Wo die Zeit langsamer vergeht

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Region
Bieler Tagblatt Montag, 07.12.2015
Nachgefragt
«Aarberg hatte
seine Chance»
Astrid Müller
Inhaberin Hotel
Krone Aarberg
Astrid Müller beherbergt seit
August Flüchtlinge in ihrem
Hotel. Die Menschen seien ihr
ans Herz gewachsen. Sie
wünscht sich, dass auch andere
Menschen mehr Offenheit an
den Tag legen.
Eine syrische
Flüchtlingsfamilie beim Mittagessen im
Hotel Krone.
Bilder: Matthias
Käser
Wo die Zeit langsamer vergeht
Aarberg Das Hotel Krone in Aarberg dient als Notunterkunft für Flüchtlinge. Die Familien und jungen Männer
stammen aus Ländern wie Syrien und Afghanistan. Eine Reportage von einem Ort der Hoffnung – und der Langeweile.
Carmen Stalder
Mohmnad schaut zum Fenster hinaus. Draussen ist es kalt und
grau, doch das stört den Afghanen
nicht. Alles was für ihn zählt, ist,
dass er es geschafft hat, dass er die
sichere Schweiz erreicht hat. Der
25-Jährige sitzt auf einem gelben
Sofa im Eingangsbereich des Hotels Krone in Aarberg. Wie aktuell
über 40 andere Flüchtlinge ist er
hier vorübergehend einquartiert
worden, weil im Durchgangszentrum in Büren Platznot herrscht
(das BT berichtete).
Mohmnad, der nur seinen Vornamen nennen möchte, hat eine
lange Reise hinter sich. In Afghanistan herrscht Krieg, seine Familie wurde von den Taliban bedroht. Als einzigen Ausweg sah
Mohmnad die Flucht. Die anstrengende Reise führte den
Flüchtling über die Balkanroute
bis in die Schweiz. Um die 5000
Dollar musste er für die Transporte und Schlepper bezahlen.
Grosser Lernwille
Nun ist Mohmnad in Aarberg gelandet. Geld hat er keines mehr.
Für ihn heisst es nun, zu warten.
Als Asylsuchender hängt bei ihm
alles davon ab, ob sein Gesuch für
eine Aufenthaltsbewilligung gutgeheissen wird. «Ich möchte unbedingt hierbleiben», sagt Mohmnad, «um Deutsch zu lernen und
an einer Universität zu studieren.» In seiner Heimat hat er Politikwissenschaft studiert.
Doch vorerst bestehen seine
Tage daraus, die Zeit totzuschlagen. Um 9 Uhr morgens gibt es im
Hotel Krone Frühstück. Danach
verbringt Mohmnad den Morgen
mit Fernsehen. Am liebsten schaltet er den amerikanischen Nachrichtensender CNN ein. Um 12
Uhr gibt es Mittagessen: Salat,
Reis und Gemüse, dazu Wasser.
Die Portionen sind klein. «Manchmal haben wir eine Stunde nach
dem Essen wieder Hunger», sagt
der 18-jährige Safiullah Asefi.
Da es im Hotel keine Kochgelegenheit für die Flüchtlinge gibt,
bekommen sie die drei täglichen
Mahlzeiten vom Hotelpersonal
serviert. Das findet Mohmnad
nicht so toll: «Wir würden lieber
selbst kochen.» Wohl auch, um
immerhin eine kleine Beschäftigung zu haben. «Es geht uns gut
hier im Hotel. Aber wir haben
nichts zu tun.»
In der urchigen Gaststube des
Hotels Krone treffen derweil die
«normalen» Gäste auf die Flüchtlinge. «Wir finden es gut, dass
diese Menschen hier aufgenommen worden sind», sagen drei
junge Frauen, die hier Mittagessen. Man merke in Aarberg fast
nichts von ihnen, da sie das Hotel
nicht oft verlassen würden.
Viele Fragen
Für Mohmnad geht am Nachmittag das Warten weiter. Manchmal
geht er nach draussen, um durch
das Dorf zu spazieren oder kleine
Einkäufe zu erledigen. Pro Woche
erhält Mohmnad 21 Franken. «Die
gebe ich für Zigaretten aus», sagt
er. Ansonsten sitzen die Flüchtlinge in kleinen Gruppen zusammen, auf den Stühlen vor ihren
Mehrbettzimmern oder auf dem
gelben Sofa im Eingangsbereich.
Das Zimmer von Mohmnad ist
spärlich möbliert. Drei Betten, ein
Tisch mit einem alten Fernseher,
gelbe Vorhänge. An der Wand
hängen schwarz-weisse Fotogra-
fien aus den USA, persönliche
Gegenstände sind kaum zu sehen.
Das Meiste habe er auf der Flucht
verloren, erklärt er.
Abwechslung in den Alltag
bringen die Besuche aus dem
Durchgangszentrum in Büren,
das von Asyl Biel und Region
(ABR) betrieben wird. Zwei Mal
pro Woche besucht ABR-Mitarbeiterin Corinne Schollenberger die Asylsuchenden. Sie beantwortet in einem kleinen Abstellraum alle anstehenden Fragen,
überprüft die Präsenzliste, verteilt das wöchentliche Taschengeld und vereinbart Arzttermine.
«Im Moment gibt es viele medizinische Anfragen», sagt Schollenberger. Von Zahnschmerzen über
Husten bis zu nicht verheilenden
Narben werden in der Sprechstunde verschiedenste Probleme
angesprochen. Besonders die kleinen Kinder sind momentan erkältet, weil sie das winterliche Wetter
nicht gewohnt sind. «Die Menschen möchten immer sofort zum
Arzt», sagt Schollenberger. «Wir
müssen ihre Anliegen ernst nehmen, vermitteln aber auch, dass
sie beispielsweise eine Erkältung
selbst kurieren können.»
Unterstützung erhält Corinne
Schollenberger vom Syrer Karwan Merey. Er ist selbst Asylsuchender und hilft den Mitarbeitenden des Durchgangszentrums
Büren beim Übersetzen. Merey
ist stolz darauf, vier Sprachen zu
sprechen: Kurdisch, Arabisch,
Englisch und Russisch. Die
Flüchtlinge sind froh, wenn die
ihnen vertrauten Ansprechspersonen vorbeikommen.
Schwere Flucht
Die Atmosphäre im zweiten Stock,
wo die Flüchtlinge untergebracht
sind, ist ungezwungen. Kleine
Kinder rennen umher, aus einem
Handy erklingt Musik. Die Menschen stammen vornehmlich aus
Syrien, Afghanistan und dem Irak,
sie sprechen Farsi, Arabisch und
Kurdisch. Sie alle setzen grosse
Hoffnungen in die Schweiz. Sie
möchten gerne Deutsch lernen,
eine Arbeit finden und ein neues
Leben beginnen.
So auch Hefa Heso. Zusammen
mit ihrem Mann kommt die Syrerin in den provisorisch eingerichteten Besprechungsraum. Sie ist
im siebten Monat schwanger und
macht sich Sorgen um die Entbindung. Sie werde nächste Woche
zur Untersuchung gehen können,
verspricht Schollenberger.
Später erzählt Hefa Heso die
Geschichte ihrer Flucht. Sie sei
vor 20 Tagen in der Schweiz angekommen, sagt die 27-Jährige auf
Arabisch. Hinter ihr liege eine gefährliche Reise. «Im Dunkeln sind
wir über die Grenze von Syrien
Flüchtlinge im Hotel
• Das Hotel Krone in Aarberg beherbergt seit August Flüchtlinge.
• Die Betreuung der Asylsuchenden liegt beim Durchgangszentrum Büren.
• Es wohnen hier vornehmlich
Familien mit kleinen Kindern, die
besonders schutzbedürftig sind.
• Die Inhaberfamilie erhält vom
Kanton reduzierte Zimmerpreise
vergütet. Dies unter anderem,
weil die Flüchtlinge ihre Zimmer
selbst reinigen müssen.
• Beim Aufenthalt im Hotel Krone
handelt es sich um eine temporäre Notunterkunft. cst
Mohmnad in dem Zimmer, das er sich mit zwei anderen jungen
Männern aus Afghanistan teilt.
zur Türkei geflüchtet», sagt sie
und streicht sich über den dicken
Bauch. Danach sei es mit einem
Schlauchboot von der Türkei
nach Griechenland gegangen.
Auf der anschliessenden Strecke Richtung Norden musste die
Familie mit zwei kleinen Kindern
immer wieder lange Fussmärsche
bewältigen. «Ich und meine Kinder wurden krank. Wir konnten
kaum schlafen und mussten vor
jedem Grenzübetritt lange warten», erzählt die Syrerin. Für sie
als Schwangere sei die Flucht sehr
hart gewesen. «Unser Weg war
sehr gefährlich. Aber das Leben in
Syrien ist noch viel gefährlicher.»
Frieden statt Krieg
Das Miterleben des Krieges in Syrien sei schrecklich gewesen. «Ich
habe viele Menschen sterben sehen», sagt Heso. Ihre Kinder sollten nicht an einem solchen Ort
aufwachsen. So habe sie die Suche
nach Frieden und Sicherheit in
die Schweiz gebracht. Im Hotel
Krone gefalle es ihr gut. Die Familie teilt sich ein Zimmer, die Platzverhältnisse sind beschränkt.
Heso hofft, bald eine feste Bleibe
zu erhalten. Noch warten aber
auch sie und ihre Familie auf die
heiss begehrte Aufenthaltsbewilligung.
Zwei syrische Mädchen spielen
im Besprechungsraum Fangnis.
Sie kichern und wuseln zwischen
den Beinen der Wartenden hindurch. Dann werden sie von ihren
Müttern zurück in die Zimmer
gerufen. Die Türen schlagen zu,
und es herrscht Ruhe.
Inzwischen ist es später Nachmittag, draussen setzt die Dämmerung ein. Auf dem Dorfplatz
glitzert die festliche Weihnachtsbeleuchtung. Er freue sich auf
sein erstes Weihnachten, sagt
Mohmnad. Dass er selbst Muslim
ist, stört ihn dabei keineswegs.
Dann verabschiedet er sich herzlich und setzt sich auf das gelbe
Sofa. Und wartet.
Weitere Bilder finden Sie auf:
bielertagblatt.ch/flüchtlinge
Astrid Müller, wieso haben Sie
bei sich im Hotel Flüchtlinge
aufgenommen?
Astrid Müller: Ich bin von Mitarbeitern des Durchgangszentrums Büren angefragt worden,
weil sie Notunterkünfte gesucht
haben. Die Zelte in Kappelen und
Lyss waren voll. Zuerst kamen
fünf Leute, jetzt sind es 42.
Entstand Ihr Engagement aus
Mitgefühl, wollten Sie sich sozial betätigen?
Das ist schon ein bisschen so. Es
ging darum, Leuten, die kein Dach
über dem Kopf haben, einen Platz
anzubieten.
Ihnen wird vorgeworfen, mit
den Flüchtlingen kalte Betten
zu füllen.
Ende Dezember wäre das Hotel
ausgebucht gewesen. Jetzt haben
wir mit einem anderen Hotelpartner geschaut, dass dieser eine Reisegruppe übernimmt, damit die
Flüchtlinge hierbleiben können.
Sie wollten nicht, dass sie gehen müssen?
Genau. Sie sind mir ans Herz gewachsen. Vor allem die Kinder
sind herrlich. Die sind schon alle
am Deutsch lernen.
Aber Sie profitieren davon,
weil sie doch sonst weniger belegte Zimmer hätten?
Es geht auf, mehr aber auch
nicht. Vielleicht hätten wir dafür
mehr Kaffeegäste. Es gibt nämlich solche, die wegen der Flüchtlinge nicht mehr kommen. Wenn
mir jemand sagt, «das stört
mich», dann könnte man darüber
diskutieren. Ausserdem hätte ja
Aarberg seine Zivilschutzanlage
aufmachen können. Aber sie haben gesagt, dass sie das nicht wollen, weil es nicht konform ist.
Aarberg hatte seine Chance, verpasste sie aber.
Wünschen Sie sich, dass auch
andere Hotels Flüchtlinge aufnehmen?
Das muss jeder für sich entscheiden. Ich will niemandem einen
Vorwurf machen, der es nicht will.
Ich sage ja auch nicht, dass ich es
richtig mache. Aber alle anderen
sollen akzeptieren, dass ich es
mache. Und ich mache wenigstens etwas. Man sollte vielleicht
etwas offener sein. Klar gibt es
solche, die mit der hohlen Hand
kommen. Aber ich habe jetzt 42
Leute, und von denen ist keiner
da, der nur profitieren will.
Wie läuft das Nebeneinander
zwischen Hotelgästen und
Flüchtlingen?
Das geht wunderbar. Wir hatten
schon Gäste, die angefangen haben, mit ihnen zu diskutieren.
Und wie sieht es mit negativen
Reaktionen aus?
Einer hat gesagt, dass er nicht auf
demselben Stockwerk wie die
Flüchtlinge schlafen möchte. Das
können wir berücksichtigen. Ich
sage ja nicht, dass es jeder akzeptieren muss.
Wie soll es hier jetzt weitergehen?
Sobald es eine Anschlusslösung
gibt, kommen die Leute aus dem
Hotel raus. Das ist allen klar.
Interview: Carmen Stalder