Es hätte auch anders kommen können - Annette Widmann-Mauz

TÜBINGEN
Montag, 5. Oktober 2015
Es hätte auch anders kommen können
Feiern zum 25-jährigen Bestehen der Deutschen Einheit: CDU-Politiker Claus-Peter Grotz über einen historischen „Glücksfall“
25 Jahre Deutsche Einheit feierte der Kreisverband der CDU am
Samstag in der Alten Aula. Die
Redner zeichneten das Bild einer erfolgreichen Vereinigung,
vereinzelt waren aber auch kritische Töne zu vernehmen.
warnten seinerzeit vor einer
schnellen Vereinigung – und manche wollten die Einheit gar nicht.“
Jeder könne sich selbst ausmalen,
wie schwierig eine Vereinigung geworden wäre, hätte man später mit
Wladimir Putin darüber verhandeln müssen. „Die Gelegenheit bestand nur kurz und es war Kohls
Verdienst, das erkannt zu haben.“
Drittens gebe es die persönliche,
emotionale Erinnerung an die damaligen Entwicklungen. Grotz
machte im März 1990 Wahlkampf
für die Ost-CDU in Leipzig. „Unsere Infotische wurden förmlich
überrannt, die Ostdeutschen waren sehr an der Demokratie interessiert.“ Überall habe Aufbruchstimmung geherrscht: „Es war der
Wahnsinn.“
PHILIPP KOEBNIK
Tübingen. „Für uns ist es Lebensgeschichte, für unsere jungen
Freunde ist es Geschichte“, begann
Klaus Tappeser, Kreisvorsitzender
der CDU, seine Begrüßungsrede.
Rund 60 Besucher/innen waren
am Samstag in die Alte Aula gekommen. Der CDU-Kreisverband
Tübingen und der Ring ChristlichDemokratischer Studenten (RCDS)
hatten dazu eingeladen, das 25jährige Jubiläum der Deutschen
Wiedervereinigung zu feiern.
„Die Einheit war immer das Ziel
der CDU. Wir haben daran geglaubt, auch als andere es schon
aufgegeben hatten“, betonte Tappeser. Und er ergänzte: „Es wird oft
vergessen, dass die Menschen im
Osten uns die Einheit gebracht haben – diesen Menschen gebührt eigentlich unser Dank.“ Die Ostdeutschen mussten quasi über Nacht
ihre Lebensentwürfe ändern, so
Tappeser, „und auf Westniveau
kommen“. Das sei nicht immer
einfach gewesen: „Psychologen
wissen, wie lange eine Verhaltenstherapie dauert.“
Die Tübinger CDU-Bundestagsabgeordnete Annette WidmannMauz erinnerte daran, dass zahlreiche DDR-Bürger vor dem 9. November 1989, als die SED die
deutsch-deutsche Grenze öffnete,
ihr Land verlassen hatten. „Sie gaben ihre gesamte Existenz auf und
verließen ihre Familie für eine ungewisse Zukunft im Westen.“
Widmann-Mauz spannte den
Bogen zur aktuellen Fluchtbewegung: „Die Ostdeutschen kamen
nicht aus einem Kriegsgebiet oder
einem zerbombten Land. Doch
Manche Wessis witterten
das große Geschäft
„Die Einheit ist ein Glücksfall für alle Deutschen“: Claus-Peter Grotz bei seiner Rede vor Mitgliedern des CDU-Kreisverbands am Samstag.
trieb sie nicht nur Wohlstandserwartung, sondern auch der Drang
nach Gedankens- und Entscheidungsfreiheit.“ Die CDU stehe für
Eigenverantwortung, aber auch für
Mitmenschlichkeit. „Als christliche
Demokraten und als Bundesbürger
dürfen wir heute nicht sagen:
Flüchtlinge gehen uns nichts an.“
Sofern Schutzsuchende „unsere
Werte“ akzeptierten, sollten sie
sich hier etwas aufbauen können.
Dann ergriff Prof. Claus-Peter
Grotz das Wort. Er war im Jahr 1990
Bundestagskandidat der Tübinger
CDU gewesen. Grotz machte deutlich, dass man sich dem 3. Oktober
auf unterschiedliche Weise nähern
könne: Da gebe es erstens den
nüchternen Blick zurück auf die
Ereignisse zwischen dem Herbst
1989 und der Wiedervereinigung.
Schon vor 1989 hätten die Menschen in Osteuropa für Demokratie
gekämpft. „Die Charta 77 und die
polnische Gewerkschaft Solidarnosc waren die Wurzeln dieser
Freiheitsbewegung.“ Dann gab es
die großen Proteste in der DDR, so
in Leipzig, wo im Oktober 1989
rund 70 000 Menschen gegen die
Politik der SED demonstrierten.
Es seien die DDR-Bürger gewesen, die zur Einheit drängten:
„Schnell wurde aus dem Ruf ‚Wir
sind das Volk‘ die Parole ‚Wir sind
Bild: Rippmann
ein Volk‘“, sagte Grotz. Bundeskanzler Helmut Kohl habe sich in
dieser Zeit vorsichtig geäußert und
erfolgreich um das Vertrauen der
anderen europäischen Länder und
der Sowjetunion geworben. „Seine
Umsicht, gepaart mit Zielstrebigkeit, machte die Einheit möglich.“
Daneben stellte Grotz die historische Fiktion: Was wäre, wenn die
beiden deutschen Staaten sich
nicht vereinigt hätten? „Viele
Alle drei Zugänge führten zu einem Schluss: „Die Einheit in Frieden und Freiheit, für die die CDU
immer gekämpft hatte, war ein
Glücksfall für alle Deutschen“, so
Grotz, der an der Hochschule für
Polizei in Villingen-Schwenningen
Politikwissenschaft lehrt.
Nachdenklich äußerte sich in
der anschließenden Diskussion die
CDU-Politikerin Elke Picker, die in
der Wendezeit im Osten unterwegs
war. „Ich habe miterlebt, wie Immobilienhaie aus dem Westen versuchten, die Leute übers Ohr zu
hauen.“ Die Westdeutschen hätten
sich nicht immer optimal verhalten, es habe viele Verletzungen auf
ostdeutscher Seite gegeben.
Auf TAGBLATT-Nachfrage sagte
Grotz, im Einigungsprozess seien
kaum Fehler gemacht worden.
Hatte die Politik der Treuhand
nicht zu einer Deindustrialisierung
ganzer Regionen geführt? „Es war
eine Abstimmung am Kaufregal“,
so Grotz. Allerdings: „Beim nächsten Mal wüssten wir vieles besser.“
Wenn platzende Luftballons zur Bedrohung werden
Jordanische Flüchtlingshelfer/innen berichten in Tübingen über ihre Erfahrungen aus den Lagern in der Wüste
Jordanische Flüchtlingshelfer
und Pädagogen absolvieren
derzeit bei der Tübinger Berghof Foundation im Georg-Zundel-Haus einen Kurs in gewaltfreier Erziehung. Im Gespräch
mit dem TAGBLATT berichten
drei von ihnen über ihre Erfahrungen in den überfüllten
Lagern in der Wüste.
chische Gewalt erfahren“, sagt sie.
sobald Flüchtlinge gegen jordaniSie tun sich lange schwer, über ihre
sches Recht verstoßen, würden sie
traumatischen Erfahrungen zu reohne Anhörung oder einen Geden.
richtsprozess zurück nach Syrien abDas größte Problem sei die psygeschoben, kritisiert der Helfer.
chologische Barriere, wenn die
Ein weiteres Problem ist der
Flüchtlinge keine Arbeit finden
Neid der einheimischen Bevölkeund sich als Hilfeempfänger führung auf die Hilfen für Flüchtlinge,
len, sagt Abu Jaweiß
Dolmetfar: „Sie sitzen
scher und Friepassiv da.“ Modenspädagoge
Das ist eine verlorene
na Loubani, die
Musa Al MunaiGeneration.
im gleichen Lazel. Im vorigen
MATTHIAS REICHERT
ger für die OrgaWinter
hätten
Pädagogin Mona Loubani
nisation „Save
HilfsorganisatiTübingen. Alaa Alqaisi arbeitet in
über Flüchtlingskinder.
the
children“
onen Öfen an
dem Flüchtlingslager Zaatari in der
120 Kinder in
die
syrischen
jordanischen Wüste, dem zweitMathematik und arabischer SpraFlüchtlinge verteilt – und die Jordagrößten der Welt. 85 000 syrische
che unterrichtet, berichtet, die
nier waren sauer, weil sie selbst
Bürgerkriegsflüchtlinge leben dort
Schulen in Jordanien seien überkeine solchen Öfen hatten.
in Containern, wahrscheinlich sofordert. Sie seien jetzt schon überSechs Millionen Einwohner hat
gar mehr. Doch der Jordanier
füllt und wüssten nicht, wie sie
Jordanien, inzwischen sind eineinspricht weniger über die alltägliweitere Kinder aus Syrien unterhalb Millionen Flüchtlinge ins
chen Probleme mit fehlender Nahbringen sollen. Zudem hätten viele
Land gekommen. Vor anderthalb
rung, knappem Strom und Wasser,
Flüchtlingskinder seit drei Jahren
Jahren entstand, ebenfalls in der
vielmehr über politische Kontrooder mehr keinen Unterricht mehr
jordanischen Wüste, das Flüchtversen.
gehabt. „Das ist eine verlorene Gelingslager Azraq. 12 000 Menschen
Viele Projekte seien von der
neration“, sagt Loubani. Alle drei
sind dort registriert. Aber viele verUNO-Flüchtlingshilfeorganisation
Monate kommen neue Kinder in
lassen das Camp illegal – deshalb
und internationalen Geldgebern fidas Programm und die bisherigen
sind vielleicht noch halb so viele
nanziert, würden aber vom jordaniziehen weiter – das sei ein Riesendort, berichtet Asma Abu Jafar. Sie
schen Planungsministerium nicht
problem für alle Mitarbeiter.
arbeitet dort mit Frauen, die Gegenehmigt. Angefangen bei Geldern
Die Gewalterfahrungen der Kinwalt erfahren haben. Es seien auch
für tägliche Mahlzeiten. Internatioder im Krieg spiegelten sich in der
viele verheiratete Mädchen zwinale Essensrationen würden nicht
Klasse, berichtet die Jordanierin.
schen 13 und 17 Jahren unter den
weiterverteilt. Offenbar befürchte
„Sie sind gewalttätig gegen uns
Flüchtlingen. Abu Jafar betreut die
das Ministerium bei den reichlich
und gegen andere Kinder.“ Zudem
jungen Frauen psychologisch. „Die
eingegangenen
Spendengeldern
seien oft schon 13-Jährige verheimeisten haben sexuelle oder psyGeldwäsche, berichtet Alqaisi. Und
ratet und hätten
selbst
Kinder.
Die Helfer haben den Kindern Luftballons
gebracht. „Aber
wenn
einer
platzt, machen
sie sich in die
Hose oder flüchten unter den
Tisch.
Jeder
Knall ist eine
Bedrohung“, so
Loubani,
Viele Mädchen
würden sexuell
missbraucht,
auch in der eigenen Familie. Oft
Jordanische Flüchtlingshelfer/innen im Tübinger Georg-Zundel-Haus. Von rechts Asma Abu Jafar, Alaa trauen sie sich
Alqaisi, Mona Loubani und Dolmetscher Musa Al Munazizel.
Bild: Reichert nicht, darüber
,,
Tristesse im jordanischen Flüchtlingslager Azraq.
zu reden. Die Essensmarken der
Flüchtlinge reichen nur den halben
Monat. Es fehle an passenden Kleidern, an ganz einfachen Sachen.
Fünf Personen teilen sich einen
Container, sagt Abu Jafar. Es gebe
keine Privatsphäre. Für zwölf Container gibt es eine Toilette und eine
– getrenntgeschlechtliche – Dusche, oft mit Löchern in den Wänden. Der Weg dorthin ist gefährlich, so richten viele Flüchtlinge eigene Toiletten im Container ein.
„Das ist völlig unhygienisch.“ Es
brechen viele Krankheiten unter
den Flüchtlingen aus, die Syrer
werden deshalb diskriminiert. Das
mache die Arbeitssuche noch
schwieriger.
Wer eine Möglichkeit findet,
macht sich auf den Weg nach Europa, berichten die Helfer/innen.
Aber viele wollen auch in Jordanien bleiben. Manche haben in den
Flüchtlingslagern schon kleine Lä-
Privatbild
den oder Geschäfte eröffnet und
sich so eine Existenz aufgebaut.
„Die sagen: Wir bleiben hier“, berichtet Alqaisi.
Ein zusätzliches Problem sei es,
sicherzustellen, dass keine eingeschleusten Anhänger der TerrorOrganisation „Islamischer Staat“
unter den Flüchtlingen sind. Mittlerweile hat Jordanien die Grenzen
nach Syrien geschlossen. Deshalb
kommen Flüchtlinge nur noch ille-
gal ins Land. Dennoch wollen die
Helfern den Menschen in den Lagern zeigen, dass sie willkommen
und in Sicherheit sind, dass der
Krieg für sie hier vorüber ist. Mona
Loubani gibt den deutschen
Flüchtlingshelfern angesichts des
aktuell großen Zustroms von Hilfesuchenden den Rat: „Das allererste
ist ein Dach über dem Kopf. Alles
andere, auch die Bildung, kommt
erst später.“
Tübinger Austausch über gewaltfreie Erziehung
Seit drei Jahren organisiert
die Tübinger Berghof
Foundation unter der Leitung von Uli Jäger ein Projekt in Jordanien über gewaltfreie Erziehung, Friedenserziehung und globales Lernen im Schulsystem,
an Hochschulen und außerhalb davon. 20 Pädagogen
und Flüchtlingshelfer haben diesen Juni zunächst in
der jordanischen Hauptstadt Amman fünf Tage
lang die entsprechenden
Inhalte und Methoden ken-
nengelernt. Danach haben
sie von Juni bis September
die Anwendung praktisch
erprobt. Jetzt sind sie neun
Tage lang zum Erfahrungsaustausch im Georg-Zundel-Haus in der Tübinger
Corrensstraße.