Möglichkeiten und Grenzen der Weiterentwicklung von DMP für

Institut für Allgemeinmedizin
Möglichkeiten und Grenzen der
Weiterentwicklung von DMP für
multimorbide Patientinnen und Patienten
Hanna Kaduszkiewicz, Martin Scherer, Hendrik van
den Bussche
Institut für Allgemeinmedizin,
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Forschungsverbund „Komorbidität und Multimorbidität
in der hausärztlichen Versorgung” (MultiCare)
Institut für Allgemeinmedizin
Was erwartet Sie?
Multimorbidität
Behandlungsleitlinien
Schritte zur Verbesserung der Versorgung von
Patienten mit MM
• Langfristige Projekte
• (Kurzfristige) Zwischenlösungen
Aspekte, die Beachtung verdienen:
• Konsultationszeit
• Arzt-Patient-Kommunikation
• Polypharmazie
Institut für Allgemeinmedizin
Multimorbidität
Epidemiologische Ergebnisse - zu Inzidenzen
oder Prävalenzen - hängen ganz wesentlich von
Datenbasis und Erhebungsmethodik ab.
Diesbezügliche Unterschiede führen zu erheblich
abweichenden Ergebnissen.
Dies ist insbesondere bei chronischen Krankheiten und noch mehr bei Multimorbidität der Fall.
Institut für Allgemeinmedizin
Die 46er Liste
Chronic
cond ICD-10-codes
i-tion
Label
1
I10-I14
Hypertension
2
E78
lipid metabolism disorders
3
M40-M45, M47-M48, M50-M54
chronic low back pain
4
H25-H26, H28, H33-H36, H40, H43, H47
H53-H54
severe vision reduction
5
M15-M19
Joint arthrosis
6
E10-E14
Diabetes mellitus (all types)
7
I20, I25
chronic ischemic heart diseases
8
E01-E05, E06.1-E06.3, E06.5, E06.9, E07
thyroid diseases
9
I44-I49
cardiac arrhythmias
10
E66
Obesity
11
E79, M10
purine/pyrimidine metabolism disorders
12
N40
prostatic hyperplasia
13
I83
lower limb varicosis
14
F10, K70, K76
alcoholic liver disease/dependence
15
F32-F33
Depression
16
J40-J47
asthma/COPD
17
N81-N90, N93-N95
noninflammatory gynaecological problems
18
I70, I73.9
atherosclerosis/PAOD
19
M80-M82
Osteoporosis
20
N18-N19
Renal insufficiency
Institut für Allgemeinmedizin
Anteil von Patienten mit Multimorbidität
-
Routinedaten der GEK, 2004
adjustiert für Alter und Geschlecht
ca. 120.000 Patienten
65+ Jahre
Multimorbidität: ≥ 3 Erkrankungen (46er Liste), in jeweils 3 Quartalen
-
-
ca. 60% Patienten mit MM
Multimorbidität: ≥ 4 Erkrankungen (46er Liste), in jeweils 3 Quartalen
-
ca. 50% Patienten mit MM
van den Bussche H, Schön G et al. Patterns of ambulatory medical care utilization… BMC
Geriatrics 2011, 11:54
Institut für Allgemeinmedizin
Zahl chronischer Krankheiten nach Alter
Institut für Allgemeinmedizin
Prävalenz und CI der 20 häufigsten CK
MC1 oben
MC2 unten
Institut für Allgemeinmedizin
Häufigkeit triadischer Kombinationen
MC 1: Aus den 45 Diagnosegruppen* lassen sich 14.190 3erKombinationen bilden. 10.426 (73,5 Prozent) kommen auch real vor.
MC 2: Aus den 46 Diagnosegruppen lassen sich 15.180 3erKombinationen bilden. 15.022 (99,0 Prozent) kommen auch real vor.
Andererseits: Die Dreierkombinationen der 6 häufigsten chronischen
Krankheiten (Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, chronischer
Rückenschmerz, Diabetes mellitus, Arthrose und KHK) decken das
Multimorbiditätsspektrum von 42% der multimorbiden Patienten ab.
* Ohne Demenz
Institut für Allgemeinmedizin
Triadische Kombinationen chron. Krankheiten (MC1)
Institut für Allgemeinmedizin
Basis eines DMP: Leitlinien
Leitlinien für Multimorbide: fehlend
Clinical Practice
Guidelines and
Quality of Care for
Older Patients with
Mulitple Comorbid
Diseases
Boyd Cynthia et al.,
JAMA 2005 294:
716-724
Institut für Allgemeinmedizin
Die Ziele der Untersuchung
Wie gehen Leitlinien mit dem
Multimorbiditätsproblem bei alten Patienten um?
Was passiert, wenn man vorliegende Leitlinien
auf eine 79jährige Frau mit 5 häufigen
Krankheiten anwendet?
Institut für Allgemeinmedizin
Material und Methoden
Konstruktion eines Fallbeispiels einer 79jährigen Frau mit
Osteoporose, Arthrose, Diabetes, Hochdruck und COPD
Recherche der korrespondierenden „relevantesten“
Leitlinien über das National Guideline Clearinghouse
Auflistung:
• Listung der Medikation pro Tag
• Gewichtung der Einnahmepatterns
• Erarbeitung eines Komplexitätsscores
• Behandlungskosten
Institut für Allgemeinmedizin
Ergebnisse der Leitlinienanalyse
Nur weinige Leitlinien thematisieren Alter und Multimorbidität
Nur weinige Leitlinien thematisieren den Grad der Evidenz der Studien
für die multimorbide Population
Die Mehrzahl der Leitlinien geben Empfehlungen im Kontext mit einer
anderen chronischen Krankheit (z.B. Diabetes und Bluthochdruck)
Nur eine Leitlinie diskutiert die Frage des Zeitbedarfs für einen
Behandlungserfolg in Relation zur Lebenserwartung
Keine Leitlinie diskutierte kurz- vs. langfristigen Nutzen einer Therapie
Nur eine Leitlinie thematisiert die therapieabhängigen Belastungen.
Institut für Allgemeinmedizin
Das Regime für die 79jährige Frau
12 verschiedene Medikamente pro Tag (19 Einnahmen an
5 Zeitpunkten pro Tag)
24 nichtpharmakologische Behandlungen und andere
Verhaltensregeln pro Tag (insbes. diätetische)
28 weitere Verhaltensregeln bezüglich Lifestyle,
Arztbesuche und Checks im Jahr
Kosten der Medikation 13 $/Tag = 4.877 $/Jahr
Institut für Allgemeinmedizin
Fazit Behandlungsleitlinien für Multimorbide
• Leitlinien sind nicht für ältere, multimorbide Patienten
gemacht
• Befolgen dieser LL kann unerwünschte, sogar
gefährliche Effekte haben
• Versorgungsqualität an der Befolgung von LL zu
messen, kann falsche Anreize setzen
… Hausärzte kommen bei solchen Messungen immer
schlecht weg.
Boyd et al. Clinical Practice Guidelines... JAMA 2005; 294:716-724
Institut für Allgemeinmedizin
Was tun in Abwesenheit von Leitlinien?
Langfristige Projekte (Antworten auf Cynthia
Boyd)
(kurzfristige) Zwischenlösungen
Institut für Allgemeinmedizin
Antwort 1: Triaden
Dreierkombinationen aus den 6 höchst
prävalenten Krankheiten/Störungen bilden das
Krankheitsspektrum von 42% der multimorbiden
Population ab.
van den Bussche et al, BMC Public Health 2011
Institut für Allgemeinmedizin
Antwort 1: Triaden bilden
Hypertonie
Hyperlipidämie
Rückenschmerz
Hypertonie
Hyperlipidämie
Arthrose
Hypertonie
Rückenschmerz
KHK
Hypertonie
Arthrose
Diabetes
Hyperlipidämie
Rückenschmerz
KHK
Rückenschmerz
Arthrose
Diabetes
Hypertonie
Hyperlipidämie
Diabetes
Hypertonie
Arthrose
KHK
Hypertonie
Hyperlipidämie
KHK
Hypertonie
Diabetes
KHK
Rückenschmerz
Arthrose
KHK
Arthrose
Diabetes
KHK
Hypertonie
Rückenschmerz
Arthrose
Hyperlipidämie
Rückenschmerz
Arthrose
Hypertonie
Rückenschmerz
Diabetes
Hyperlipidämie
Rückenschmerz
Diabetes
Institut für Allgemeinmedizin
Antwort 2: Multimorbiditätsmuster Schäfer I et al. PLoS One 2010
weiblich (n=86.176)
männlich (n=63.104)
Institut für Allgemeinmedizin
Antwort 3: Versorgungskoordination
Endokrinologe
Orthopäde
Osteoporose
Arthrose Hausarzt
COPD
Bluthochdruck
Diabetes m.
Radiologe
Augenarzt
Physiotherapie
Diabetologe
Pulmonologe
Hausärztliche Koordination
Sektorenübergreifende Versorgungsformen
Vernetzung zwischen den Fachdisziplinen
Institut für Allgemeinmedizin
Was tun in Abwesenheit von Leitlinien?
Langfristige Projekte (Antworten auf Cynthia Boyd)
(kurzfristige) Zwischenlösungen
Institut für Allgemeinmedizin
Kurzfristige (Zwischen)-Lösungen
Auswahl von schwer kranken, bedürftigen,
kostenintensiven Patienten, z.B. Patienten mit
Pflegebedarf
Case management (telefonisch und direkter
Kontakt)
Ergänzung der hausärztlichen Therapie im
psychosozialen Bereich
Bereits Firmen auf dem Markt!
Institut für Allgemeinmedizin
Ein Beispiel
Institut für Allgemeinmedizin
Ein anderes Beispiel
Patient-Relationship-Management-Programm (PRM)
„… koordiniert den Behandlungsprozess und steuert
die Lieferungen der Medikamente direkt zum
Patienten“
Institut für Allgemeinmedizin
Aspekte, die Beachtung verdienen
Konsultationszeit ist ein
salutogener Faktor!
Insbes. bei Multimorbidität,
Lifestyleveränderung,
psychiatrischen Problemen,
Psychosomatik etc.
Institut für Allgemeinmedizin
Patientenkontakte/Woche & Konsultationszeit
Land
Anzahl
Konsultationsdauer
in Minuten
Patientenkontakte
Deutschland
243
7,8
UK
154
11,1
Niederlande
141
13,2
Australien
128
14,6
Canada
122
16,0
Neuseeland
112
15,8
USA
102
19,1
Koch K, Gehrmann U, Sawicki PT. Primärärztliche Versorgung im internationalen
Vergleich. DÄB 2007; 104: B2282-9
Institut für Allgemeinmedizin
Inanspruchnahme - Ergebnisse
van den Bussche H, Schön G et al. BMC Geriatrics 2011, 11:54
Institut für Allgemeinmedizin
Konsultationszeit
„Dominanz des
Dringlichen“
Institut für Allgemeinmedizin
Und
hier
Und hier
Wagner et al., 1996; deutsche Übersetzung: Gensichen, Knieps, Schlette 2006
Institut für Allgemeinmedizin
Elemente einer optimalen Behandlung auf
Hausarzt-Patient Ebene
Gemeinsame Definition von Problemen durch
Patient und Hausarzt
Verhandlung, Planung und Zielsetzung
Kontinuum von Selbstmanagementtraining und
externer Unterstützung
Aktives und kontinuierliches Follow-up
Von Korff et al., 1997
Institut für Allgemeinmedizin
Elemente einer optimalen Behandlung auf
Hausarzt-Patient Ebene
FORSCHUNGSBEDARF: Wie Patientenbedürfnisse
besser in Behandlung integrieren?
1. Standardisierte Assessments?
2. Gespräche? (Konzept der “narrative based Medicine”*?)
3. Struktur: Finanzielle Anreize? Anforderungsprofile?
*Greenhalgh T, Hurwitz B. Narrative-based Medicine – Sprechende Medizin.
Hans Huber Verlag, Bern, 2005.
32
Institut für Allgemeinmedizin
Evidenz zur Bedeutung von Kommunikation
Gute Arzt-Patienten-Kommunikation verbessert psychologische und
somatische Behandlungsergebnisse durch
• Förderung einer positiven Erwartungshaltung
• Minderung von Angst
• Erleichterung der Krankheitsbewältigung
• Verbesserung Therapietreue
Di Blasi et al. (2001)
Ärztliche Empathie fördert
•
die diagnostische Genauigkeit
• die Therapietreue und die Zufriedenheit des Patienten Elwyn et al. (1999)
• die berufliche Effizienz und Zufriedenheit bei Ärzten
Larson und Yao (2005)
Wichtige Punkte aus Patientensicht
• Zuhören, Empathie, persönliche Aufmerksamkeit
Bensing et al. (2011)
• Raum(Zeit) zum Erzählen geben, Klarheit
Mazzi et al. (2011)
Institut für Allgemeinmedizin
Overtreatment und Polypharmazie
Less is more!
Garfinkel D, Mangin D.
Feasibility Study of a
Systematic Approach for
Discontinuation of
Multiple Medications in
Older Adults. Arch Intern
Med. 2010;170(18):16481654
Institut für Allgemeinmedizin
Alter: 83 (±7 Jahre)
≥3 Erkrankungen: 61%
Institut für Allgemeinmedizin
Ergebnisse
70 Patienten
eingenommene Medikamente (MW): 7.7 (±3.7)
Bei 64 Patienten Empfehlung eines Absetzens, insgesamt für 58% aller
eingenommenen, 4.4 (±2.5) Medikamente pro Patient
Follow-up (MW): 19 Monate
Nicht-Umsetzen der Empfehlung: 17%
2% aller abgesetzten Medikamente wurden wieder angesetzt
(Misserfolg)
Andersherum: Erfolgreiches Absetzen bei 81% aller Medikamente!
Keine signifikanten NW oder Todesfälle
10 Patienten (14%) starben nach 13 Monaten (MW)
88% der Patienten: globale Verbesserung des Gesundheitszustandes
Institut für Allgemeinmedizin
Less is more!
Garfinkel D, Mangin D.
Feasibility Study of a
Systematic Approach for
Discontinuation of Multiple
Medications in Older
Adults. Arch Intern Med.
2010;170(18):1648-1654
Institut für Allgemeinmedizin
Kritik und FORSCHUNGSBEDARF
Kleine Studie
Keine Verblindung
Keine Kontrollgruppe
Unklare klinische Regeln
Einschätzung Gesundheitszustand auf Likert-Skala
FORSCHUNGSBEDARF
mit besser beschriebenen Algorithmen für
oder gegen Absetzen
mit besseren Outcomeinstrumenten
Doppel-blinde RCT
Institut für Allgemeinmedizin
No Tears
(Lewis T (2004) BMJ 329;434)
Notwendigkeit/Indikation
Test und monitoring
Evidenz und Leitlinie
Adverse Effekte
Risikoreduktion, Wiederholungsrezepte, Prävention
Simplifikation, Umstellung
No Tears Instrument –Skizze zur Bewertung von
Medikamentenplänen im Rahmen eines Qualitätszirkels
Institut für Allgemeinmedizin
Medication appropriatness indicator (MAI)
1.
2.
3.
4.
Gibt es eine Indikation für das Medikament?
Ist das Medikament wirksam für die verordnete Indikation?
Stimmt die Dosierung?
Sind die Einnahmevorschriften korrekt? (Applikationsmodus,
Einnahmefrequenz, Einnahmezeit, Relation zu Mahlzeiten)
5. Gibt es klinisch relevante Interaktionen mit anderen Medikamenten?
6. Gibt es klinisch relevante Interaktionen mit anderen Krankheiten/Zuständen?
7. Sind die Anwendungsvorschriften für meinen Patienten / meine Patientin
praktikabel?
8. Wurden unnötige Doppelverschreibungen vermieden?
9. Ist die Dauer der medikamentösen Therapie (seit wann verordnet) adäquat?
10. Wurde die kostengünstigste Alternative vergleichbarer Präparate ausgewählt?
Hanlon et al, Am J Med 1996
Institut für Allgemeinmedizin
Zusammenfassung
Multimorbidität
Behandlungsleitlinien
Schritte zur Verbesserung der Situation
• Langfristige Projekte
• (Kurzfristige) Zwischenlösungen
Aspekte, die Beachtung verdienen:
• Konsultationszeit
• Arzt-Patient-Kommunikation
• Polypharmazie
Institut für Allgemeinmedizin
Vielen Dank!
Institut für Allgemeinmedizin
Konsultationszeit & Patientenkontakte/Woche I
Alle
Schweiz
Belgien
189/Woche
Niederlande
Großbritannien
Spanien
309/Woche
Deutschland
0
5
Deveugele M et al., BMJ 2002;325:472
10
Minuten
15
20
Institut für Allgemeinmedizin
Art der im 1. und 2. Gespräch erfahrenen
überraschenden Neuigkeiten*
35
30 31
30
26
24
25
Mehrfachnennungen möglich
%
20
PG 1
15
15
11
10
10
PG 2
9
6
5
1
0
Medizinisch
Persönlichkeit*
Familiäre
Situation**
Psychische
Verfassung
Soziale
Situation
*in PG1 bei 74% der Gespräche, in PG2 bei 49% (p<0.001).
Institut für Allgemeinmedizin
Distribution of triads (MC2)
Triads of the six most
prevalent individual chronic
conditions (hypertension,
lipid metabolism disorders,
chronic low back pain,
diabetes mellitus,
osteoarthritis, and chronic
ischemic heart disease)
correspond to the
multimorbidity spectrum of
almost half of the
multimorbid sample
Institut für Allgemeinmedizin
Interviews zur Hausarzt- und Patientensicht auf
Multimorbidität
Situation der Patienten:
Wissen der Hausärzte:
Im Fokus: Einschränkungen im
Alltag
Angst vor Verlust der
selbständigen Lebensführung
Medikation meist unproblematisch
Teilweise Erwartung von
psychosozialer und moralischer
Unterstützung über die
medizinische Versorgung hinaus
Im Fokus: Erkrankungen
Beschwerden und
Anpassungsleistungen der
Patienten etwas im Hintergrund
Erwartungen der Patienten an die
Behandlung
MultiCare
multimorbidity in primary health care
Nicht- Wissen der Hausärzte:
Beschwerden und
Anpassungsleistungen in
Einzelfällen
Familiäre Situation nur
eingeschränkt bekannt