Ungenau geschaut - Tod und toter Körper

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16 WISSENSCHAFT
Rheinischer Merkur · Nr. 2 / 2009
Ungenau geschaut
OBDUKTION Nur drei von hundert Toten werden noch seziert.
Das behindert den medizinischen Fortschritt
Von Gabriele Höfling
D
ie Schmerzen der alten
Dame aus dem Pflegeheim
werden immer schlimmer –
sie muss in die Notaufnahme eingeliefert werden. Dann geht alles sehr schnell: Binnen zwei Stunden
stirbt die 80-Jährige. Im Totenschein
vermerkt der diensthabende Arzt das
Übliche als Todesursache. Herz-Kreislauf-Versagen. Es erscheint zu offensichtlich, dass die Frau einfach an Altersschwäche gestorben ist. Die klinische Obduktion jedoch ergibt: Sie
hatte zusätzlich Brustkrebs in einem
weit fortgeschrittenen Stadium, der nie
erkannt und behandelt wurde.
Das ist nur eins von mehreren Beispielen, die Christian Wittekind, Direktor des Instituts für Pathologie an der
Uniklinik Leipzig, aus dem Stegreif
einfallen. „Ähnliche Fälle erlebe ich immer wieder“, sagt er. Fast täglich steht
er am Seziertisch, pro Woche gibt es allein an seinem Institut etwa neun Obduktionen, auf das ganze Jahr gerechnet sind es 450. Es ist nur ein Tropfen
auf den heißen Stein.
„In Deutschland wird viel zu wenig
obduziert“, klagt Wittekind, wie viele
seiner Kollegen. Vor allem die Rate der
klinischen Sektionen nach natürlichen
Todesfällen sei viel zu niedrig. Gesicherte Zahlen gibt es kaum, nach verschiedenen Schätzungen liegt die Quote in Deutschland jedoch bei etwa drei
Prozent oder gar darunter.
Der Aachener Medizinethiker Dominik Groß hält klinische Autopsien
für unersetzlich, wenn es etwa darum
geht, unentdeckte Krankheiten zutage
zu bringen oder zum medizinischen
Fortschritt beizutragen. „Bildgebende
Verfahren wie Röntgen oder Computertomografie sind keine Alternative.
Man sieht eben nur Bilder, aber nicht
das tatsächliche Organ“, so Groß. Er
hat ein interdisziplinäres Forschungsprojekt mit dem Namen „Tod und toter Körper“ initiiert, in dem Soziologen, Philosophen, Mediziner und Juristen die Gründe für die niedrige klinische Sektionsrate und deren Folgen
gemeinsam untersuchen.
Aus Sicht der Wissenschaftler führt die geringe Obduktionsquote dazu, dass die To-
desursachenstatistik verzerrt wird. Wie
groß der Fehler ist, lässt sich nur
schwer in Zahlen fassen. Es gibt bisher
nur eine umfangreiche Studie, die auch
für Autopsien außerhalb der Krankenhäuser verlässliche Daten sammelte:
1987 wurde in Görlitz ein Jahr lang fast
jede Leiche im Anschluss an die äußere
Leichenschau zusätzlich obduziert. Das
Resultat: In 47 Prozent aller Fälle war
die tatsächliche Todesursache eine an-
dere als die, die im Totenschein stand.
Und in etwa 30 Prozent der Fälle war
zu Lebzeiten sogar eine andere Art von
Krankheit diagnostiziert worden – beispielsweise eine Herz-Kreislauf-Erkrankung statt Krebs.
„Die Daten sind heute noch aktuell.
Und wenn wir Görlitz hochrechnen,
dann müssen wir von einer völlig unzuverlässigen Statistik ausgehen“, sagt
Dominik Groß. „Die Qualität vieler
Leichenschauscheine ist einfach eine
Katastrophe.“ Dabei dient die Todesursachenstatistik als Grundlage dafür,
bei welchen Krankheiten mehr in die
Forschung investiert wird.
Auch beim Statistischen Bundesamt
als Herausgeber der Daten setzt man
sich für eine Verbesserung der Statistik
ein. „Wir brauchen zum Beispiel eine
bessere Ausbildung der Leichenschauer“, sagt Torsten Schelhase, Referatsleiter für Gesundheitsstatistiken. Dennoch seien die Zahlen besser als ihr
Ruf: „Der Vergleich zu anderen Ländern mit höherer Obduktionsrate
zeigt, dass die Verzerrung nicht so stark
ist, wie manchmal behauptet wird“,
sagt er.
Auch sogenannten Kunstfehlern wie
im Bauch der Patienten vergessene
Tupfer oder verletzte Blutgefäße kann
man im Nachhinein auf die Schliche
kommen, wenn klinisch obduziert
wird. Das gilt genauso für falsche Diagnosen von Ärzten.
„Natürlich ist es für Pathologen keine einfache Aufgabe, ihren behandelnden Kollegen Fehler aufzuzeigen“, sagt
die Soziologin Tina Weber von der TU
Berlin. Dennoch hält sie eine höhere
Sektionsrate schon aus fachlichen
Gründen für erstrebenswert. Mithilfe
von Autopsien können bewährte und
neue Therapiekonzepte verglichen,
mögliche schädliche Nebenwirkungen
von Medikamenten nachhaltig untersucht oder neue Krankheiten schneller
entdeckt werden.
„Wenn heute eine neue Seuche so
wie Aids auftreten würde, wäre es angesichts der gesunkenen Obduktionsrate schwierig, diese frühzeitig zu erforschen. Die organischen Folgen von
neuen Infektionskrankheiten kommen
gerade bei Sektionen ans Licht“, meint
Dominik Groß.
Warum die niedrige Rate an klinischen Autopsien angesichts der Folgen für das Gesundheitssystem keinen
Platz auf der politischen Agenda findet, ist für Weber und Groß klar: „Es
gibt keine Lobby. Kaum jemand will
sich gerne mit dem eigenen Tod auseinandersetzen. Deswegen lässt sich
kein Politiker hinter dem Ofen hervorlocken“, so Groß.
Deutschland ist kein Einzelfall:
Nach den Angaben der Bundesärzte-
kammer bewegte sich die klinisch-pathologische Sektionsrate in den
USA im Jahr 1999 nahe null, in England
lag sie zur gleichen Zeit bei zwei Prozent. Doch es gibt auch Gegenbeispiele: In Österreich wurde 2007 jeder fünfte Tote seziert.
Spekulationen über mögliche Ursachen dieser Unterschiede gibt es viele.
Brigitte Tag, Juristin an der Uni Zürich,
verweist auf die unklare Rechtslage,
der sich die Patienten und ihre Familien, aber auch Ärzte ausgesetzt sehen.
„Die Mediziner stehen oft in einem
rechtlichen Graubereich, wenn sie ihrem Beruf nachgehen“, sagt sie. In
Deutschland müsse eine bundesweit
einheitliche Regelung her. Der Umgang mit der Leiche ist primär Ländersache, aber nur gut die Hälfte der Bundesländer hat derzeit Sektionsgesetze
erlassen. Liegt keine gesetzliche Regelung vor, dann müssen sich die beteiligten Institutionen selbst Gedanken darüber machen, in welchen Fällen und in
welchem Umfang sie sezieren.
In Österreich ist die Lage eindeutiger: Dort
gilt die sogenannte Widerspruchsregelung.
Sprechen sich der Patient oder seine
Angehörigen nicht explizit gegen eine
Autopsie aus, dann dürfen Ärzte Patienten nach ihrem Tod ungefragt aufschneiden. Nach den meisten deutschen Ländergesetzen kann dagegen
nur seziert werden, wenn der Patient
zu Lebzeiten sein Einverständnis erklärt hat. Gisela Kempny, Geschäftsführerin des Bundesverbandes deutscher Pathologen, sieht darin auch den
Grund, warum die Obduktionsrate in
Bundesländern mit gesetzlicher Regelung nicht signifikant höher ist als in
Ländern ohne Sektionsgesetz. Im Falle
Österreichs verweist sie zudem auf eine andere Tradition: „Dort ist es seit
vielen Jahren normal, dass obduziert
wird“, sagt Kempny.
Dass die Zahl der klinischen Obduktionen in Deutschland seit Jahrzehnten
sinkt, sagt nach Auffassung von Dominik Groß viel über den Umgang der
Menschen mit dem Tod aus. „Das Sterben wird in der heutigen Gesellschaft
absolut tabuisiert, wenn es um das persönliche Umfeld geht“, sagt der Medizinethiker. Nur der Tod von anderen,
weiter entfernten Menschen werde mit
„fast sensationeller Gier beäugt. Zum
Beispiel ist Papst Johannes Paul II. ja
über mehrere Tage quasi öffentlich gestorben“, so Groß. Laut Tina Weber
vermitteln TV-Serien wie „CSI: Miami“
zudem ein falsches Bild von Sterben
und Pathologie, weil der Zuschauer
den Tod nur distanziert erlebt: „In
Wirklichkeit sind eben nicht alle Leichen schön, sauber und haben geschlossene Augen.“
In der Pathologie: Erst die klinische Untersuchung der Leichen bringt die wahre Todesursache ans Licht.
CYAN
MAGENTA
Nummer: 02, Seite: 16
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FOTO: ALEXANDER STEIN/JOKER