Jacques Offenbach Hoffmanns Erzählungen Die Oper „Hoffmanns

Jacques Offenbach
Hoffmanns Erzählungen
Die Oper „Hoffmanns Erzählungen“ gehört zu den meist aufgeführten Werken auf
den Opernbühnen der Welt. Und das durchaus mit gutem Grund. Aber es ist trotzdem eine erstaunliche Tatsache, denn „Hoffmanns Erzählungen“, obwohl sie voll
sind von genialen Melodien, die Sie alle kennen werden, ist sie musikalisch im Stil
der „opéra comique“ oder der „Opéra bouffe“ eher von einfacher Struktur. Sie hat
auch keine durchgängige Handlung, wie wir noch ausführlich sehen werden. Jacques Offenbach hat sie als Torso hinterlassen, so sehr, dass es gar keine konsolidierte Form gibt. Die Reihenfolge der Akte ist nicht wirklich festgelegt, Offenbach
hatte keine Zeit mehr, die Form zu bestimmen. Auch die Komposition hat er unvollständig hinterlassen. Von einzelnen Partien gibt es nur den Klaviersatz und die
Gesangsstimmen sind erst angedeutet. Trotz dieser Hindernisse, die jede andere
Oper bestimmt der Vergessenheit hätte anheim fallen lassen, haben „Hoffmanns
Erzählungen“ ihren festen Platz im Repertoire aller Bühnen, wenn auch in verschiedenen Fassungen.
Was sind denn nun aber „Hoffmanns Erzählungen?“ Wer ist dieser Hoffmann und
was erzählt er?
Hoffmann ist der deutsche Dichter, Musiker, Kapellmeister, Zeichner und Jurist
Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, geboren 1776 in der Stadt Kants, in Königsberg, gestorben in Berlin im Jahre 1822. Wir müssen uns zuerst diesem E.T.A.
Hoffmann zuwenden, wenn wir die Bedeutung der Oper heute Abend erfassen wollen. Vielleicht kennen Sie das eine oder andere Werk Hoffmanns, die „Elixiere des
Teufels“ etwa, oder den „Kater Murr“, vielleicht auch „Nussknacker und Mausekönig“, von dem Tschaikowski zu seiner Ballettmusik angeregt wurde. Oder sie kennen die Novelle „Das Fräulein von Scudéri“, welche die Grundlage ist zu Hindemiths
Oper „Cardillac“. Oder Sie kennen Schumanns „Kreisleriana“, die auf Hoffmanns
Kapellmeister Kreisler zurückgeht. E.T.A. Hoffmann gilt als Romantiker schlechthin. Er war aber durchaus nicht nur Dichter, sondern auch Musiker und Kapellmeister, er hat eine Oper komponiert – Undine – die auch heute noch aufgeführt
wird, er war Zeichner und Maler, und er hatte einen Brotberuf. Er war ein durchaus
gefragter Jurist. Eine geniale Begabung in allen Richtungen. Er hatte zu Lebzeiten
grosse literarische Erfolge, war als Jurist recht erfolgreich, hatte also wohl alle
Voraussetzungen zu einem glücklichen Leben. Aber genau das wurde ihm nicht
zuteil. Sein kurzes Leben war von Leiden gezeichnet, von Unglück und Trauer und
Verzweiflung. Er war Zeit seines Lebens ein unglücklich Liebender, der Tod entriss
ihm Frau und Kind, seine berufliche Laufbahn wurde immer wieder zerstört durch
die Napoleonischen Kriege, in seiner Arbeit als Jurist war er der Missgunst der
Konkurrenten ausgesetzt. Aber dieses schwere Schicksal war auch Beweggrund
für sein Schaffen. Seine bedeutendsten Romane entstanden in den trübsten Zeiten
seines Lebens. Seine Werke wurzeln darin: Erfüllung im Leben gibt es nur in der
Phantasie, nur sie ist in der Lage, über den tristen Alltag hinauszugehen. So gehören denn E.T.A. Hoffmanns Werke zum Phantastischsten, was die Literatur zu
bieten hat. Ein genialer, phantastischer Einfall jagt den anderen, immer werden
wir als Leser hineingezogen in das Phantastische, aber auch immer in die tiefsten
Abgründe des Menschlichen. All seine Werke erklären und erhellen, trotz der ungebändigten Leuchtkraft der Phantasie, immer auch das Wesen des Menschen.
Auch wenn das Unmöglichste und Phantastischste geschieht, spüren wir doch immer die „conditio humana“, spüren wir, dass wir als Leser gemeint sind. Aber er
entführt uns nicht in Märchenwelten, das Phantastische findet sich nicht in einer
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Zauberwelt, sondern in unserem Alltag, in der Realität; sie wird phantastisch gedeutet und gesehen. Er verlegt seine Geschichten nicht in die Ferne des Mittelalters
wie andere Romantiker, sondern er sucht seine Stoffe in seiner Zeit und in seinem
Alltag. Das macht seine Geschichten auch so eindrücklich und oft auch bedrückend.
Dem widrigen Schicksal begegnet Hoffmann in seinem Werk eben mit Phantasie,
aber auch mit Witz, Ironie, Humor und mit der Satire. Hoffmann muss ein äusserst
unsteter Mensch gewesen sein. Gejagt und geplagt von seinem riesigen Talent hat
er sich oft verzettelt, hat sich in seinem Unglück dem Trunk und der Ausschweifung
hingegeben – davon handelt die Oper heute Abend ganz zentral – hat vielleicht
seine Talente nicht völlig ausgeschöpft. Aber da steht uns kein Recht zu einem
Urteil zu, und was sollte E.T.A. Hoffmann mehr sein, als E.T.A. Hoffmann.
Dieses Werk, das in der ungebremsten Phantasie Höhen und Tiefen des Menschseins auslotet und darstellt, hat Hoffmann auch in Frankreich grossen Erfolg beschieden. Hoffmann greift vorausahnend all das auf, was im 19. und 20. Jahrhundert eine grosse Rolle spielen wird: Psychoanalyse, wenn auch natürlich nicht wissenschaftlich, Technik, die Frage nach dem künstlichen Menschen. Wir werden ihn
heute Abend antreffen, die Frage nach den Ursachen des Verbrechens. Hoffmann
galt in Frankreich als „die deutsche Romantik“ schlechthin, sodass zwei erfahrene
Dramatiker und Librettisten - Barbier und Carré mit Namen – ein Theaterstück
verfasst haben mit dem Titel „Les Contes de Hoffmann“, ein Theaterstück, in welchem sie einige der phantastischen und handlungsstärksten Erzählungen Hoffmanns auf die Bühne bringen. Es handelt sich um folgende drei Erzählungen: „Rat
Crespel“, „der Sandmann“ und einer Erzählung aus der Reihe: „Die Abenteuer der
Silvesternacht“, sowie Anspielungen auf weitere Werke. Die beiden Autoren stellen nun aber die drei Handlungen nicht einfach nebeneinander, sondern sie verbinden die Handlungen durch den Dichter Hoffmann selber. Dieser zecht mit seinen
Kumpanen in Berlin in der Weinstube „Lutter und Wegener“ am Gendarmenmarkt
– es gibt dieses Gasthaus heute immer noch – und er wird von seinen Saufkumpanen immer wieder aufgefordert, Geschichten zu erzählen. Hoffmann tut dies,
aber alle Geschichten, die er erzählt, werden zu den Geschichten seiner unglücklichen Liebschaften.
Jacques Offenbach wurde auf dieses Theaterstück aufmerksam und Barbier und
Carré verfassten für ihn ein Libretto, dessen Vertonung Offenbachs letztes Werk
und auch sein erfolgreichstes werden sollte.
Meine Damen und Herren! Endlich kommen wir zum heutigen Abend. Und sie werden sich gefragt haben, ob man das alles wissen muss, wenn man sich „Hoffmanns
Erzählungen“ ansehen will. Ich kann Sie beruhigen, man muss nicht. Offenbachs
Musik ist derart schlagkräftig und auch so bekannt, dass man seine Oper geniessen
kann, ohne vom Hintergrund etwas zu wissen. Es ist dies auch durchaus eine legitime Form, Oper und Theater zu geniessen. Schauspiele und Opern sollten ja so
sein, dass man sie verstehen und geniessen kann, auch wenn man nicht zuerst
Bücher darüber gelesen hat. Das ist auch heute Abend so. Aber trotzdem: Wer
mehr weiss, wird auch mehr verstehen. Deshalb diese lange Einleitung.
Ich versuche nun, Ihnen den Inhalt, die Handlung zu erläutern. Das ist nicht ganz
einfach, da es, wie gesagt, keine endgültige Fassung von Offenbachs Werk gibt.
Der Theateragent hat mir mitgeteilt, welche Fassung heute abend gespielt wird.
Es ist die Fassung in drei Akten mit einem Prolog und einem Epilog. Im Prolog
befinden wir uns in Berlin in Lutters und Wegeners Weinstube am Gendarmenmarkt. Die Oper wird eröffnet durch den Geist des Weines und den Geist des Biers.
„Je suis le vin, je suis la bière – glou,glou“ so beginnt die Oper nach einer ganz
kurzen Introduktion. Der Alkohol wird um den Dichter Hoffmann eine tragende
Rolle spielen.
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Der Conseiller Lindorf tritt auf. Er ist eine dämonische Figur, er wird uns in den
späteren Akten in drei anderen Gestalten wieder begegnen. Lindorf weiss, dass die
berühmte Sopranistin Stella in der benachbarten Staatsoper heute Abend in Mozarts „Don Giovanni“ auftritt. Die Kenner von Mozarts Musik werden denn auch
einige Male Mozart Zitate hören. Stella war einmal die Geliebte Hoffmanns. Lindorf
möchte sie nun aber für sich gewinnen, und er fängt den Diener der Stella ab, der
Hoffmann einen Brief mit dem Schlüssel zu deren Gemächern überbringen soll. Mit
von der Partie ist auch noch eine zweite, nicht unbedingt reale Figur. Nämlich die
Muse Hoffmanns, die Muse der Dichtkunst. Diese Figur wird allerdings in vielen
Inszenierungen weggelassen, obwohl ohne sie der Schluss nicht recht verständlich
ist. Langsam füllt sich das Lokal mit den Studenten, die alle auf Hoffmann warten.
Er – als der unglücklich Liebende – erscheint und wird sich wohl, wie fast jeden
Abend, sinnlos betrinken. Er erscheint mit seinem Freund Niklaus, der, immer an
seiner Seite, gleichsam eine Verkörperung der Muse darstellt und deshalb immer
von einer Frau gesungen wird.
Auf Wunsch aller singt Hoffmann die Ballade vom „Klein Zack“, dem buckligen
Zwerg. Auch er eine Figur aus einer Erzählung Hoffmanns: Klein Zack ist ein bösartiger Zwerg, dem aber eine Fee die Gnade gewährt, dass alle seine Handlungen
– so böse sie auch sein mögen – von seiner Umgebung als gute Taten wahrgenommen werden. Die Fee spendet dies in der Hoffnung, dass Zack sich dadurch
bessere, was aber nicht funktioniert. Hoffmann singt die humoristische Ballade von
diesem Zwerg, im Mittelteil aber verliert er sich, wird von seiner Liebe und Leidenschaft zu Stella ergriffen und singt eigentlich von ihr, auch wenn er von Klein Zack
spricht. Diese Stelle ist die Nahtstelle zu den drei folgenden Akten. Die Leidenschaft zu Stella wird in den drei Akten ausgefaltet. Doch ich greife vor. Die Studenten dringen nun aber in ihn, die Liebesgeschichten zu erzählen. Hoffmann willigt ein und wir befinden uns nun in „Hoffmanns Erzählungen“.
Erster Akt: „Le nom de la première était Olympia“. Hoffmann ist eingeladen bei
dem Physiker Spalanzani. Spalanzani hat eine reizende Tochter, die er heute
Abend in die Gesellschaft einführen will. Aber die Tochter Olympia ist eine mechanische Puppe, eine Automate, ein lebloses physikalisches Kunstwerk. Hoffmann
verliebt sich augenblicklich in sie, ohne zu merken, dass er einen Roboter liebt.
Die Täuschung wird noch erhöht durch Coppelius, der erscheint und den Leuten
Brillen verkauft, die alles in wunderbarem Lichte erscheinen lassen. Coppelius (es
ist wieder der dämonische Lindorf und wird auch von der gleichen Person gesungen) hat für Olympia die Augen hergestellt, ist aber von Spalanzani – wie er meint
– übers Ohr gehauen worden. Olympia entzückt alle mit einer Koloraturarie, die
aber trotz der schönen Melodie mechanisch klingt. Zudem muss Olympia zweimal
während des Gesangs mit einem Schlüssel wieder aufgezogen werden. Hoffmann
merkt von alledem nichts. Er ist selig verliebt in Olympia und macht ihr beim Tanz
einen stürmischen Antrag, den diese aber nur mit isolierten, mechanischen „Ja“
beantwortet. Etwas anderes kann sie nicht sagen. Trotzdem ist Hoffmann im siebten Himmel. Der Streit zwischen Spalanzani und Coppelius eskaliert und Coppelius
zerschlägt die Puppe. Hoffmann fällt in Ohnmacht, als er inne wird, eine Puppe
geliebt zu haben.
Im zweiten Akt befinden wir uns in Venedig. Es erklingt die berühmte Barcarole,
die Sie alle sofort erkennen werden. Die „Barcarole aus Hoffmanns Erzählungen“,
wie sie heisst. Dabei stammt sie gar nicht aus Hoffmanns Erzählungen sondern
aus einer anderen Oper Offenbachs, die keinen grossen Erfolg gehabt hat. Wir
befinden uns also in Venedig, da spielt die zweite unglückliche Liebesgeschichte
Hoffmanns. Er hat sich unsterblich in Giulietta verliebt, eine venezianische Kurtisane, ohne zu ahnen, dass sie ein Werkzeug des Teufels ist. Sie kann in ihrem
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Zauberspiegel nicht nur das Bild ihrer Geliebten – sie hat offenbar mehrere – einfangen, sondern sie nimmt mit dem Bild zugleich auch deren Seele in Gefangenschaft. Die Seelen händigt sie dann dem Teufel aus, hier dargestellt von Dappertutto, wieder dem Dämon Lindorf und Coppelius. Hoffmann dringt unter allerlei
Verwicklungen in die Gemächer der Giulietta ein und ersticht dort einen anderen
Liebhaber – Schlemihl, während Giulietta mit einem weiteren Verehrer zu der leise
verklingenden Barcarole in die Lagune hinausfährt. Hoffmann und Niklaus fliehen
vor der Polizei aus Venedig.
Die dritte Geliebte Hoffmanns ist Antonia aus Hoffmanns wunderbarer Novelle „Rat
Crespel“. Antonia ist die Tochter des Rats Crespel; sie hat von ihrer verstorbenen
Mutter nicht nur eine glockenreine Sopranstimme geerbt, sondern auch die
Schwindsucht. Der Vater verbietet ihr zu singen, da die Leidenschaft für die Musik
sie jedes Mal an den Rand des Todes bringt. Auch von Hoffmann hat er sie getrennt, weil Antonias Liebe zum Dichter in ihr immer die Begeisterung zur Musik
weckt. Er verbietet also Hoffmann das Haus, was diesen aber, der von der Krankheit Antonias nichts weiss, nicht kümmert. Als Crespel ausser Hauses ist, musiziert
Hoffmann mit Antonia, wird aber von einem fürchterlichen Hustenanfall des Mädchen aufgeschreckt und will Näheres wissen. Crespel kommt zurück, gleichzeitig
mit ihm aber auch der Doktor Mirakel – wieder die dämonische Figur – der auch
schon Antonias Mutter zu Tode kuriert hatte. Hoffmann versteckt sich und wird
nun Zeuge, wie der Dämon Mirakel Antonia „behandelt“ und zum Singen auffordert, obwohl sie gar nicht im Zimmer anwesend ist. Crespel gelingt es, Mirakel
hinauszuwerfen, aber er kehrt durch die Wand zurück und drängt Crespel seine
Medikamente auf. Endlich - mit letzter Kraft – entfernt Crespel Mirakel, und Hoffmann stürzt aus seinem Versteck hervor und fleht nun auch seinerseits Antonia
an, nie mehr zu singen. Da erscheint Mirakel aufs Neue und verhöhnt Antonia, die
einer Liebe wegen auf die Musik verzichten wolle. Er beschwört die tote Mutter,
die nun Antonia auch auffordert zu singen. Antonia kann nicht mehr widerstehen,
sie singt, von Mirakel begleitet, bis sie sterbend zusammenbricht. Crespel vermutet in Hoffmann den Schuldigen, erkennt aber, dass der Dämon Mirakel Antonia
getötet hat, als dieser erscheint und kalt den Tod des Mädchens feststellt.
Das sind die drei Liebesgeschichten Hoffmanns, es folgt der Epilog. Alle Studenten
haben ihm gebannt gelauscht, draussen dämmert es bereits. Hoffmann ist erschöpft und betrunken. Lindorf beobachtet von weitem die Szene, er ist es, der als
Coppelius, als Dappertutto und als Mirakel das Liebesglück Hoffmanns immer wieder zerstört hat. Da kommt Stella, die Oper ist fertig, sie erblickt den schwer betrunkenen Hoffmann, und entfernt sich am Arm Lindorfs. Mit fröhlichem Gesang
zechen die Studenten weiter, Hoffmann bleibt nur die Muse, die einzige Frau, die
ihn nicht enttäuscht hat.
Was ist das Thema dieser Oper? Warum gehört sie heute zum Repertoire alles
grossen Bühnen? Ist es wegen der schmissigen Musik? Gewiss auch, darauf
komme ich noch. Oder geht die Frage doch tiefer? „Hoffmanns Erzählungen“ waren
ja bereits als Schauspiel von Carré und Barbier sehr erfolgreich, also kann es nicht
allein an der Musik liegen. Es muss in dieser Handlung etwas sein, das uns Zuschauer in Bann schlägt.
E.T.A. Hoffmann ist die Hauptfigur dieser Oper. Er ist aber nicht nur Erzähler seiner
Liebesgeschichten, er ist zugleich der Gegenstand der Erzählung. Es ist eine Oper
über E.T.A. Hoffmann, die aber gleichzeitig von ihm selbst erzählt wird. Psychoanalytisch ausgedrückt: Hoffmann ist der Analytiker und der Analysand gleichzeitig. Er spricht von sich und über sich, er analysiert sich selbst – Arzt und Patient
in einer Person, gleichsam. Die Oper spielt damit immer auf zwei Ebenen, wir Zuschauer haben einen zweifachen Blick auf diesen Dichter Hoffmann: einerseits se-
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hen und hören wir von seinen Liebensabenteuern, sehen ihn also von aussen, andererseits, und immer gleichzeitig, erleben wir einen gleichsam psychoanalytischen Prozess. Hoffmann wird inne, was diese Liebesabenteuer für ihn als Künstler
bedeuten. Diese Zweiheit, diese beiden Ebenen, machen den Reiz des Schauspiels,
mehr noch den Reiz der Oper aus. Das ist komplex, ich versuche zu erklären:
Bereits im Prolog wird die Dualität der Sichtweisen offenbar. Hoffmann singt vom
Zwerg Klein Zack, es ist Hoffmann der Dichter, der Erzähler, der spricht. Im Mittelteil des Liedes ändert sich plötzlich der Standpunkt. Hoffmann verbindet das
Aussehen des Zwerges plötzlich mit der Geliebten Stella. Bei den Worten: „Quand
au traits de sa figure“ wechselt er vom Erzähler einer Geschichte zum Analytiker
seiner selbst, bezieht die Geschichte auf sich und seine Liebe zu Stella. Damit wird
der Prolog mit den folgenden Akten verklammert. Es sind drei Liebesgeschichten,
aber es sind eben auch drei tiefe Blicke auf die Psyche Hoffmanns und auf sein
Schicksal als Dichter. Denn auch die drei Geschichten hängen eng zusammen und
sind ihrerseits verklammert und zwar durch zwei Figuren: Durch Stella und Lindorf.
Stella tritt zwar nur am Schluss auf, als stumme Rolle, aber sie ist in Hoffmann
dauernd präsent. Hoffmann erzählt eine Liebesgeschichte, aber auf der anderen
Ebene projiziert er das erzählte Liebesabenteuer auf seine Stella. So erscheint ihm
Stella im ersten Akt als Puppe, als mechanisches Wunderwerk. Sie verstehen, was
es heisst, wenn ein liebender Mann seine Geliebte als Puppe, als Automaten oder
Roboter wahrnimmt und versteht. Im zweiten Akt erlebt Hoffmann Stella als Kurtisane, die mit dem Teufel im Bunde steht und seine Seele Satan übergibt. Auch
da ist die Bedeutung nicht schwer zu erkennen. Er erlebt Stella eifersüchtig als
Kurtisane mit vielen Liebhabern und teuflischen Beziehungen. Erst im dritten Akt
erlebt Hoffmann dann Stella als die grosse Künstlerin, als die grosse Sängerin, die
bereit ist, ihr Leben für die Musik hinzugeben. Auch das ist klar – von Stella als
Sängerin geht die ganze Faszination aus, der Hoffmann unrettbar verfallen ist.
Puppe, Kurtisane, Künstlerin – drei Erzählungen von drei Frauen, aber zugleich
auch drei Facetten der Seele Hoffmanns. Offenbach hatte vorgesehen, dass Olympia, Giulietta und Antonia von der gleichen Sopranistin gesungen werden sollte,
um eben diese innere Ebene klar zu machen. Die Anforderungen sind aber meist
für eine Sängerin allein zu hoch, sodass drei Sopranistinnen sich in die drei Rollen
teilen. Miteinander verbunden werden die drei Akte aber auch noch durch andere
Figuren. Lindorf, Coppelius, Dappertutto und Doktor Mirakel. Diese vier Figuren
werden in der Regel immer vom gleichen Sänger bestritten. Lindorf ist in der Rahmenhandlung, also im Prolog und im Epilog, der grosse Gegenspieler Hoffmanns.
Stella versucht ja, die Beziehung zu Hoffmann wieder anzuknüpfen, indem sie ihren Diener beauftragt, Hoffmann einen Brief und den Schlüssel zu ihren Gemächern zu bringen. Lindorf jedoch kauft dem Diener den Schlüssel ab. Als im Epilog
Stella endlich kommt, findet sie Hoffmann sinnlos betrunken vor, und sie verlässt
am Arm Lindorfs die Szene. Lindorf zerstört damit alle Hoffnungen Hoffmanns.
Dies aber nicht nur im Prolog und im Epilog. Immer ist es der Dämon Lindorf, der
in verschiedener Gestalt als Dämon eingreift und alles Liebesglück zerstört. Als
Coppelius zerstört er die Illusion Hoffmanns, Olympia liebe ihn, zuletzt zerstört er
sogar die Puppe selbst. Als Dappertutto bemächtigt sich Lindorf der Seele Hoffmanns und nur die Flucht aus Venedig kann ihn retten. Als Doktor Mirakel tötet er
berechnend und bewusst Antonia. Lindorf ist der grosse Gegenspieler Hoffmanns,
er verhindert seine Beziehung zu Stella in allen Gestalten. Dass er am Schluss
auch Antonia tötet, könnte ein Hinweis sein, wie „Hoffmanns Erzählungen“ wirklich
zu verstehen sind: Doktor Mirakel verhöhnt Antonia, als er sie zum Singen zwingt.
Er sagt ihr, dass sie das Leben höher stelle als die Kunst, er fragt sie, ob sie denn
ihr Leben als Hausfrau zubringen wolle, ob sie ihr wunderbares Talent verkümmern
lassen wolle. Das gilt auch für Hoffmann. Am Schluss im Epilog erscheint die Muse
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der Dichtkunst und Hoffmann wird klar, dass er sein dichterisches Talent nicht an
Liebesabenteuer verschwenden darf. Die Muse ist die einzige Frau, die ihm treu
war und ist. Dies muss er jetzt akzeptieren und die Dichtkunst höher stellen als
seine Sehnsucht nach irdischer Liebe. Das ist wohl Sinn und Thema der Oper. Leider wird die Figur der Muse oft weggelassen. Das ist schade, denn damit geht
dieser Aspekt der Oper verloren und wir sehen Hoffmann am Schluss nur als den
bemitleidenswerten Trinker, der unglücklich liebt.
Wenden wir uns zum Schluss noch der Musik und der Komposition zu. Auch hier
müssen wir zuerst einige Worte verlieren zu Jacques Offenbach. Rossini nannte
Offenbach „notre petit Mozart des Champs-Elisées“. Diese liebevolle Bezeichnung
sagt sehr viel aus über den Komponisten Jacques Offenbach. Der Vergleich mit
Mozart ist zweifellos eine Huldigung an Offenbachs musikalisches Genie. Aber er
ist ein Mozart der Champs-Elisées, also gleichsam ein Unterhaltungs-Mozart. Und
das charakteriusiert Offenbach treffend: ein musikalisches Genie der Unterhaltung.
Offenbach selbst hat sich sein ganzes Komponistenleben so gesehen. Erst ganz am
Schluss seines Lebens hat er es mit den „Contes de Hoffmann“ gewagt, sich der
grossen Oper zuzuwenden, ohne sich aber als der grosse und geniale Unterhaltung-Komponist zu verleugnen.
Offenbach wurde in Köln geboren und hiess gar nicht Offenbach, sondern nannte
sich so nach der Ortschaft Offenbach in der Nähe von Köln. Er war zuerst Cellist
im Orchester der „Opéra comique“ in Paris, dann Kapellmeister. Bald trat er als
Bühnenkomponist auf und gründete 1855 mit den „Bouffes parisiens“ sein eigenes
Theater.
Ich verschone Sie, meine Damen und Herren, hier mit der komplexen Operngeschichte der französischen Oper, mit den Unterschieden zwischen der „Opéra comique“ und der „Opéra bouffe“. Vieles davon ist zeitgebunden und spielt heute
keine grosse Rolle mehr. Ich glaube, wir treten Jacques Offenbach nicht zu nahe,
wenn wir ihn hier als „Operettenkomponisten“ bezeichnen. Er hat über einhundert
Operetten komponiert, die berühmtesten sind „Orphée aux enferns“ (Orpheus in
der Unterwelt), „la belle Hélène“, die „Grossherzogin von Gérolstein“ und das „vie
parisienne“. Eine Operette hiess „Bataclan“, ein Name der im letzten November
eine traurige und schreckliche Berühmtheit erlangt hat.
Offenbach war ein genialer Parodist und Satiriker. Alle seine Operetten nehmen
die Gesellschaft seiner Zeit aufs Korn. Alles Groteske, das die Oper und die Operette kennen, stammt letztlich von ihm!. Vielleicht haben Sie vor nicht allzu langer
Zeit hier im Haus die Aufführung von „Orpheus in der Unterwelt“ gesehen. Diese
Operette war ein Grosserfolg und ist es heute noch. In ihr zeigt sich das parodistische Talent Offenbachs. Jupiter und seine olympische Götterwelt werden dargestellt als faule und vergnügungssüchtige Gesellschaft, die vor allem an Liebschaften interessiert ist. Orpheus ist seiner Gattin überdrüssig und muss regelrecht gezwungen werden, sie aus der Unterwelt zurückzuholen. Es ist aber, und darum
erzähle ich es Ihnen, natürlich nicht nur eine Parodie auf die griechische Mythologie. Für den zeitgenössischen Zuschauer war es klar, dass mit Jupiter Napoleon
III. gemeint war und mit den Göttern sein Hof. Genial ist es dann, den antiken
Chor, der in der griechischen Tragödie für die Katharsis, die Läuterung des Zuschauers zuständig war, durch die „Öffentliche Meinung“ zu ersetzen. Offenbach
war zudem auch der Erfinder der Untertitel. In einer seiner Operetten liess er riesige Papierstreifen über die Bühne tragen, auf denen stand, was man zu denken
habe.
Dieser kleine biografische Ausflug ist für die Komposition und die Musik von „Hoffmanns Erzählungen“ wichtig. Offenbachs Musik ist immer auf die Inszenierung bedacht, die Musik ist dazu da, die Parodie zu unterstützen oder hörbar zu machen.
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Offenbach ist niemals ein Sinfoniker, er schrieb nie Sonaten, keine Instrumentalmusik. Seine geniale Musik ist Theatermusik, es ist Unterhaltungsmusik im besten
Sinne des Wortes. Deshalb treten bei Offenbach Fragen der Opernform, der Opernentwicklung völlig in den Hintergrund. Das interessierte ihn wohl einfach nicht.
Seine genialen melodischen und rhythmischen Einfälle stehen immer im Dienste
des Dramas und der Satire.
Das gilt nun auch für den heutigen Abend und für „Hoffmanns Erzählungen“. Die
Oper ist eine schlichte Nummernoper, die musikalischen Nummern folgen einander, verbunden durch Rezitative, von denen man aber nicht weiss, wie Offenbach
sie eigentlich ausgestaltet haben wolle, ob als gesprochene Dialoge oder mit Orchesterbegleitung. Da es keine endgültige Form gibt, kommt auf den Bühnen beides vor. Es sind Lieder und Couplets, einfache musikalische Formen; aber nur
äusserlich. Bei genauerem Hinhören zeigt sich in der einfachen Form eine Überhöhung, die ausserordentlich ist. Ich will Ihnen ein paar Beispiele geben.
Im Olympia–Akt kündet Spalanzani an, dass die Puppe eine grosse Arie singen
werde. Schon das ist Parodie, nämlich auf die Arie. Puppen singen keine Arien, sie
haben kein Gefühl. Olympia singt denn auch eher ein Liedchen als eine Arie. Aber
Offenbar reichert, parodistisch dieses Liedchen an mit schwierigsten Koloraturen.
Und dass man die Puppe während ihres Gesanges zwei Mal wieder aufziehen muss,
ist auch ein parodistischer Abgesang auf die Grosse Oper. Sie sehen, wie genial
das gemacht ist. Einerseits ist der Gesang der Puppe Olympia Teil einer Geschichte,
gleichzeitig und andererseits aber ist er auch Parodie auf die Grosse Oper mit ihren
Arien. Da haben Sie Offenbach ganz. Ein zweites, vielleicht noch Erstaunlicheres
ist der Musik Offenbachs eigen. Er schafft es, der ganz einfachen, fast simplen
Melodie eine fast verstörende Tiefe zu geben. Sie hören das in dem berühmtesten
Stück der Oper, in der Barkarole. Eine wunderbare, einfache, eingängige Musik,
der man sich sofort sehr nahe fühlt, in ihr aufgehoben wird. Aber nicht von Anfang
an. Die Barkarole hat eine instrumentale Einleitung, die alles andere als Geborgenheit vermittelt. Die wunderschöne Barkarolen-Melodie wird entrückt und wir
Zuhörer spüren, dass dem Wohllaut nicht zu trauen ist, dass sich hinter der simplen Melodie eine andere Melodie auftut, die ins Bodenlose führt. Die vier Dämonen,
Lindorf, Coppelius, Dappertutto und Doktor Mirakel, haben alle einfache Melodien,
aber niemand, der sie singen hört, zweifelt einen Moment an ihrer Boshaftigkeit.
Ich freue mich sehr, dass „Hoffmanns Erzählungen“ als letzte grosse Oper im alten
Haus in Langenthal gespielt werden. Es ist eine grossartige Oper, eine Oper, die in
der Musikgeschichte in vielem weit vorausgreift. Der Umstand, dass es keine fertige Form gibt, hat sich in den letzten hundert Jahren eher als Vorteil erwiesen.
Denn dies hat Bearbeiter, Theaterdirektoren, Verleger und Regisseure beflügelt,
hat ihnen Möglichkeiten der Interpretation gegeben, die sie in anderen Opern nicht
hatten.
Ich habe Ihnen gesagt, dass das Konzertlokal in Paris, in dem bei dem Terroranschlag in Paris viele Menschen ihr Leben lassen mussten, durch seinen Namen mit
Offenbach in Verbindung steht. Eine seiner Operetten hiess Bataclan. Auch mit der
Oper „Hoffmanns Erzählungen“ ist etwas Schreckliches verbunden, das diese Oper
für mehr als zwanzig Jahre von den Spielplänen verschwinden liess. Bei der zweiten Aufführung 1881 in Wien brannte das Ringtheater nieder, eine Stichflamme
soll gleich nach dem Beginn in den Zuschauerraum geschossen sein, mehrere hundert Menschen verloren ihr Leben. Erst im Jahre 1905 wagte man in Berlin wieder
eine Aufführung, und von dort ging der Siegeszug dieser Oper um die Welt. Ich
will hier nicht zum Schluss den Aberglauben schüren. Aber stellen wir doch einfach
fest, dass die Parodie, die leichte Muse, die Komödie immer dem Tragischen Nahe
ist. Das ist auch heute Abend so.
18. März 2016