GESICHTER EUROPAS Die Rückkehr der Wildnis – Wie Europa

Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 06. Juni 2015, 11.05 – 12.00 Uhr
(DLF 2014)
Die Rückkehr der Wildnis –
Wie Europa seine ökologische Vielfalt
wiederentdeckt
Mit Reportagen von Monika Seynsche
Moderation und Musikauswahl: Simonetta Dibbern
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- unkorrigiertes Exemplar –
Ein schwedischer Zoologe, der versucht, gefährdete Tierarten wieder
auszuwildern, den Weißrückenspecht zum Beispiel:
Wenn wir seinen Lebensraum nicht retten können, verlieren wir hier in
Schweden auch 200 andere Arten, die auf dieselben alten Wälder
angewiesen sind. Und es kommen doch Menschen nach uns.
Und eine Gastwirtin in Südtirol, die sich nicht nur um ihre Haustiere
Sorgen macht, sondern auch um ihre Kunden:
Wenn dann die Gäste das nächste Jahr wieder kommen, und fragen wo
ist das Schaf, oder die Berta. Soll ich ihnen das sagen dass hier jetzt die
Braunbären sind? Oder soll ich es ihnen verschweigen? Das ist ein
Zwiespalt was momentan ist.
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Gesichter Europas: Die Rückkehr der Wildnis. Wie Europa seine
ökologische Vielfalt wiederentdeckt. Eine Sendung mit Reportagen von
Monika Seynsche. Am Mikrophon begrüßt Sie Simonetta Dibbern.
Wild. Das bedeutet ungezähmt. Unbebaut. Unkultiviert. Über
Jahrtausende hat der Mensch alles getan, die Natur zu beherrschen. Hat
Urwälder gerodet, Sümpfe trockengelegt, Flußläufe begradigt, Gebirge
erschlossen, Grenzen gezogen, Straßen gebaut. Und: die gefährlichen
und wildesten Tiere vertrieben. Vor allem in Mitteleuropa. Keinen
anderen Kontinent hat der Mensch so radikal erobert und den
Spielregeln der Zivilisation unterworfen – nun wird der Wert der Wildnis
wiederentdeckt. Was Naturschützer seit jeher propagiert haben: dass
ökologische Vielfalt und naturbelassene Lebensräume auch für das
Überleben der Menschheit unabdingbar sind. Das wird zunehmend auch
von der urbanen Gesellschaft erkannt. Und seit einigen Jahrzehnten
auch auf politischer Ebene vorangetrieben.
Die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, 1992 von den damaligen Mitgliedern
der Europäischen Union verabschiedet, ist die Basis für den
grenzübergreifenden Schutz der Wildnis in ganz Europa. Der Zeitpunkt
war günstig für Wölfe, Luchse, Bären: gleich nach dem Fall des Eisernen
Vorhangs. Und kurz vor der Öffnung der innereuropäischen Grenzen.
Und so kehren die Raubtiere zurück, durchqueren den Kontinent von
Süden nach Norden und von Osten nach Westen.
Der Weg zieht sich durch einen schneebedeckten Wald den Berg hinauf,
hoch über den Wein- und Obstplantagen des Südtiroler Etschtals. Es
wird immer steiler. Plötzlich bleibt Martin Stadler stehen, dreht sich um
und strahlt über das jungenhafte Gesicht.
Ja jetzt haben wir Glück gehabt, da findet man frische Bärenspuren,
sieht man ganz genau, das ist der Hinterabdruck, der ähnelt dem eines
Menschen, ist ähnlich eben wie der Fußabdruck des Menschen und das
ist der Vorderabdruck....und da sieht man auch wo er gegangen ist.
Die Spuren streben weiter den Hang hinauf, weg vom Wanderweg ins
Unterholz hinein. Martin Stadler folgt ihnen. Immer wieder fällt Schnee
aus den niedrigen Ästen auf seine grüne Försterjacke und die kurzen
schwarzen Haare. Der Bärenmanager vom Amt für Jagd und Fischerei in
Bozen steigt über eine Schneewehe und stoppt vor dem Stamm einer
großen Fichte.
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Da sehen wir jetzt auch wieder einen Abdruck vom Bär einen frischen
und da vor dem Baum auch. Jetzt können wir schauen, vielleicht sind
sogar Haare auf dem Baum ..ohja, da sieht man sogar welche ….
In der Rinde haben sich ein paar hauchdünne, leicht gewellte Haare
verfangen, etwa daumenlang und braun. Vorsichtig rupft er sie vom
Baum und steckt sie in ein durchsichtiges Plastiktütchen.
So funktioniert eigentlich ein Kratzbaum, man sieht, da scheuern sie sich
dann und hinterlassen das genetische Material.
Die Haare schickt Martin Stadler an ein Labor in Bologna. Dort wird ihr
Erbgut untersucht, um herauszufinden, welcher Bär hier war. Die Tiere,
die seit einigen Jahren Südtirol durchstreifen, kommen von Süden aus
der benachbarten Provinz Trentino: aus dem einzigen erfolgreichen
Bärenauswilderungsprogramm im gesamten Alpenraum.
Verantwortlich für dieses Programm ist Claudio Groff vom Forst- und
Faunadienst der Provinz Trentino. Sein Büro liegt im vierten Stock eines
futuristisch aussehenden Gebäudekomplexes am Stadtrand von Trient.
Der schmale Mann im grauen Anzug hat eigentlich nur wenig Zeit. Der
Jahresbericht über die Bären muss fertig werden. Dann aber streicht er
sich die grauen Locken aus der Stirn und beginnt dann doch zu
erzählen.
Ich denke, es ist das größte und schwierigste Wildtierprojekt, das es
jemals in Italien gab.
Jahrhundertelang wurden die Bären überall in den Alpen erbittert gejagt.
Am Ende des zweiten Weltkriegs waren sie aus der Schweiz, aus
Deutschland und aus Österreich verschwunden. Nur im äußersten
Norden Italiens hatten ein paar überlebt. Aber auch sie wurden alt und
starben. Als Ende der 1990er Jahre nur noch drei Bären übrig waren,
schritten Claudio Groff und seine Kollegen ein.
Ten bears have been moved from Slovenia to Trentino between 1999
and 2000, seven females and three males.
Zwischen 1999 und 2000 brachten sie zehn Bären aus Slowenien ins
Trentino, sieben Weibchen und drei Männchen. Jahrelang hatten die
Forscher in den Bergen nach geeigneten Lebensräumen für die großen
Raubtiere gesucht und waren im Naturpark Adamello-Brenta
nordwestlich von Trient fündig geworden. Genau dort, wo die letzten drei
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Bären überlebt hatten, ließen sie die Neuankömmlinge frei. Allerdings
erst, nachdem sie die Menschen in der Nachbarschaft nach ihrer
Meinung gefragt hatten.
Die Menschen in dieser Region hatten immer schon Bärenspuren im
Wald gesehen, sie waren an die Tiere gewöhnt und dementsprechend
gelassen. Sie wussten ja, dass die Bären hin und wieder Schäden
anrichten, aber auch dass sie noch nie Menschen angefallen haben.
Anders ist die Einstellung in den etwas weiter entfernten Gebieten, dort
wo es schon seit über hundert Jahren keine Bären mehr gab. Dort haben
viele Menschen Angst vor den Tieren, weil sie nie Kontakt mit ihnen
hatten. Sie kennen nur Filme über amerikanische Grizzly Bären und
glauben das unsere europäischen Bären genauso gefährlich seien. Sie
haben Angst vor den Bären, weil sie sie nicht kennen.
Anders als ihre amerikanischen Verwandten, haben die Bären im
dichtbesiedelten Europa seit über tausend Jahren gelernt, dass
Menschen gefährlich sind und man sie besser meidet. Europäische
Braunbären sind extrem scheu und fast nur nachtaktiv. Bemerken sie
Menschen, flüchten sie. Schäden richten sie trotzdem an. Sie rauben
Bienenstöcke aus und reißen Schafe.
Da müssen wir ehrlich sein. Wo Bären sind, gibt es auch Schäden, das
ist überall auf der Welt so. Wir können diese Schäden reduzieren, sehr
stark reduzieren sogar, aber komplett verhindern können wir sie nicht.
Die Neuankömmlinge aus Slowenien haben im Trentino viele
Nachkommen gezeugt. Sie sind heute auch in Südtirol heimisch und
wandern gelegentlich schon in die Schweiz. 2006 schaffte es einer sogar
bis nach Bayern, wo er zum Problembär Bruno wurde. Heute
durchstreifen mehr als 40 Bären die Hänge der Südalpen.
Nicht alle Menschen seien davon begeistert, erzählt der Südtiroler
Bärenmanager Martin Stadler, während er seinen Geländewagen auf
den Hof der Bauernfamilie Kerschbamer in Graun lenkt.
Hoila! Jetz han i en Überfall auf dich vor. Ja. Kannst du kurz für n Radio
glei ein Interview geben? Ginge das? Nei, 5 minuten, zehn Minuten...
Karin Kerschbamer winkt von der Veranda aus, und eilt energischen
Schrittes in den Hof. Sie und ihr Mann bieten Ferien auf dem Bauernhof
an. Erst im November hat ein Bär zwei ihrer Schafe gerissen, ein Pony
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und einen Esel verletzt. Martin Stadler und seine Kollegen haben dafür
gesorgt, dass sie eine Entschädigung bekam und ein Elektrozaun um
den Stall herum gebaut wurde. Trotzdem ist Karin Kerschbamer unruhig.
Ich habe eben meine Schafe, das Pony und den Esel auch für die Gäste
damit die Stadtkinder, wenn sie kommen, ein Erlebnis haben, die Tiere
streicheln können, die Eier von den Hühnern holen können, fürs
Frühstücksei und es ist halt, wenn dann die Gäste ein Jahr, das nächste
Jahr wieder kommen, und fragen wo ist das Schaf, oder die Berta, weil
jedes Schaf hat einen Namen und ich sag, der Bär hat's gerissen, man
weiß ja nicht wie die Kinder drauf reagieren.
Oben in den Bergen könne der Bär ja ruhig bleiben, aber hier unten im
Tal habe er nichts verloren sagt sie, und stemmt die Hände in die Hüfte.
Sie hat Angst, dass der Bär ihre Gäste vertreiben könnte.
Die gehen dann abends zu den Gasthäusern Abendessen und kommen
dann abends zurück und sie genießen eben, dass man sich hier frei
bewegen kann und das ist jetzt eben auch... soll ich ihnen das sagen
dass hier jetzt die Braunbären sind? Oder soll ich es ihnen
verschweigen? Das ist ein Zwiespalt was momentan ist.
Martin Stadler lächelt leicht gequält. Der Bärenmanager hört solche
Argumente oft. Die Provinzregierung kommt für alle Schäden auf, die
Bären anrichten. Sie informiert über Schutzmöglichkeiten und stellt
Imkern und Kleintierzüchtern kostenlose Elektrozäune zur Verfügung. Er
selbst ist fasziniert davon, dass Bären wieder seine Heimat
durchstreifen.
Also ich muss sagen oder auch viele Leute hört man sie sind begeistert
dass die Bären wieder zurückkommen weil sie eigentlich Teil der Natur
sind und ein Teil der Alpen so wie das Edelweiß oder der Steinbock hat
es früher auch schon immer gegeben und Bären hat es auch in unserer
Gegend immer schon gegeben, sind verfolgt worden, ausgerottet, aber
da sind die Verhältnisse sind ganz anders gewesen und die Existenz von
der Familie hat abgehangen vom Vieh oder von der Viehwirtschaft und
...mich freut es, dass der Bär wieder zurückkommt, ja.
Die Rückkehr der Wölfe sorgt fast überall in Europa für das größte
Aufsehen. Aus den italienischen Abruzzen kommend haben sie
inzwischen Frankreich erobert, Populationen aus der Ukraine und Polen
sind nach Deutschland gewandert. Füchse, Hirsche, vereinzelt sogar
Elche in den Parks der Großstädte, Rehe in Vorgärten, Wildschweine auf
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der Autobahn - vor 30 Jahren noch waren solche Vorkommnisse
undenkbar. Das zivilisierte Mitteleuropa war damals fast vollkommen frei
von Raubtieren und anderen Gefahren aus der Natur. Die Erkenntnis,
dass durch die Ausrottung von wilder Fauna und Flora auch natürlicher
Lebensraum für den Menschen verlorengeht, schlug sich nieder in der
Berner Konvention, dem ersten internationalen Artenschutzabkommen,
initiiert vom Europarat und inzwischen von 50 Staaten ratifiziert.
1982 ist es in Kraft getreten – im selben Jahr erschien eine Erzählung
des Schweizer Schriftstellers Franz Hohler, in dem er, Menschenfreund,
Naturliebhaber und Satiriker zugleich, seine Utopie von einer wilden
Stadt beschreibt:
„Die Rückeroberung. Eines Tages, als ich an meinem Schreibtisch saß und zum
Fenster hinausschaute, sah ich, dass sich auf der Fernsehantenne des
gegenüberliegenden Hauses ein Adler niedergelassen hatte. Ich muss dazu sagen,
dass ich in Zürich wohne und dass Adler bei uns nur in den Alpen vorkommen, am
nächsten von hier vielleicht in den Bergen von Glarus, etwa 50 Kilometer von der
Stadt entfernt.
Aus der ganzen Stadt trafen Meldungen von neu angelegten Adlernestern ein, der
ornithologische Verein erstellte ein Verzeichnis, das er laufend nachführte, die
Biologen beschäftigten sich mit der plötzlichen Veränderung in den Gewohnheiten
dieser seltenen Tiere und fanden keine Erklärung dafür. So schnell, sagten sie,
wechsle in der Tierwelt normalerweise kein Lebewesen seine angestammte
Umgebung. Die Leute wurden ermahnt, zu ihren kleineren Haustieren gut Sorge zu
tragen, Hunde wenn möglich an die Leine zu nehmen und Meerschweinchen und
Kaninchen nicht in offenen Gehegen herumlaufen zu lassen. Im übrigen beschloss
man aber von seiten der Stadtbehörden, die Adler zu tolerieren, da es sich zeigte,
dass sie sich nicht zuletzt auch von Ratten ernährten, von denen es in unserer Stadt
mehr als genug gibt.“
Die Vereinten Nationen haben dieses Jahrzehnt zur UN- Dekade der
biologischen Vielfalt erklärt. Und es gibt europaweit eine ganze Reihe
von Projekten, um gefährdete Tiere und Pflanzen zu schützen. Oder
auch: um sie wieder zurückzuholen in die heimische Wildnis.
Spektakulär sind die großen Raubtiere – doch wenn es darum geht,
natürliche Kreisläufe wiederzubeleben, sind die kleinen Tiere sehr viel
wichtiger: Insekten vor allem. Aber auch Vögel: Kiebitz, Feldlerche oder
Dorngrasmücke wurden durch die extensive Landwirtschaft fast komplett
aus Mitteleuropa vertrieben.
Das Europäische Erhaltungszuchtprogramm - EEP
- will die am
meisten bedrohten Arten der Welt vor dem Aussterben retten. Unter
anderem die Zoologische Gesellschaft Frankfurt, der WWF, World
Wildlife Fund for Nature, sind daran beteiligt. Sowie ein ungewöhnlicher
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Zoo in Westschweden, 100km nördlich von Göteborg: Nordens Ark. Die
Arche des Nordens hat es sich zur Aufgabe gemacht, große wilde Tiere
zu zeigen und kleine zu zeugen: zum Beispiel Wechselkröten.
Rotbauchunken. Und Weißrückenspechte.
Das alte Farmgelände an der schwedischen Schärenküste glänzt in der
Frühlingssonne. Umrahmt von dunklem Wald, mehreren Schuppen und
eingezäunten Wiesen liegt ein braunangestrichenes, flaches
Holzgebäude.
Dies sei das ursprüngliche Brutzentrum für die Spechte gewesen, erzählt
Christer Larsson. Der Mann mit weißem Haar und brauner Weste betritt
einen schmalen Gang, von dem alle paar Meter eine Tür abzweigt.
„Es ist ein besonderer Bau, in dem die Volieren direkt nebeneinander
liegen. Das erleichtert uns die Fütterung und die Beobachtung der Tiere.“
Das Brutzentrum ist Teil der Nordens Ark – der Arche des Nordens: Ein
Zoo, der sich auf die Aufzucht und Auswilderung bedrohter Tierarten
spezialisiert hat. Christer Larsson hat diesen Zoo mit aufgebaut. Seit 25
Jahren sind vom Aussterben bedrohte Tiere sein Leben. Eines dieser
Tiere ist der Weißrückenspecht. Anfang der 90er Jahre lebten in
Schweden nur noch 20 Paare. Und von Jahr zu Jahr wurden es weniger.
Deshalb holten Christer Larsson und seine Kollegen wilde Brutpaare aus
Norwegen und versuchten, die Art in Gefangenschaft zu züchten. Das
hatte noch niemand zuvor probiert. Und niemand wusste, wie es
funktionieren sollte.
„Sie hatten offensichtlich eine gute Zeit hier. Denn sie waren gesund und
machten einen glücklichen Eindruck. Aber sie haben nie gebrütet.“
Während ihrer Beobachtungen bemerkten die Forscher, dass die
Spechtpaare extrem auf ihre Nachbarn achteten. Alle Vogelpaare taten
immer das gleiche zur gleichen Zeit. Fressen, Hämmern, Schlafen. Alles
außer Brüten. Und das war nicht das einzig Seltsame. Denn das eine
Spechtpaar, das einzeln und fernab der Zuchtstation in einem
Schaugehege auf dem Zoogelände lebte, legte Eier.
Das machte Christer Larsson und seine Kollegen stutzig. Vielleicht
brauchten die Vögel mehr Privatsphäre? Einen Versuch war es wert. Die
Forscher bauten mehrere Vogelvolieren weit voneinander entfernt. Und
der Trick funktionierte. Kaum hatten die Vögel die neuen Käfige
bezogen, fingen sie an zu brüten.
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„Hören Sie das? Einer von beiden hämmert in der Nisthöhle, vergrößert
sie ein wenig, putzt und räumt um die Küken herum ein bisschen auf.
Heute ist unsere Brutvogelpopulation hier wahrscheinlich größer, als die
gesamte Wildpopulation in Schweden.“
Jedes Brutpaar legt ein bis vier Eier pro Jahr. Etwa zwei Monate
nachdem sie geschlüpft sind, werden die Jungen von ihren Eltern
getrennt. Dabei müssen die Tierpfleger genau den kurzen Zeitraum im
Leben der Küken nutzen, in dem sie sich auf eine neue Umgebung
einstellen können. Verpassen sie diese Phase, scheitert das Projekt.
„Die Auswilderung dauert lange. Es ist nicht damit getan, einfach den
Käfig zu öffnen. Wir haben spezielle Auswilderungsvolieren in
Waldgebieten gebaut, die noch sehr naturnah sind, mit viel Totholz, in
dem die jungen Spechte reichlich Insekten und andere Nahrung finden.
In diesen Käfigen verbringen die Jungtiere etwa eine Woche bis zehn
Tage. Dann öffnen wir sie. Die Spechte können hinaus, aber auch
wieder hinein. In der Regel verbringen sie die Nächte noch in den
geschützten Käfigen. Es dauert von Ende Juli/ Anfang August bis in den
Herbst hinein, bis die Tiere die offenen Käfige endgültig verlassen. Und
wir füttern sie dort so lange, wie sie wollen.“
In den vergangenen fünf Jahren sind einige Dutzend Jungvögel auf
diese Weise ausgewildert worden. Trotzdem ist der Weißrückenspecht in
Schweden immer noch akut vom Aussterben bedroht. In Norwegen und
auch im Baltikum dagegen sind die Bestände stabil. Warum also der
ganze Aufwand?
Es gehe in dem Projekt nicht allein um den Weißrückenspecht, sagt
Christer Larsson und runzelt die Stirn. Er hat an einem Picknicktisch
etwas abseits der Spechtvolieren Platz genommen und schaut auf den
nahen Waldrand, als er weiterspricht.
„Es geht um 200 Arten, die wir alle verlieren, wenn es uns nicht gelingt,
ihren Lebensraum zu schützen: diese alten Wälder voller Insekten,
Totholz und Brutplätze. Ohne solche Wälder verlieren wir den
Weißrückenspecht und all die anderen Arten. Und es kommen doch
Menschen nach uns.“
Anders als der Weißrückenspecht sind die meisten dieser Arten
unscheinbar. Es sind kleine Schnecken, Käfer, Pflänzchen und Pilze, die
allesamt nicht als Sympathieträger taugen. Schützt man aber den
Lebensraum des Weißrückenspechts, sichert man auch ihr Überleben.
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„Schon hatte man sich daran gewöhnt, dass auf der Straße plötzlich ein
Adler neben einem zu Boden gehen konnte, um eine streunende Katze
zu Tode zu beißen, als ein neuer Vorfall die Leute beunruhigte. Ein
Morgenspaziergänger rief um 4 Uhr früh bei der Polizei an, in der
Parkanlage beim Bürkliplatz hielten sich eine Anzahl Hirsche auf und
versperrten die Fußwege. Zwei ausrückende Polizisten fanden diese
Angabe bestätigt und lösten einen Großalarm aus, denn sie sahen, dass
sich nicht nur einzelne Hirsche zwischen den Büschen bewegten,
sondern dass es sich um eine ganze Herde handeln musste, deren
genaue Größe schwer auszumachen war, sie konnte aber ohne weiteres
in die Hunderte gehen.
Das hat auch etwas Schönes, gewiss, und auf eine Art ist es eine
Bereicherung des Stadtlebens, aber irgendwie ist mit diesen Tieren auch
der Schrecken wieder eingezogen. Das Schreien einer Katze zum
Beispiel, die sich gegen den tödlichen Zugriff eines Adlers wehrt, ist fast
nicht auszuhalten. Wer an einem Herbstmorgen von den tiefen und
unnachgiebigen Brunstrufen der Hirsche aus dem Schlaf gerissen wird,
welche von den Häuserfronten wie von Felswänden widerhallen, der
bleibt wach für diesen Tag, und wo immer in der Stadt zwei Hirsche
aufeinander losstürzen und sich mit krachenden Geweihen ineinander
verkeilen, ist die Straße augenblicklich leer.“
Die Wildnis kehrt nicht ungezähmt nach Europa zurück: Richtlinien und
Verordnungen sorgen für eine geregelte Bewilderung: So gibt es
nationale Gesetze über Abschussgenehmigungen, vorgeschriebene
Ausgleichsmaßnahmen bei Bebauungen, es gibt
Brachflächenprogramme und Autobahnausgleichsvorschriften. Was,
mangels Fläche, indes fast überall fehlt: wilde Wälder, die frei sind von
Forstwirtschaft. Zwar wurden die ehemaligen Grenzstreifen zum großen
Teil der Natur zurückgegeben, sie haben sich inzwischen zu wilden
Biotopen entwickelt. Doch den großen Wildtieren ist die dichte
Besiedelung immer noch viel zu eng.
Dem europäischen Bison zum Beispiel. Auch Wisent genannt: seit der
Ausrottung des Auerochsen ist es Europas schwerstes und größtes
Landsäugetier. Die Bullen werden bis zu 1 Meter 90 groß und fressen
täglich bis zu 60 kg Grünzeug. Es gibt eine ganze Reihe von
Auswilderungsprojekten in Europa: das älteste befindet sich in Polen, an
der Grenze zu Weißrussland – im größten Waldgebiet Europas.
Das Büro von Katarzyna Dalesczyk liegt hinter einer schweren Holztür in
einem der Nebengebäude des Palastes von Białowieża. Die zierliche
Frau mit dem dunkelbraunen Pagenkopf lächelt und bietet ihrem Gast
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einen Tee an, bevor sie selber Platz nimmt. Ihr Büro ist schmal, dunkel
und voller Pflanzen. Über dem Schreibtisch hängt das Poster eines
Wisents, das mit zotteligem, braunen Fell, massigem Körper und
gebogenen Hörnern in die Kamera schaut.
„I am working in Białowieża National Park in the research unit I deal with
European Bison, so this is the topic of my work here.“
Sie arbeite in der Forschungsabteilung des Białowieża Nationalparks
und studiere Wisente, erzählt sie. Die größten Landsäugetiere Europas
lebten bis ins frühe Mittelalter in den weiten Urwäldern des Kontinents.
Rodungen und Jagdeifer haben sie immer weiter zurückgedrängt. Einzig
hier im Białowieża Wald an der Grenze zwischen Polen und
Weißrussland wurden sie jahrhundertelang gehegt und geschützt, als
kostbares Jagdgut polnischer Könige und russischer Zaren.
„Anfang des 20. Jahrhunderts aber starben die letzten Wisente. Hier im
Białowieża Wald 1919 und in den Bergen des Kaukasus 1927. Damit
waren alle wilden Wisente ausgerottet.“
Der erste Weltkrieg war gerade vorbei, Polen wieder ein unabhängiger
Staat und eigentlich hatten die Menschen andere Sorgen. Aber das
Wisent galt vielen als Symbol eines stolzen polnischen Staates. Sie
wollten es zurück haben. Katarzyna Dalesczyk ist beeindruckt von
diesem Enthusiasmus. Sie nippt an ihrem Tee, bevor sie weiter spricht.
„Wir bedauern heute, das wir so viele andere Arten verloren haben. Und
das Wisent ist ein fantastisches, charismatisches Tier, es hat sich
gelohnt, es zurück zu holen.“
Die Straße vor ihrem Büro ist tief verschneit. Auf dem Parkplatz wartet
Rafal Kowalczyk neben seinem alten Geländewagen.
Der Direktor des Säugetierforschungszentrums der Polnischen
Akademie der Wissenschaften in Białowieża ist ein nüchterner Mann mit
breiten Schultern und harten Gesichtszügen. Er steigt in sein Auto und
folgt einem Forstweg hinein in den Urwald.
Nach einigen Kilometern bremst er und deutet durch das Autofenster
rechts an einer Scheune vorbei.
“Can you see them? No. In the front of us right of this roofed haystack
there is a few individuals.”
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Der Wald ist von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Vor dem Weiß
der Umgebung zeichnen sich in der Entfernung massige braune Leiber
ab. Einer davon setzt sich in Bewegung.
„Das ist ein altes Weibchen. Es trägt seit neun Jahren ein
Sendehalsband. Wir wissen also sehr viel über diese Kuh. Sie ist eine
der Leitkühe.“
In Zoos und Tierparks hatten einige Wisente den Tod ihres letzten wilden
Artgenossen überlebt. Mit ihnen startete Ende der 1920er Jahre ein
Zuchtprogramm. 1952 kehrten dann die ersten Tiere in den Wald von
Białowieża zurück.
„Heute haben wir hier die größte wildlebende Population der Welt, mit
900 Tieren. Das ist ein Drittel aller in der Wildnis lebenden Wisente.“
Rafał Kowalczyks erforscht seit fast zwanzig Jahren die Wisente des
Urwalds. Er schaut in die Ferne als er anfängt, von Liebe zu sprechen.
Ja, er habe sich in diesen Wald verliebt, in die letzte Wildnis Europas mit
ihren Wölfen, Bären und Wisenten. Jedesmal wenn er für ein paar Tage
fort müsse, packe ihn die Sehnsucht nach dem Wald mit seiner wilden
Natur. Gleichzeitig ist er wütend über die Art und Weise, wie Katarzyna
Dalesczyk und ihre Kollegen von der Nationalparkverwaltung die Tiere
behandelten. Jeden Winter machten sie aus wilden Wisenten faule
Kühe.
„Sie beobachten genau, was wir tun. Aber sehen Sie? Wir sind wirklich
nah dran, und trotzdem sind die Tiere nicht scheu. Das ist ganz typisch
für intensiv gefütterte Wisente.“
Statt vor den Eindringlingen zu flüchten, fressen die sonst scheuen Tiere
das Heu, das in großen Fladen auf dem Schnee liegt. Im Winter finden
sie im Wald nicht genug Futter. Von sich aus würden die Tiere auf die
Felder und Äcker in der Umgebung des Parks ausweichen, wo es auch
im Winter reichlich Futter gibt. Doch weil die schweren Tiere allein durch
ihr Gewicht dort große Schäden anrichten könnten, werden sie von der
Nationalparkverwaltung regelmäßig mit Heu versorgt. Genau daran stört
sich Rafał Kowalczyk.
„Die Nationalparkmanager füttern die Tiere, um sie im Wald zu halten,
aber dadurch erhöhen sie gleichzeitig die Überlebens- und
Reproduktionsraten. In diesen intensiv gefütterten Herden bekommt die
Hälfte der Weibchen Kälber. In weniger intensiv oder gar nicht
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gefütterten Herden ist es nur ein Drittel. Die Fütterungen vergrößern also
die Population. Und dann wieder glauben die Manager, es seien zu viele
Tiere und töten einen Teil von ihnen.“
Dadurch dass sich die Wisente im Winter in großen Gruppen an den
Futterplätzen sammeln, könnten außerdem Krankheiten leicht von einem
Tier aufs andere überspringen.
Aber die Nationalparkverwaltung interessiere sich nicht für moderne
Forschungsergebnisse sondern behandle die Tiere einfach genauso wie
sie sie immer schon behandelt habe. Dabei wäre die Lösung ganz
einfach, sagt Rafal Kowalczyk: weniger Futter. Dann könnte es gelingen,
die letzten wilden Wisente Europas wieder etwas wilder werden zu
lassen.
„Es dauerte eine Weile, bis zum erstenmal ein Wolf gesehen wurde,
lange Zeit traf man immer nur ihre Spuren an. Die ersten, die dann die
Wölfe zu Gesicht bekamen, waren die Kinder aus der Schulklasse
meines achtjährigen Buben. Als sie an einem Morgen in der Turnstunde
am Waldrand des Käferbergs schlittelten, waren die Wölfe plötzlich da
und stürzten sich auf den hintersten der Gruppe, den Sohn eines
Jugoslawen. Er habe nur einmal geschrien, sagte die Lehrerin, die vor
Entsetzen außer sich war, anscheinend hatten ihm die Wölfe gleich die
Halsschlagader durchgebissen.
Von nun an herrschte in Zürich der Ausnahmezustand. Dass jedes Jahr
ein paar Kinder unter den Autos starben, daran hatte man sich gewöhnt,
das war eben ein möglicher Tod in der Stadt, aber dass Kinder von
Wölfen zerrissen werden, das sollte nicht vorkommen, nicht in einer
Stadt wie Zürich.
Wo sie herkamen, wusste man nicht, sie wurden nirgends vermisst und
es wurde auch keine andere Stadt von ihnen heimgesucht, weder in der
Schweiz noch sonstwo in Europa, Zürich war ganz allein betroffen, und
niemand wusste warum.“
Inzwischen ist es bestens erforscht, wo welches wilde Tier herkommt, wo
es hingeht oder hinfliegt, wo es sich heimisch fühlt und Nachkommen
zeugt oder von wo es flieht – oder ganz verschwindet. Seit die Vereinten
Nationen 1992 das UN-Übereinkommen über die biologische Vielfalt
verabschiedet haben, treffen sich die sogenannten Vertragsstaaten alle
zwei Jahre zu einer internationalen Konferenz, um über die Ziele und
Maßnahmen zu beraten. Festgelegt wurde bisher unter anderem, dass
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jegliche land-, forst- und fischereiwirtschaftliche Nutzung nachhaltig sein
und 17 % der Landfläche und 10 % der Meere vernetzt und unter Schutz
gestellt werden sollen.
Die Umsetzung ist den Nationalstaaten überlassen. Doch mit dem
Programm Natura 2000 hat die Europäische Union immerhin ein
grenzübergreifendes Naturnetzwerk entworfen, um gefährdeten
Tierarten genügend Rückzugsraum zu bieten. Gegenden, die für
Menschen oft nur schwer zugänglich sind: zum Beispiel die
Sumpfgebiete in der niederländischen Provinz Overijssel.
Es ist eine trübe Landschaft, durch die Freek Niewold mit einem kleinen
Grüppchen Freiwilliger stapft. Es regnet schon seit Stunden, ein eisiger
Wind bläst über das Wasser und rüttelt an kahlen Bäumen.
„Otters and beavers are belonging to this landscape from early times so
that was our main interest to get them back.“
Fischotter und Biber gehörten seit Urzeiten zu dieser Landschaft, sagt
der wettergegerbte Mittsechziger mit weißem Haar und grüner
Regenjacke. Deshalb habe er einen großen Teil seines Forscherlebens
damit zugebracht, sie wieder zurückzubringen.
„Wir sind hier im Naturschutzgebiet Weerribben. In diesem Gebiet wurde
früher Torf gestochen. Später haben sich die Torfgruben dann mit
Wasser gefüllt. Deshalb sehen Sie überall Seen, mit schmalen Streifen
Land dazwischen, auf denen der Torf abtransportiert wurde. Heute ist
das ein Naturschutzgebiet.“
Fischotter liebten die Kanäle und Seen dieser Landschaft. Seit er in
Rente ist, zeigt Freek Niewold interessierten Naturliebhabern, wie sie die
Exkremente der scheuen und nachtaktiven Tiere finden und sammeln
können.
Heute ist die Gruppe klein. Das Wetter hat viele abgeschreckt. Die
wenigen Hartgesottenen jedoch sind hochmotiviert, Spuren der
Fischotter zu finden. Auf einem Grashügel haben sie diesmal Glück.
Freek Niewold nimmt einen Teelöffel und schiebt damit etwas Kot in ein
kleines Plastikdöschen. Ordentlich beschriftet wandert diese Probe
später ins Forschungsinstitut Alterra der Universität Wageningen, Freek
Niewolds ehemaligem Arbeitsplatz.
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Die Untersuchung des Otternkots sind eine Möglichkeit, Rückschlüsse
zu ziehen über das Verhalten und über den Speiseplan der kleinen
Raubtiere, sagt Hugh Jansman.
„Es ist ziemlich schwierig, eine so scheue Art zu überwachen. Man sieht
die Tiere so gut wie nie. Ich arbeite seit 15 Jahren mit ihnen, und in all
dieser Zeit ist es mir nur zwei Mal gelungen, einen Blick auf ein Tier zu
erhaschen. Was man dagegen leicht findet, sind tote Fischotter, die dem
Verkehr zum Opfer gefallen sind. Außerdem sammeln wir eben den Kot,
mit denen die Tiere ihr Territorium markieren und ihre
Paarungsbereitschaft signalisieren. Wir untersuchen beides, um DNAProben zu gewinnen und herauszufinden, wie es den Tieren geht,
wieviele es sind, ob Fälle von Inzucht auftreten und wer der Vater, wer
die Mutter ist.“
In dem schlichten einstöckigen Gebäude auf der Rückseite der
Universität –zieht sein Kollege Dennis Lammertsma sich einen weißen
Kittel an und schleppt ein in Plastik verpacktes Paket aus der
Kühlkammer herbei.
„Yeah, it is something like CSI - but not that sophisticated.“
Die beiden Männer wickeln einen toten Fischotter aus und legen ihn auf
den Seziertisch in der Mitte des Raumes. Hugh Jansman tastet das Tier
vorsichtig ab. Kein Chip.
Dann sei es wahrscheinlich ein sehr junges Tier aus der
niederländischen Population, schätzt Dennis Lammertsma. Die Zähne
sind kaum abgenutzt. Fischotter gelten als die Könige des
Nahrungsnetzes in den wasserreichen Niederlanden. Sie kontrollieren
die Fischbestände und dadurch wiederum auch deren Beute.
Gleichzeitig sind sie ein Hinweis auf ein intaktes Ökosystem.
„Wir sind sehr positiv überrascht. Die Fischotter starben in den späten
80er Jahren aus, weil ihr Lebensraum zerstört und das Wasser voller
Schadstoffe war. Außerdem waren viele Tiere in Fischernetzen
ertrunken oder wurden illegal gejagt. Hier in den Niederlanden münden
mehrere große europäische Ströme ins Meer und früher war das ein
einziges Abwassersystem voller Müll und Umweltgifte. Aber jetzt ist die
Wasserqualität viel besser geworden und es gibt so viele Fische, dass
die Otter gerade einmal eine Stunde jagen müssen, um genug zu
fressen für den ganzen Tag zu finden.
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Vor 12 Jahren holten Freek Niewold, Hugh Jansmann und Dennis
Lammertsma die ersten Fischotter aus anderen Ländern und setzten sie
im Nationalpark De Weerribben-Wieden aus. Dort also, wo Freek
Niewold heute mit seinen Freiwlligen Kot sammelt, um zu sehen, wie es
den Ottern geht. Dreißig Tiere waren es zu Beginn, inzwischen hat sich
die Population vervierfacht: auf mehr als 120 Tiere.
Mit einer OP-Schere schneiden die Männer die Bauchdecke des jungen
Otterweibchens auf dem Seziertisch auf, holen den Magen heraus und
spülen seinen Inhalt durch ein Sieb.
„Und Überraschung: sie hat Fisch gefressen! Na gut, das ist keine
wirkliche Überraschung, Fischotter ernähren sich zu 95% von Fisch. Die
Fische sind so stark zerkleinert, dass ich Ihnen nicht sagen kann, was
für welche es sind. Aber auf jeden Fall hatte sie ein reiches Mahl!“
Den Tieren geht es gut. Sie finden reichlich Nahrung und vermehren sich
immer weiter. Die Fischer in der Gegend benutzen heute Reusen, in
denen die Otter sich nicht mehr verfangen und ertrinken können. Ein
Problem aber werden die Tiere nicht los. Ihm ist auch das Otterweibchen
auf Hugh Jansmans Seziertisch zum Opfer gefallen.
„Die größte Gefahr für die Tiere ist und bleibt der Verkehr. Wir haben ein
sehr dichtes Straßennetz. Schließlich sind die Niederlande eines der am
dichtesten besiedelten Länder der Welt. Daran haben sich die Fischotter
einfach nie wirklich gut angepasst.
26 Tiere wurden im vergangenen Jahr überfahren - beinahe ein Fünftel
des aktuellen Bestands. Die Forscher versuchen ihnen mithilfe von
Krötentunneln und Landschaftsbrücken zu helfen, gefahrlos Straßen zu
unter- oder überqueren. Aber sie können nicht jede einzelne Straße im
ganzen Land sichern und jedes einzelne Tier retten. Solange jedoch,
sagt Hugh Jansmann, mehr Tiere geboren als überfahren werden, hat
der Fischotter in den Niederlanden trotzdem eine Zukunft.
„Es zeigte sich, dass bereits eine weitere Bedrohung über der Stadt lag,
gegen die man noch machtloser war. Sie sah zuerst harmlos, fast
erfreulich aus, aber bald wurde klar, dass gerade sie das eigentliche
Ende bedeuten konnte. Diese Bedrohung ging von den Pflanzen aus.
Die erste Art war das Efeu, das plötzlich unheimlich schnell zu wachsen
anfing. In einer einzigen Nacht konnte es aus einem Garten bis in die
Straßenmitte vordringen und wenn es am Morgen geschnitten wurde,
war es am Abend schon wieder an den Trottoirenden. Mit äußerster
Mühe konnte zunächst durch tägliche Pflege verhindert werden, dass es
sich auch an Glas und Betonbauten festkrallte. Die Verwaltungsgebäude
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der großen Firmen, die Hotels, die Banken, die Warenhäuser, alle
mussten Leute einstellen, die nichts anderes zu tun hatten, als den
ganzen Tag Efeu zu schneiden. Und im Gefolge des Efeus vermehrten
sich auch die andern schlingenden Pflanzen, weißer Knöterich, Clematis,
Glyzinien und andere Parasiten begannen sich mit dem Efeu zu
vermischen und nahmen gemeinsam den Kampf gegen Straßen, Häuser
und Unterführungen auf.
Wenn ich zum Fenster dieses Arbeitszimmers hinausschaue, sehe ich
zwischen den Spitzen der Schachtelhalme hindurch immer noch die
Steinadler auf dem Nachbardach abfliegen und ankommen und ihren arg
krähenden Jungen irgendein noch halb zuckendes Fleischstück
zerkleinern und in die Schnäbel drücken. Die Trams haben ihren Betrieb
abgebrochen, die nächste noch befahrbare Straße liegt beim Hallenbad
draußen, das Haus gegenüber ist leer und ich sitze da und denke
darüber nach, ob es jetzt noch einen Sinn hat, die Stadt zu verlassen
oder ob das alles nur der Anfang von etwas ist, das sich von hier aus
uneindämmbar ausbreiten wird.“
Die meisten europäischen Auswilderungsprojekte werden von
Naturschutzorganisationen durchgeführt. Wilde Tiere sind
prestigeträchtig, eine spektakuläre Freisetzung bringt Aufmerksamkeit
und Spendengelder. Das internationale Projekt Rewilding Europe hat gar
die Vision, die durch Landflucht verlassenen Gegenden Europas zu
einem riesigen europäischen Abenteuersafaripark zu machen. Den
passenden Werbeslogan gibt es schon: Make Europe a wilder place.
Doch die imposanten Fotos von Adlern, Elchen und Bären spiegeln vor
allem eines wider: die Vorstellung einer urbanen Gesellschaft von der
Wildnis als Utopie.
Damit Wildnis im Sinne der Artenvielfalt eine Chance hat in Europa,
müssen viele Faktoren bedacht werden: eine wohl überlegte
Vorbereitung. Möglichst eine wissenschaftliche Begleitung. Geduld. Und
vor allem: Akzeptanz bei den Menschen, die damit leben müssen und
sich bedroht sehen durch die Rückkehr der großen Raubtiere. Viele
Auswilderungsprojekte sind gescheitert, weil Wilderer, Jäger oder
Bauern die Bären oder Wölfe einfach töteten – so wie es die Menschen
früher eben machten. Doch es gibt auch andere Möglichkeiten, sich und
seine Herden zu schützen.
Es ist ein ruhiger Nachmittag in Jeizinen. Eine dünne Schneeschicht
bedeckt die Wege und Wiesen des kleinen Dörfleins hoch über dem Tal
der Rhone. An den Hang drängen sich durch die Jahrhunderte
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nachgedunkelte Holzhäuser. Eine Seilbahn verbindet die wenigen
Dutzend Bewohner mit dem Rest des Oberwallis im tiefen Süden der
Schweiz.
„Das hohe Bellen, hörst du das? Das ist die Begrüßung.“
Walter Hildbrand ist hier aufgewachsen. Unter seiner rot ausgeblichenen
Baseballkappe drängen weiße Haare hervor, um den grauen Schnurrbart
herum durchziehen Falten das wettergegerbte Gesicht. Er stapft durch
den Schnee auf einen Stall zu, der etwas abseits der Häuser am Hang
liegt.
Im Hof vor dem grauen Gebäude streunen sechs große weiße Hunde
herum.
Walter Hildbrand geht an ihnen vorbei in den Stall hinein. Es ist dunkel
hier drinnen und es riecht nach Heu und Schaf.
In einer Ecke beugt er sich nach unten und nimmt einen winzigen
weißen Welpen auf die Hand. Die Mutter beobachtet ihn und wedelt mit
dem Schwanz.
„Die sind gestern geboren...das ist die Mama, das ist die Jurka, ja. Die
hat sich hier in der Ecke bei den Schafen … und die sind ja, die werden
bei den Schafen geboren, wachsen mit den Schafen auf und dann sind
die Schafe nachher für sie auch fast wie die Heimat.“
Die kleinen Wollknäuel sollen später einmal Schafherden vor wilden
Tieren beschützen. Walter Hildbrand setzt den fiependen Welpen wieder
bei seiner Mutter ab und verlässt den Stall. Er setzt sich auf eine Bank
an der Hauswand, zündet sich seine Pfeife an und beginnt zu erzählen.
„Ach, das ist eine lange Geschichte. Man hat immer irgendwo einen
Traum im Kopf als Jugendlicher. Wir hatten eine Riesenfamilie mit zehn
Kindern und einem Bauernbetrieb mit Selbstversorgung und da bin ich
viel mit den Schafen vom Vater unterwegs gewesen und irgendwann hat
sich mal '95 das ergeben, dass hier ein Betrieb am Konkurs war und
dann hab ich den einfach zu Weihnachten gekauft und hab mich dann
früh pensionieren lassen und bin dann Schäfer und Herdenschützer
geworden.
Der ehemalige Sportlehrer hatte zuerst nur Schafe. Immer wieder
musste er erleben, dass Kolkraben seinen kleinsten Lämmern die Augen
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ausstachen, wie Füchse die Tiere rissen. Dann kehrten auch noch die
ersten Wölfe in die Schweiz zurück und richteten Unheil an. Walter
Hildbrand suchte nach einer Möglichkeit seine Tiere vor all dem zu
schützen. Er fuhr in die italienischen Abruzzen, in denen es immer schon
Wölfe gegeben hatte und kaufte einem alten Schäfer einige
Schutzhunde ab.
„Ja der Wolf ist einer der größten Opportunisten die ich kenne [...] und
wenn er auf die Schafherde kommt die ungeschützt ist dann ist das für
ihn eine leichte Beute mit wenig Aufwand viel Ertrag. Wenn Schutzhunde
da sind dann muss er zuerst kämpfen dann hat er eigentlich vergessen
das er Hunger hat dann denkt er an den Kampf und dem Kampf weicht
er aus und zischt ab.
Walter Hildbrands Hunde bleiben mit den Schafen zusammen den
ganzen Sommer über auf den Alpen. Sobald ein Wolf oder ein Bär sich
der Herde nähert, schlagen sie Alarm und verbellen die Angreifer. Auch
wenn die im Zweifelsfall stärker wären, sind in der Regel weder Bären
noch Wölfe erpicht auf einen Kampf mit mehreren großen Hunden. Seit
15 Jahren züchtet Walter Hildbrand die großen weißen MaremmanoAbruzzese-Hunde und verkauft sie an Schäfer in der Schweiz und
Deutschland. Ein gut ausgebildeter, zweijähriger Hund kostet etwa 3000
Euro. Deutlich mehr als noch vor wenigen Jahren, da die Nachfrage
steigt.
„Wir hatten ein Gebiet da waren einfach 18 Alpen. Neun Schäfer, neun
Alpbesitzer waren dagegen gegen Herdenschutz und neun Alpbesitzer
haben die Herden mit Schutzhunden geschützt. Es war wie ein
Flickenteppich, eine Alpe geschützt, eine ungeschützt. Im Herbst hat
man zusammengerechnet. Auf den ungeschützten Alpen gab es 81
Risse, auf den geschützten Alpen gab es einen Riss. Und da haben in
der Zwischenzeit jetzt auch die skeptischen gegen Herdenschutz
inzwischen sich Hunde angeschafft. Um ihre Herden auch zu schützen.“
Trotzdem seien bis heute viele Schäfer gegen die Hunde. Sie bedeuten
mehr Arbeit, müssen regelmäßig gefüttert werden und stehen im Ruf,
aggressiv nicht nur gegen Wölfe und Bären, sondern auch gegen
harmlose Wanderer zu sein.
Das aber sei eine Frage der Erziehung sagt Walter Hildbrand und geht in
einen zweiten Stall voller Schafe und Hunde. Am Eingang hängt ein altes
Radiogerät an der Wand.
„Das ist wegen der Hunde. Ich gewöhne sie so an Zivilisationslärm und
dann sind sie weniger schreckhaft wenn sie Leute, fremde Leute hören.
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Darum habe ich jetzt immer, manchmal wechsel ich den Sender und so
läuft bei mir jetzt im Winter eigentlich immer wenn sie hier sind, immer
das Radio. Manchmal noch lauter, dann hören sie die verschiedensten
Stimmen und so und dann sind sie auch weniger schreckhaft. Wenn du
so weit abgelegen bist wo wochenlang fast niemand vorbei kommt dann
reagieren sie einfach viel heftiger wenn jemand kommt.
Aus einem der Pferche kommt ein großer weißer Rüde hervor und
umtänzelt den alten Mann schwanzwedelnd.
„Da gehen wir dann nachher rein. Die gehen wir dann füttern, dies ist
jetzt der Charme von Italien, ne? Hundegebell. Das ist der Italo (lachen).“
Die Rückkehr der Wildnis. Das waren Gesichter Europas an diesem
Samstag: Wie Europa seine ökologische Vielfalt wiederentdeckt. Eine
Sendung mit Reportagen von Monika Seynsche aus Italien, Schweden,
Polen, aus den Niederlanden und der Schweiz. Sowie: Auszügen aus
der Erzählung „Die Rückeroberung“ von Franz Hohler – gelesen hat der
Schweizer Schriftsteller selbst.
Ton und Technik: Gunter Rose und Angelika Brochhaus.
Im Namen des ganzen Teams verabschiedet sich am Mikrophon
Simonetta Dibbern.
Sie hörten eine Wiederholung aus dem Jahr 2014.
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