BILDER, DIE MAN NIE VERGISST

OKTOBER 2005 ARTE TV PROGRAMM
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21.09.2005
17:15 Uhr
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M A G A Z IN
BILDER, DIE MAN
NIE VERGISST
CHRISTIANE PAUL
Die Schauspielerin über ihre schwierigste Rolle.
ARTE zeigt das Dokudrama „Die Nacht der großen
Flut“ am 28. Oktober in Erstausstrahlung
EUROPA
Briten, Deutsche, Polen,
Franzosen und Spanier –
jeder hat „seine“ EU.
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FILM
MAN WIRD DIE
BILDER NICHT LOS
Zwei Frauen. 31 und 75, aus Berlin und aus Hamburg.
Die eine ist eine bemerkenswerte Schauspielerin, die andere war
1962 Opfer der Hamburger Flut. Im Dokudrama „Die Nacht der
großen Flut“ spielt die eine die andere. Das ARTE Magazin sprach
mit Christiane Paul und Gerda Brandt über Grenzerfahrungen.
FOTO: JOACHIM GERN
Als 1962 in Hamburg die Deiche brachen, kam es zur
Katastrophe. Raymond Leys berührendes Dokudrama
„Die Nacht der großen Flut“ erzählt von individuellen
Schicksalen. Christiane Paul verkörpert im Film die junge Gerda Brandt – ihre bisher schwierigste Rolle, sagt sie.
ARTE: Frau Paul, was haben Sie gedacht, als Sie Anfang
September die Bilder der Hurrikan-Katastrophe in den
USA sahen?
Christiane Paul: Die Situation in New Orleans ist in
gewisser Weise vergleichbar mit der Hamburger Flut
von 1962 – natürlich in ganz anderen Ausmaßen. New
Orleans liegt zu großen Teilen unter dem Meeresspiegel
und ist einfach vollgelaufen, wie eine Schüssel. So wie
die Behelfsheimsiedlung, in der die Brandts wohnten.
ARTE: In Raymond Leys Dokudrama „Die Nacht der
großen Flut“ spielen Sie die 31-jährige Gerda Brandt.
Wie ist es Ihnen gelungen, sich Ihrer Rolle zu nähern?
Christiane Paul: Ich habe mir die Interviews angeschaut,
die der Regisseur mit den Zeitzeugen geführt hat, habe
einiges über die Sturmflut gelesen, mir Fotos und auch
eine Dokumentation angesehen. Und ich habe mich
mit Bildern aus dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, um
zu begreifen, was jemand wie Gerda Brandt eigentlich
erlebt hat. Schließlich habe ich sie persönlich getroffen.
Insgesamt war es eine sehr umfangreiche Vorbereitung.
ARTE: Was hat Sie an Gerda Brandt beeindruckt?
Christiane Paul: Dass sie sich trotz aller Schicksalsschläge etwas sehr Positives und Lebensbejahendes erhalten
hat. Obwohl sie den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, war
es die Flut, die sie traumatisiert hat. Ihr Mann wurde danach schwer krank, sie hat ihn lange gepflegt, und dann
ist auch noch ihr Sohn sehr jung verstorben. Trotzdem
ist sie ein sehr positiver, warmer und offener Mensch geblieben, noch immer mit einem gewissen Schalk.
f
ARTE INTERVIEW
CHRISTIANE PAUL, geb. 1974
in Berlin, hatte ihre erste Hauptrolle 1991 in „Deutschfieber“.
Sie spielte u.a. in: „Im Schwitzkasten“ (2004), „Väter“ (2001),
„Im Juli“ (1999), „Knockin’
on Heaven’s Door“ (1996),
„Das Leben ist eine Baustelle“
(1995) und erhielt u.a. die
Goldene Kamera und den Bayerischen Filmpreis.
ARTE FILM
DIE NACHT
DER GROSSEN FLUT
Freitag · 28. Oktober · 20.40
ARTE-Programm: S. 67
10/2005 ARTE
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17:42 Uhr
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Erinnerungen an den Krieg: Gerda Brandt
(Christiane Paul) will sich nicht registrieren lassen
In Todesangst: Gerda
Brandt (Christiane Paul), ihr
Mann Heinrich (Arndt
Schwering-Sohnrey) und
Sohn Fred (Willi Gerk)
Gerda Brandt (Christiane Paul, re.) und die Schneiderin Anita
Sahm (Hannah Schröder, li.) freuen sich auf den Sommer
Der Werftarbeiter Horst
Sahm (Florian Lukas, re.)
steht vor den Trümmern
seines Hauses. Er verlor
seine Frau Anita und seine
Kinder in der Flut
10
ARTE 10/2005
ARTE: „Die Nacht der großen Flut“ war Ihr erstes
Dokudrama. Zeitzeugenberichte und Spielszenen wechseln sich ab – ein umstrittenes Genre. Wie stehen Sie zu
dieser Art, Geschichte zu inszenieren?
Christiane Paul: Eigentlich interessiert mich Fiktion
mehr, und wenn es um historische Fakten geht, sehe ich
mir eher eine Dokumentation an. Aber unser Film hat
es geschafft, mich in seinen Bann zu ziehen und mich
für das Genre Dokudrama zu begeistern. Vor allem die
Zeitzeugen haben mich berührt. Hier berichten Menschen sehr eindrucksvoll vor der Kamera, was ihnen damals widerfahren ist. Und durch die Spielszenen wird
das Erzählte lebendig. So kann das Dokudrama eine
Möglichkeit sein, auf spannende Weise Zeitgeschichte
zu vermitteln.
ARTE: Hat sich Ihre Arbeit als Schauspielerin in dem
Dokudrama von Ihrer Arbeit in einem rein fiktionalen
Film unterschieden?
Christiane Paul: Ganz pragmatisch gesehen, hat man im
Vergleich zum konventionellen Film weniger Drehtage.
Aber dann war da meine Angst: Wie gehe ich mit einer
Figur um, die wirklich existiert? So habe ich mich zunächst intensiv mit Frau Brandt beschäftigt, habe versucht, herauszufinden, was für ein Mensch sie ist. Gerda Brandt hatte eine ungeheure Lebensfreude! Sie war
mit ihrem Mann auch mal einen trinken, dann haben
sie die Nacht durchgefeiert. Anfang der 60er Jahre hatten sie sich in materieller Hinsicht gerade wieder berappelt. Gerda hatte einen angesehenen Job in einer kleinen Fabrik, sie war eine, die gesagt hat, wo’s lang geht.
Sie konnte sehr willensstark und energisch sein. Aber
letztlich ist die Filmfigur meine Interpretation von Gerda Brandt. Um meine eigene Figur zu spielen, musste
ich mich von der realen Person wieder trennen. Meine
bisher schwierigste Rolle.
ARTE: Welche Szenen fielen Ihnen besonders schwer?
Christiane Paul: Die Szene auf dem Dach – als sich Gerda Brandt für das Leben ihres älteren Jungen und gegen
ihre acht Monate alte Tochter entscheidet –, aber auch
das Wiedersehen mit ihrem Mann bei den Sanitätern
nach der Rettung. Diese Szenen waren sehr schwierig,
da ging es um existenzielle Entscheidungen in einer
lebensbedrohlichen Situation – wie spielt man das?
ARTE: Gerda Brandt entscheidet geradezu strategisch,
wer überleben soll. Sie sind selbst Mutter einer dreijährigen Tochter, können Sie ihr Handeln verstehen?
Christiane Paul: Das ist schwierig, ich war nie in einer
vergleichbaren Situation. Aber ich denke, dass man in
so einem Moment intuitiv handelt und auch das Richtige tut. Ich glaube, Gerda Brandt hat richtig gehandelt.
Mit ihrer Klarheit hat sie letztlich ihre Familie durchgebracht. b DAS GESPRÄCH FÜHRTE MAIKE VAN SCHWAMEN
FOTOS: CINECENTRUM / ROMANO RUHNAU (4)
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