5 Prozent 10 Prozent 15 Prozent 20 Prozent 95 Prozent 16 WISSENSCHAFT Rheinischer Merkur · Nr. 2 / 2009 Ungenau geschaut OBDUKTION Nur drei von hundert Toten werden noch seziert. Das behindert den medizinischen Fortschritt Von Gabriele Höfling D ie Schmerzen der alten Dame aus dem Pflegeheim werden immer schlimmer – sie muss in die Notaufnahme eingeliefert werden. Dann geht alles sehr schnell: Binnen zwei Stunden stirbt die 80-Jährige. Im Totenschein vermerkt der diensthabende Arzt das Übliche als Todesursache. Herz-Kreislauf-Versagen. Es erscheint zu offensichtlich, dass die Frau einfach an Altersschwäche gestorben ist. Die klinische Obduktion jedoch ergibt: Sie hatte zusätzlich Brustkrebs in einem weit fortgeschrittenen Stadium, der nie erkannt und behandelt wurde. Das ist nur eins von mehreren Beispielen, die Christian Wittekind, Direktor des Instituts für Pathologie an der Uniklinik Leipzig, aus dem Stegreif einfallen. „Ähnliche Fälle erlebe ich immer wieder“, sagt er. Fast täglich steht er am Seziertisch, pro Woche gibt es allein an seinem Institut etwa neun Obduktionen, auf das ganze Jahr gerechnet sind es 450. Es ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. „In Deutschland wird viel zu wenig obduziert“, klagt Wittekind, wie viele seiner Kollegen. Vor allem die Rate der klinischen Sektionen nach natürlichen Todesfällen sei viel zu niedrig. Gesicherte Zahlen gibt es kaum, nach verschiedenen Schätzungen liegt die Quote in Deutschland jedoch bei etwa drei Prozent oder gar darunter. Der Aachener Medizinethiker Dominik Groß hält klinische Autopsien für unersetzlich, wenn es etwa darum geht, unentdeckte Krankheiten zutage zu bringen oder zum medizinischen Fortschritt beizutragen. „Bildgebende Verfahren wie Röntgen oder Computertomografie sind keine Alternative. Man sieht eben nur Bilder, aber nicht das tatsächliche Organ“, so Groß. Er hat ein interdisziplinäres Forschungsprojekt mit dem Namen „Tod und toter Körper“ initiiert, in dem Soziologen, Philosophen, Mediziner und Juristen die Gründe für die niedrige klinische Sektionsrate und deren Folgen gemeinsam untersuchen. Aus Sicht der Wissenschaftler führt die geringe Obduktionsquote dazu, dass die To- desursachenstatistik verzerrt wird. Wie groß der Fehler ist, lässt sich nur schwer in Zahlen fassen. Es gibt bisher nur eine umfangreiche Studie, die auch für Autopsien außerhalb der Krankenhäuser verlässliche Daten sammelte: 1987 wurde in Görlitz ein Jahr lang fast jede Leiche im Anschluss an die äußere Leichenschau zusätzlich obduziert. Das Resultat: In 47 Prozent aller Fälle war die tatsächliche Todesursache eine an- dere als die, die im Totenschein stand. Und in etwa 30 Prozent der Fälle war zu Lebzeiten sogar eine andere Art von Krankheit diagnostiziert worden – beispielsweise eine Herz-Kreislauf-Erkrankung statt Krebs. „Die Daten sind heute noch aktuell. Und wenn wir Görlitz hochrechnen, dann müssen wir von einer völlig unzuverlässigen Statistik ausgehen“, sagt Dominik Groß. „Die Qualität vieler Leichenschauscheine ist einfach eine Katastrophe.“ Dabei dient die Todesursachenstatistik als Grundlage dafür, bei welchen Krankheiten mehr in die Forschung investiert wird. Auch beim Statistischen Bundesamt als Herausgeber der Daten setzt man sich für eine Verbesserung der Statistik ein. „Wir brauchen zum Beispiel eine bessere Ausbildung der Leichenschauer“, sagt Torsten Schelhase, Referatsleiter für Gesundheitsstatistiken. Dennoch seien die Zahlen besser als ihr Ruf: „Der Vergleich zu anderen Ländern mit höherer Obduktionsrate zeigt, dass die Verzerrung nicht so stark ist, wie manchmal behauptet wird“, sagt er. Auch sogenannten Kunstfehlern wie im Bauch der Patienten vergessene Tupfer oder verletzte Blutgefäße kann man im Nachhinein auf die Schliche kommen, wenn klinisch obduziert wird. Das gilt genauso für falsche Diagnosen von Ärzten. „Natürlich ist es für Pathologen keine einfache Aufgabe, ihren behandelnden Kollegen Fehler aufzuzeigen“, sagt die Soziologin Tina Weber von der TU Berlin. Dennoch hält sie eine höhere Sektionsrate schon aus fachlichen Gründen für erstrebenswert. Mithilfe von Autopsien können bewährte und neue Therapiekonzepte verglichen, mögliche schädliche Nebenwirkungen von Medikamenten nachhaltig untersucht oder neue Krankheiten schneller entdeckt werden. „Wenn heute eine neue Seuche so wie Aids auftreten würde, wäre es angesichts der gesunkenen Obduktionsrate schwierig, diese frühzeitig zu erforschen. Die organischen Folgen von neuen Infektionskrankheiten kommen gerade bei Sektionen ans Licht“, meint Dominik Groß. Warum die niedrige Rate an klinischen Autopsien angesichts der Folgen für das Gesundheitssystem keinen Platz auf der politischen Agenda findet, ist für Weber und Groß klar: „Es gibt keine Lobby. Kaum jemand will sich gerne mit dem eigenen Tod auseinandersetzen. Deswegen lässt sich kein Politiker hinter dem Ofen hervorlocken“, so Groß. Deutschland ist kein Einzelfall: Nach den Angaben der Bundesärzte- kammer bewegte sich die klinisch-pathologische Sektionsrate in den USA im Jahr 1999 nahe null, in England lag sie zur gleichen Zeit bei zwei Prozent. Doch es gibt auch Gegenbeispiele: In Österreich wurde 2007 jeder fünfte Tote seziert. Spekulationen über mögliche Ursachen dieser Unterschiede gibt es viele. Brigitte Tag, Juristin an der Uni Zürich, verweist auf die unklare Rechtslage, der sich die Patienten und ihre Familien, aber auch Ärzte ausgesetzt sehen. „Die Mediziner stehen oft in einem rechtlichen Graubereich, wenn sie ihrem Beruf nachgehen“, sagt sie. In Deutschland müsse eine bundesweit einheitliche Regelung her. Der Umgang mit der Leiche ist primär Ländersache, aber nur gut die Hälfte der Bundesländer hat derzeit Sektionsgesetze erlassen. Liegt keine gesetzliche Regelung vor, dann müssen sich die beteiligten Institutionen selbst Gedanken darüber machen, in welchen Fällen und in welchem Umfang sie sezieren. In Österreich ist die Lage eindeutiger: Dort gilt die sogenannte Widerspruchsregelung. Sprechen sich der Patient oder seine Angehörigen nicht explizit gegen eine Autopsie aus, dann dürfen Ärzte Patienten nach ihrem Tod ungefragt aufschneiden. Nach den meisten deutschen Ländergesetzen kann dagegen nur seziert werden, wenn der Patient zu Lebzeiten sein Einverständnis erklärt hat. Gisela Kempny, Geschäftsführerin des Bundesverbandes deutscher Pathologen, sieht darin auch den Grund, warum die Obduktionsrate in Bundesländern mit gesetzlicher Regelung nicht signifikant höher ist als in Ländern ohne Sektionsgesetz. Im Falle Österreichs verweist sie zudem auf eine andere Tradition: „Dort ist es seit vielen Jahren normal, dass obduziert wird“, sagt Kempny. Dass die Zahl der klinischen Obduktionen in Deutschland seit Jahrzehnten sinkt, sagt nach Auffassung von Dominik Groß viel über den Umgang der Menschen mit dem Tod aus. „Das Sterben wird in der heutigen Gesellschaft absolut tabuisiert, wenn es um das persönliche Umfeld geht“, sagt der Medizinethiker. Nur der Tod von anderen, weiter entfernten Menschen werde mit „fast sensationeller Gier beäugt. Zum Beispiel ist Papst Johannes Paul II. ja über mehrere Tage quasi öffentlich gestorben“, so Groß. Laut Tina Weber vermitteln TV-Serien wie „CSI: Miami“ zudem ein falsches Bild von Sterben und Pathologie, weil der Zuschauer den Tod nur distanziert erlebt: „In Wirklichkeit sind eben nicht alle Leichen schön, sauber und haben geschlossene Augen.“ In der Pathologie: Erst die klinische Untersuchung der Leichen bringt die wahre Todesursache ans Licht. CYAN MAGENTA Nummer: 02, Seite: 16 YELLOW BLACK FOTO: ALEXANDER STEIN/JOKER
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