stellt u. a. Kosmetika und Körperpflegeprodukte her. Zu den von P vertriebenen
Marken gehören u. a. die Produkte Klorane, Ducray, Galénic und Avène. Sie werden im Rahmen eines
selektiven Vertriebssystems hauptsächlich über Apotheken auf dem französischen und dem europäischen Markt vertrieben.
Der Anteil von P am französischen Markt für diese Produkte beträgt 20 %. In den übrigen Mitgliedsstaaten, in denen P die genannten Produkte vertreibt, beträgt der Marktanteil zwischen 10 und 15 %.
In den Vertriebsvereinbarungen für die genannten Produkte der Marken Klorane, Ducray, Galénic
und Avène ist vorgesehen, dass der Verkauf ausschließlich in einem physischen Raum und in Anwesenheit eines diplomierten Pharmazeuten erfolgen darf. Für den Fall eines Verstoßes sieht die Vereinbarung eine Vertragsstrafe in Höhe von … vor, die P von dem jeweiligen Vertriebshändler verlangen kann.
P begründet seine Vertriebsbedingungen mit der Art der betreffenden Produkte. Diese seien auf
besondere Hautprobleme, wie z.B. überempfindliche Haut, abgestimmt, bei denen das Risiko einer
allergischen Reaktion bestehe. Die physische Anwesenheit eines diplomierten Pharmazeuten gewährleiste, dass ein Kunde den auf einer direkten Untersuchung seiner Haut, Haare oder Kopfhaut
fundierten Rat eines Fachmanns jederzeit einholen könne. Auch werde das Risiko des Trittbrettfahrens durch andere Apotheker vermindert.
Der zugelassene Vertriebshändler V vertreibt die Kosmetika des P über das Internet. P sieht dies als
Verstoß gegen seine Vertriebsbedingungen an und verlangt von V Zahlung einer Vertragsstrafe.
V verweigert jedoch die Zahlung. Er ist der Ansicht, dass die Vertriebsbedingungen gegen europäisches Wettbewerbsrecht verstoßen und somit nichtig seien. Insbesondere handele es sich um eine
Kernbeschränkung im Sinne des Art. 4 lit. c der Vertikal-GVO (Verordnung Nr. 330/2010), da Endverbrauchern die Möglichkeit genommen werde, die Produkte des P über das Internet zu erwerben.
Auch sei die in Art. 4 lit. c enthaltene Ausnahme nicht einschlägig, da eine Internetseite nicht mit
einer „nicht zugelassenen Niederlassung“ gleichzusetzen sei. Der Internetvertrieb sei nämlich kein
Vertriebsort, sondern vielmehr ein alternativer Vertriebsweg.
Kann P von V Zahlung einer Vertragsstrafe verlangen?
24
Studienabschließender Klausur im Wintersemester 2011/2012.
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II. Lösungsvorschlag 25
P könnte gegen V einen Anspruch auf Zahlung einer Vertragsstrafe aus Art. 1.1/1.2. der allgemeinen
Vertriebs- und Verkaufsbedingungen haben.
Dies setzt jedoch deren Wirksamkeit voraus. Art. 101 Abs. 2 AEUV könnte hier als Wirksamkeitshindernis entgegenstehen:
Nichtigkeit gemäß Art. 101 Abs. 2 AEUV?
I. Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV?
1. Adressaten des Kartellverbots: Unternehmen
2. Vereinbarung
Die Vertriebsvereinbarung stellt eine Vereinbarung zwischen im Vertikalverhältnis zueinander stehenden wirtschaftlich selbstständig tätigen Einheiten und damit Unternehmen
dar. 26
3. Wettbewerbsbeschränkung: Beschränkung der Handlungsfreiheit der Apotheker
(Einzelhändler)
Die Vertriebsvereinbarung müsste „eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung
des Wettbewerbs“ bezwecken oder bewirken. Wenn feststeht, dass eine Vereinbarung
einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgt, brauchen ihre Auswirkungen auf den Wettbewerb nicht geprüft zu werden. 27 Der wettbewerbsbeschränkende Zweck ist aus dem
Inhalt der Vereinbarung und den objektiven Zielen, die sie zu erreichen sucht, zu ermitteln, nicht nach den subjektiven Vorstellungen der Parteien. 28
Die in Rede stehende Vertriebsvereinbarung (Verkauf in einem physischen Raum in Anwesenheit eines diplomierten Pharmazeuten) führt für die Vertriebshändler de facto zu
einem Verbot sämtlicher Verkaufsformen über das Internet. Dadurch wird die Möglichkeit der Vertriebshändler, die Produkte auch außerhalb ihres Tätigkeitsbereichs zu verkaufen, und damit einhergehend die (wettbewerbliche) Handlungsfreiheit erheblich eingeschränkt.
4. Zwischenstaatlichkeit: Geeignetheit und Spürbarkeit
Der zwischenstaatliche Handel ist aufgrund des gemeinschaftsweiten Vertriebsnetzes
spürbar berührt.
5. Erheblichkeitsschwelle (de minimis)
Von der Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung ist auszugehen. Insbesondere sind
die Schwellenwerte der sog. Bagatellbekanntmachung 29 der Kommission überschritten.
II. Freistellung gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV?
1. Gruppenfreistellungsverordnung?
25
Unter Mitwirkung von Herrn Ass. iur. Ulrich Pfeffer.
Da es sich um einen unproblematischen Fall handelt, sind längere Ausführungen zum funktionalen Unternehmensbegriff und zur Definition der Vereinbarung entbehrlich.
26
27
EuGH, 13.7.1966, Grundig/Consten, Slg. 1966, 321, 390 f)
28
EuGH, 20.11.2008, BIDS, WuW/E EU-R 1509, 1511 Rn 21.
Bekanntmachung der Kommission vom 22.12.2001 über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den
Wettbewerb gemäß Artikel 81 Abs. 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nicht spürbar beschränken, ABl. 2001 C 368/07, vgl. insbesondere Rz. 7 lit. b.
29
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Nach Art. 101 Abs. 3 AEUV können Gruppen von Vereinbarungen vom Verbot des Art.
101 Abs. 1 AEUV freigestellt werden (Gruppenfreistellungsverordnungen). In Betracht
kommt hier eine Freistellung nach Art. 2 Abs. 1 der VO 330/2010 (sog. Vertikal-GVO) 30.
a.
Sachlicher Anwendungsbereich (Vertikalvereinbarungen, keine vorrangig anwendbaren Verordnungen)
Dafür müsste zunächst der Anwendungsbereich der Vertikal-GVO eröffnet
sein. Grundsätzlich erfasst die Vertikal-GVO sämtliche Vereinbarungen im
Vertikalverhältnis. 31 Die Vertriebsvereinbarungen bestehen zwischen P und
dessen Händlern, und damit zwischen Unternehmen, die auf unterschiedlichen Stufen der Produktions- und Vertriebskette tätig sind. Sie betreffen zudem die Bedingungen, zu denen die Händler die Waren verkaufen und weiterverkaufen müssen. Damit handelt es sich um eine vertikale Vereinbarung.
Diese vertikale Vereinbarung enthält auch eine vertikale Beschränkung i.S.d.
Art. 1 Abs. 1 lit a). Der Anwendungsbereich ist damit eröffnet.
Vorrangige Verordnungen sind nicht einschlägig (Art. 2 Abs. 5 GVO).
b.
Marktanteilsschwellen, Art. 3 Abs. 1 GVO (bis zu 30 % Marktanteil)
Die Schwellenwerte des Art. 3 Abs. 1 Vertikal-GVO sind nicht überschritten,
da weder P noch dessen Abnehmer einen Marktanteil von über 30 % an dem
relevanten Markt haben.
Die Vertriebsvereinbarung ist damit grundsätzlich freigestellt.
c.
Keine Ausnahmebestimmung gemäß Art. 4 und 5 GVO?
Es könnte jedoch eine Ausnahmebestimmung gem. Art. 4 oder 5 VertikalGVO eingreifen. In Betracht kommt insbesondere Art. 4 lit. c, wonach Beschränkungen des aktiven oder passiven Verkaufs an Endverbraucher durch
auf der Einzelhandelsstufe tätige Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems eine Kernbeschränkung darstellen und damit nicht freistellungsfähig
sind.
Durch das in der Vertriebsvereinbarung enthaltene Verbot des Internetvertriebs wird zumindest die Beschränkung des passiven Verkaufs 32 an Endverbraucher beschränkt, die über das Internet kaufen möchten und außerhalb
des physischen Einzugsgebiets der jeweiligen zum Vertriebsnetz zugehörigen
Apotheke ansässig sind.
Das Verbot des Internetvertriebes ist auch nicht mit einem Verbot, Geschäfte nicht von einer nicht zugelassenen Niederlassung aus zu betreiben, vergleichbar. Denn der Begriff „zugelassene Niederlassungen“ erfasst nur Verkaufsstellen, in denen Direktverkäufe vorgenommen werden. Insofern gilt
auch nicht die Ausnahme des Art. 4 lit. c Hs. 2.
Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 20.4.2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3
des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und
abgestimmten Verhaltensweisen.
30
31
Vgl. die Legaldefinition in Art. 1 Abs. 1 lit. a Vertikal-GVO.
Siehe die Begriffsbestimmung in den Vertikal-Leitlinien der Kommission (vom 19.5.2010, Abl. Nr. C 130 S. 1)
Tz. 50: „Erledigung unaufgeforderter Bestellungen einzelner Kunden“, d. h. ohne gezielte Ansprache dieser
Kunden.
32
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Hier: Schwarze Klausel („Kernbeschränkung“) gemäß Art. 4 c VertikalGVO erfüllt.
2. Einzelfreistellung?
Die Vertriebsvereinbarung könnte aber im Wege der Einzelfreistellung gem.
Art. 101 Abs. 3 AEUV vom Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV auszunehmen sein.
Anm.: Aufmerksame Kandidaten könnten hier auf die Frage eingehen, ob eine Kernbeschränkung
überhaupt in den Genuss einer Einzelfreistellung kommen kann. Dies ist jedoch zu bejahen, da die
GFVO ansonsten indirekt den Charakter einer Gruppenverbotsverordnung erlangen würde, die das
europäische Recht nicht kennt.
a.
Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder Förderung
des technischen Fortschritts (vgl. „Geeignetheit“)
Voraussetzung einer Freistellung im Wege der Einzelbeurteilung ist zunächst, dass die wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beiträgt.
Die in der Vertriebsvereinbarung enthaltene Verpflichtung, dass in den Verkaufsstellen mindestens eine Person mit einem ausgestellten oder anerkannten Apothekerdiplom ständig physisch anwesend ist, begründet die P
mit der Art ihrer Produkte, die eine fachliche Beratung erfordere. Die Produkte seien auf besondere Hautprobleme, wie z.B. überempfindliche Haut,
abgestimmt, bei denen das Risiko einer allergischen Reaktion bestehe.
Die Verpflichtung führt demnach zu einer besser auf die Bedürfnisse des
Kunden abgestimmten Verkaufs der jeweiligen Produkte und steigert allgemein das Serviceniveau. Dies stellt einen typischen Effizienzvorteil dar, wie
ihn auch die Leitlinien zur Anwendung von Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag (jetzt:
Art. 101 Abs. 3 AEUV) im Auge hatten. 33
Zugleich wird einer Verminderung dieses Serviceniveaus infolge von Trittbrettfahrern entgegengewirkt. Auch dies stellt (zumindest mittelbar) einen
Effizienzvorteil dar. Trittbrettfahrer treten typischerweise bei Dienstleistungen auf, die ein Händler vor Vertragsschluss erbringt und deren Inanspruchnahme nicht in Rechnung gestellt wird. In solchen Fällen könnte der Kunde
die intensive Beratung z.B. im vorliegenden Fall durch einen Apotheker in
Anspruch nehmen und danach das Produkt von einem günstigeren Anbieter
ohne Serviceleistung erwerben. Folge wäre, dass preisorientierte Anbieter
von den absatzfördernden Vertriebsleistungen serviceorientierter Anbieter
profitieren, ohne dass diese für ihre Leistung entgolten werden. Dies kann
wiederum dazu führen, dass die serviceorientierten Anbieter ihre Serviceleistungen reduzieren, womit das Serviceniveau allgemein verschlechtert
würde.
Auch im vorliegenden Fall scheint die Gefahr von Trittbrettfahrern nicht
ausgeschlossen. So könnte der Kunde sich in einer Apotheker fachkundig beraten lassen, um danach das empfohlene Produkt günstiger über das Internet zu bestellen.
33
Vgl. Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, Rz. 72.
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Aber auch eine gegenteilige Auffassung lässt sich hier durchaus vertreten:
So könnte argumentiert werden, dass ein Apotheker auch bei Auftreten von
Trittbrettfahrern weiterhin eine umfassende Beratung für alle von ihm anebotenen Produkte leisten wird. Ein Apotheker wird bei seiner Beratung letztlich auch nur schwer differenzieren können.
Verkauft sich das Produkt allerdings nicht mehr (weil Kunden das Produkt
nun über das Internet bestellen), so besteht die Gefahr, dass Apotheker das
Produkt aus ihrem Sortiment herausnehmen. Im Ergebnis führt dies zu einem kompletten Wegfall der Beratung.
Anm.: Gegen die hier dargestellten Effizienzvorteile könnte vorgebracht werden,
dass die Sicherung von Beratungsleistungen bzw. die Steigerung des allgemeinen
Serviceniveaus nur als positiver Effekt gewertet werden kann, wenn es sich um Waren handelt, bei denen zusätzliche Beratungsleistungen aus Sicht der Konsumenten
wünschenswert sind. Bearbeiter könnten anführen, dass aufgrund des massenhaften
Angebots solcher Pflegeprodukte in anderen Verkaufsstellen (z.B. Drogeriemärkten
u.a.) eine Beratung typischerweise vom Kunden nicht mehr erwartet wird. Dem lässt
sich jedoch entgegenhalten, dass es sich vorliegend um Pflegeprodukte für spezielle
Hautprobleme handelt. Der Kunde also doch zumindest anfangs (z.B. beim ersten
Kauf eines solchen Produkts) einer Beratung bedarf und sie auch erwartet.
Gegen die Annahme einer Gefahr durch Trittbrettfahrer könnte von Bearbeitern angeführt werden, dass aufgrund der Kosten, die mit Einrichtung und Betrieb einer
Website auf hohem Niveau verbunden sind, die Internethändler sich die Investitionen, die von Verkaufsstellen unterhaltenden Vertriebshändlern getätigt wurden,
nicht als Trittbrettfahrer zunutze machen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass
die Kosten des Betreibens einer Website langfristig deutlich geringer sein dürften, als
die der Serviceleistung in Form der fachkundigen Beratung.
b.
Unerlässlichkeit der den beteiligten Unternehmen auferlegten Beschränkungen für die Zielverwirklichung (vgl. „Erforderlichkeit“)
Ferner müssten die Beschränkungen unerlässlich sein für die Erzielung der
Effizienzgewinne. Es geht dabei um die Frage, ob die Effizienzgewinne nicht
auch mit weniger wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen erzielt
werden können.
Zu denken wäre u.a. an detaillierte Kundeninformationen (in Form von Texten, Bildern, interaktiven Elementen u.a.), die eine Internetseite bereithalten könnte. Dies ist jedoch mit der konkret auf den einzelnen Kunden zugeschnittenen und unmittelbaren Beratung eines Apothekers nicht gleichzusetzen.
Denkbar ist aber auch eine vertragliche Lösung: P könnte die Apotheken im
Wege eines Servicevertrages dazu verpflichten, die gewünschten Beratungsleistungen zu erbringen, und sie dafür durch Rabatte o.ä. direkt entlohnen.
Dies würde ein entsprechendes Serviceniveau gewährleisten. Da dieses Mittel bei gleicher Effektivität als weniger einschneidend zu beurteilen ist, ist
das in den Vertriebsbedingungen enthaltene faktische Internetvertriebsverbot nicht als unerlässlich anzusehen.
Anm.: Eine andere Ansicht erscheint hier vertretbar.
c.
Angemessene Beteiligung der Verbraucher am Gewinn (vgl. „Verhältnismäßigkeit i. e. S.)
Die Verbraucher müssen zudem eine angemessene Beteiligung an den durch
die beschränkende Vereinbarung entstehenden Effizienzgewinn erhalten.
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„Angemessene Beteiligung“ bedeutet dabei, dass die Weitergabe der Vorteile die tatsächlichen oder voraussichtlichen negativen Auswirkungen mindestens ausgleicht, die durch die Wettbewerbsbeschränkung gem. Art. 101 Abs.
1 AEUV entstehen.
Die oben dargestellten Effizienzvorteile sind demnach mit den sich aus der
Vertriebsvereinbarung ergebenden Nachteilen abzuwägen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Verpflichtung zur physischen Anwesenheit eines Apothekers de facto zu einem Verbot des Internetvertriebes
führt. Der Internetvertrieb kann jedoch erhebliche Vorteile mit sich bringen,
denn er eröffnet dem Kunden die Möglichkeit, die Produkte von zu Hause
aus zu bestellen, ohne sich dafür an einen anderen Ort begeben zu müssen.
Ferner eröffnet es den Händlern die Möglichkeit die Produkte auch außerhalb ihres unmittelbaren Tätigkeitsbereichs zu vertreiben.
Diese Nachteile überwiegen die genannten Effizienzvorteile. Denn der Ausschluss einer ganzen Vertriebsform (Internetvertrieb) ist stärker zu gewichten als ein teilweiser Anstieg in der Beratungsqualität. Zu berücksichtigen ist
dabei, dass auch bei Zulassung des Internetvertriebs davon ausgegangen
werden kann, dass Kunden Beratungsleistungen sowohl in Apotheken als
auch bei Ärzten in Anspruch werden nehmen können. Eine Beratung ist somit nicht gänzlich ausgeschlossen.
Anm.: Ein anderes Ergebnis der Abwägung ist hier durchaus vertretbar.
d.
Keine Ermöglichung der Ausschaltung des Wettbewerbs für einen
wesentlichen Teil der betreffenden Waren.
Durch das faktische Internetverbot könnte für einen wesentlichen Teil der
betreffenden Waren die Ausschaltung des Wettbewerbs ermöglicht werden.
Hierfür spricht, dass ein kompletter Vertriebsweg ausgeschaltet wird, was
zusätzlichen Wettbewerb erheblich einschränkt.
Gegen die Annahme einer möglichen Ausschaltung des Wettbewerbs spricht
aber, das P lediglich einen geringen Marktanteil innehat und reger Interbrand-Wettbewerb vorherrscht.
Ergebnis: Die in der Vertriebsvereinbarung enthaltene Klausel ist gem. Art. 101 Abs. 2 AEUV nichtig. P
hat gegen V somit keinen Anspruch auf Zahlung einer Vertragsstrafe.
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