RatfürMigratione.V. www.rat-fuer-migration.de [email protected] 03020076480 Stellungnahme (Januar 2016) Die rechtlichen Grenzen der Steuerung von Flüchtlingszuwanderung in der Europäischen Union Von Prof. Dr. Albrecht Weber Wie können Asylbewerber in der EU verteilt werden? Der Europarechtler und RfMMitglied Weber erklärt, warum die derzeitige Umsetzung der Asylpolitik dem europäischen Rechtsprinzip „der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten“ (Art. 80 AEUV) zuwiderläuft. 1. Europarechtliche Grundlagen Die akute Flüchtlingsmigration bedroht angesichts des anhaltenden Zustroms aus den Krisengebieten Syrien, Irak und Afghanistan den Zusammenhalt der Europäischen Union in einem nicht gekannten Ausmaß. Die politischen Hauptakteure – die Mitgliedstaaten der Union, der Europäische Rat und die Ministerräte, die Kommission und das Parlament – versuchen in permanentem Krisenmechanismus, aus der bloßen einzelstaatlichen Reaktion wieder zu einem gemeinsamen europäischen Handeln zurückzufinden. Neben zentralen Werten wie der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, Solidarität, Achtung der Menschenrechte und der Rechte von Minderheiten1 und der Gewährleistung eines freien Personenverkehrs in einem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen“ 2hat die Union im Amsterdamund Lissabon-Vertrag ausdrücklich gemeinschaftliche Kompetenzen im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung verankert. Sie liefern der Union ein starkes Mandat für ein gemeinschaftliches Asylsystem3, eine gemeinsame Grenzschutzpolitik4 und eine gemeinsame Einwanderungspolitik5. Lediglich im Bereich der Arbeitskräfteeinwanderung besteht noch eine nationale Souveränitätsreserve im Hinblick auf zahlenmäßige Festlegungen6. Die Union hat von diesen Kompetenzen im Rahmen des verabschiedeten „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS)7 in zwei Phasen Gebrauch gemacht, die 1 2 3 4 5 6 7 Art. 2 EU-Vertrag (EUV) Art. 3 Abs. 2 und 3 EU-Vertrag (EUV) Art. 78 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Art. 77 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Art. 79 Abs. 1-4 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Art. 79 Abs. 5 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Tampere-Programm 1999; Haager Programm 2005; Abl. EU Nr. C 53, 1. den Kern einer Gemeinsamen Asyl-und Einwanderungspolitik erkennen lässt. In der ersten Phase (bis Mai 2004) sollten die Rahmenbedingungen für gemeinsame Minimalstandards geschaffen werden. In der zweiten Phase wurden 2013 wichtige Rechtsinstrumente neugefasst und höhere Schutzstandards vereinbart (wie die Dublin-III-Verordnung8, Aufnahmerichtlinie9, Asylverfahrensrichtlinie10 oder das Fingerabdruckidentifizierungssystem EURODAC11). Die Qualifikationsrichtlinie für Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz war bereits 2011 verbessert und verabschiedet worden.12 Für den freien Personenverkehr im Binnenraum, der durch Grenzabriegelungen in Mitleidenschaft gezogen werden könnte, ist das Schengener System13 sowie der Schengener Grenzkodex14 von erheblicher Bedeutung, der die Einreisevoraussetzungen von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen, Grenzkontrollen und die Einreiseverweigerung regelt15. 2. Europäische Lösungsansätze Die Bewältigung der aktuellen Flüchtlingskrise ist nicht nur eine globale Herausforderung mit vielfältigen Ursachen, die zugleich bekämpft werden müssen. Hier stehen auch zentrale Werte der Europäischen Union auf dem Spiel. Angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingsbewebungen ist die Politik gefordert, im Krisenmodus kurzfristige Abhilfe zu schaffen, bevor das gemeinsame Asylsystem (GEAS) völlig erodiert. Gleichzeitig muss sie nach längerfristigen Lösungen suchen, die auf Dauer nach verbesserten, allgemeinen Regeln der Flüchtlingsaufnahme und -verteilung in der EU eine größere Stabilität versprechen. Dabei geht es nicht nur um Dublin und Schengen, sondern auch um den gemeinsamen Bestand von europäischen Rechtsregeln, die die materiellen Anerkennungsvoraussetzungen, die Aufnahme von Flüchtlingen, Mindestnormen für Asylverfahren, den vorübergehenden Schutz, die Identifizierung sowie die gemeinsame Visa-Politik betreffen. Ein zentraler Pfeiler dieses Systems ist die Prüfung der Erstzuständigkeit der Mitgliedstaaten nach dem Dublin-System (Dublin I–III), die infolge der akuten Krise weggebrochen ist, da Erstaufnahmestaaten wie Griechenland und Italien diese Zuständigkeitsbestimmung missachteten oder zumindest nachlässig handhabten. Daraufhin haben die weiteren Aufnahmeländer – jetzt vor allem auf der Balkanroute – die Politik des „benign neglect“ (um es wohlwollend zu formulieren) auf nachhaltige Weise fortgesetzt, die zu einem weitgehenden „Durchwinken“ der Flüchtlinge geführt hat. De facto und rechtlich läuft diese Migrationspolitik nicht nur dem Grundprinzip des DublinSystems zuwider, die Aufnahme, Registrierung und Identifizierung im Erstaufnahmestaat 8 Dublin III: VO 604/2013/EU; Abl. EU Nr. L 180, 31. 9 10 11 12 13 14 15 Richtlinie 2013/33/EU; Abl. EU Nr. L 180, 97. Richtlinie 2005/85 vom 1.12.2005 (über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft ); Abl. EU Nr. L 326, 13 i.d.F. vom EURODAC VO 603/2013, ABl. EU Nr. L 180, 1. Richtlinie 2011/95/EU („über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Unhalt des zu gewährenden Schutzes“)vom 13.12.2011; Abl. EU Nr. L 237, 9. Schengen I 1985; Schengen II 1990, teilweise in den Amsterdamer Vertrag integriert (SGK 2006) ABl. EU Nr. L 105, 1. S. Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht 2013, Rn. 72; ders., Ausländerrecht, D 8.3. 2 vorzunehmen. Praktisch läuft sie sogar auf eine freie Wahl des Zielstaates („free choice“) hinaus, die sich derzeit auf die drei Mitgliedsstaaten Österreich, Deutschland und Schweden konzentriert. Eine solches Verfahren als allgemeines Prinzip wäre aber nicht nur in höchstem Maße ungerecht, weil es die Lasten wenigen „Willigen“ aufbürdet, sondern läuft dem Grundprinzip solidarischen Handelns und „der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten“ (Art. 80 AEUV) als Rechtsprinzip zuwider. Die gelegentlich geforderte finanzielle Kompensation für aufnahmewillige Mitglieder durch nicht oder beschränkt aufnahmebereite Staaten, die das Unionsrecht nicht kennt, würde einen Freikauf von Solidaritätspflichten bedeuten und dem Prinzip den Todesstoß versetzen. Es wird mittelfristig daher kein Weg daran vorbeiführen, (1) das Dublin-System zu „europäisieren“, d. h. nicht nur nationale Grenzkontrollen an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten durchzuführen und den überforderten Mitgliedern zu helfen, sondern europäische Grenz- und Aufnahmezentren zur Kontrolle und Registrierung an den Grenzen zu errichten, an denen Flüchtlinge einreisen; dafür bieten die vom Europäischen Rat angedachten und in Griechenland und Lampedusa zu errichtenden „Hot Spots“ einen möglichen Ansatz. (2) Dieser Ansatz wird aber nur funktionieren, wenn dies gleichzeitig mit einem System von Aufnahme-und Verteilungsquoten gekoppelt wird, das eine faire Lastenverteilung für alle Mitgliedstaaten vorsieht und vom Forschungsbereich des „Sachverständigenrats Deutscher Stiftungen für Integration und Migration“ (SVR) schon 2013 in einem Policy Brief angeregt wurde.16 Die Kommission hat dafür einen vernünftigen Schlüssel entwickelt, der sich an der Wirtschaftskraft und der Bevölkerungszahl mit einigen zusätzlichen Kriterien orientiert. Immerhin konnte sich der Rat der Innen- und Justizminister am 22. September 2015 mit qualifizierter Mehrheitsentscheidung über eine Verteilung („relocation“) von 120.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien einigen.17 Dies ist ein wichtiger Präzedenzfall, an dem sich künftige Verteilungsentscheidungen orientieren könnten, auch wenn sie in einigen Mitgliedstaaten kurz vor Wahlen höchst unpopulär sein dürften und die Umsetzung äußerst schleppend verläuft. Finanzielle Hilfen sind allerdings im Falle eines „Massenzustroms“ in Krisensituationen denkbar, um einem Erstaufnahmestaat bei der Registrierung, Identitätsfeststellung und vorübergehenden Versorgung die nötige Unterstützung bis zu einer Umverteilung zu geben. Es ist bezeichnend, dass die hierfür eigentlich vorgesehene Richtlinie aus dem Jahre 2001 für die „Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen“18 bisher nicht zur Anwendung kam, obwohl auch hier eine qualifizierte Mehrheitsentscheidung des Rates möglich wäre. Der temporäre Schutz wäre 16 17 18 Policy Brief vom SVR-Forschungsbereich: „Europäische Flüchtlingspolitik: Wege zu einer fairen Lastenteilung“, 2013 Ratsentscheidung der Justiz- und Innenminister vom 22.9.2015: 66 000 sofort in einer ersten Phase; 54 000 in einer zweiten Phase bis ein Jahr nach Inkrafttreten der Entscheidung; gegen diese Entscheidung stimmten Tschechien, Slowakei, Ungarn und Rumäien. Richtlinie 2001/55/EG vom 20.7.2001 „über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten“; ABl. EU Nr. L 212, 12. 3 auf ein Jahr bis maximal zwei Jahre begrenzt und verpflichtete die Mitgliedstaaten zur Gewährung von Aufenthaltstiteln, angemessener Unterbringung, notwendigen Sozialleistungen und medizinischer Versorgung. Die Beantragung von Asyl nach dem nationalen Recht bliebe unberührt. Immerhin hatte der Rat im Konsens bereits am 20. Juli 2015 eine Relocation von 40.000 Personen innerhalb von zwei Jahren aus Italien und Griechenland als Notstandsmaßnahme beschlossen und am 14. September 2015 als Ratsentscheidung erlassen.19 Ein ähnlicher Ansatz bestünde in Form von humanitären Flüchtlingskontingenten, von dem die Bundesrepublik bisher wiederholt erfolgreich Gebrauch gemacht hat (wie bspw. bei den Ungarnflüchtlingen 1956, vietnamesischen Boatpeople 1979, 350.000 bosnischen Flüchtlingen ab 1992, 2.500 irakischen Flüchtlingen 2009/2010 sowie die bisherigen drei Aufnahmeprogramme des Bundes und der Länder seit 2013 von mehr als 30.000 syrischen Flüchtlingen). Sie verschaffen vorübergehend etwas Entlastung und können zugleich ein Modell für ein europäisches humanitäres Aufnahmeverteilungsprogramm sein.20 Die aktuelle Debatte über „Kontingente“ und „Obergrenzen“ übersieht freilich nur zu gerne, dass zwar Kontingente einen vorübergehenden Rechtstatus mit einem sichereren Fluchtweg (Flugeinreise) garantieren könnten, aber keinesfalls völkerrechtliche Ansprüche aus dem „Non-Refoulement-Verbot“ der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)21 und den Zurückweisungsverboten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)22 ersetzen oder verdrängen können. Hier hilft auch der Blick in das vielfach zu Recht gepriesene kanadische Flüchtlingsrecht nicht weiter, weil die gesetzlichen Aufnahmequoten in der Regel nicht erreicht werden. Es ist im Übrigen zu beachten, dass der Aufenthalt in Deutschland nach geltendem Recht in der Regel auf drei Jahre begrenzt ist (§§ 23, 26 Abs. 1 AufenthG), was dem Regelaufenthalt für Asylberechtigte und Personen mit internationalem Schutz entspricht23. Ob dies angesichts des anhaltenden Syrienkonflikts eine realistische Perspektive ist, ist schwer einzuschätzen. Solange keine Rückkehrperspektive besteht, muss der „Spurwechsel“ in das individuelle Asylantragsverfahren offen bleiben, um den Flüchtlingen einen längerfristigen Aufenthaltsstatus zu gewährleisten, wenn kein Widerruf seitens des BAMF vorliegt (§ 26 Abs. 3 AufenthG; § 73 Abs. 2a AsylverfG). Da Flüchtlinge aus Syrien eine steigende Anerkennungsquote aufweisen und die Chancen für eine Rückkehr noch als gering einzuschätzen sein dürften, wäre in der Tat zu überlegen, ob nicht das 19 20 21 22 23 Council Decision (EU) 2015/ 1523 of 14 September 2015 „establishing provisional measures in the area of international protection for the benefit of Italy and Greece“; diese Entscheidung ist auf Art. 78 Abs. 3 AEUV gestützt: „Befinden sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassen. Er beschließt nach Anhörung des Europäischen Parlaments.“. Forschungsbereich SVR 2015 (Müller). Art. 33 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) Art. 3: Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung §§ 25 Abs. 2; 26 Abs. 1 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG) 4 Verfahren über Widerruf bzw. Rücknahme „typisiert“ werden könnte, um das BAMF zu entlasten.24 3. Das Dublin-System und die Sicherung der Außengrenzen Mit einer Umverteilung von Flüchtlingen an den Außengrenzen der EU, die als Transitzonen eingerichtet werden könnten, wäre übrigens das geltende Dublin-System noch nicht außer Kraft. Abgesehen vom oben erwähnten Vorschlag eines europäischen Grenzkontrollregimes könnte es in begrenztem Umfang wiederbelebt werden. Allerdings sind auch Systeme wie Dublin kein Selbstzweck, sondern müssen mit der Migrationswirklichkeit in Einklang gebracht werden. Eine wieder geforderte Rücküberstellung von eingereisten Flüchtlingen dürfte angesichts zumeist unterlassener Registrierung in den Transitstaaten kaum erfolgversprechend sein, voraussichtlich zu einer „Kettenrückschiebung“ führen und weitere Blockaden provozieren, die mit dem Schengener Binnenregime kaum noch vereinbar sein werden (maximale Aussetzungsdauer 30 Tage).25 Eine Rückführung in den Ersteinreisestaat Griechenland kommt derzeit ohnehin aus praktischen Gründen und wegen „systemischer“ Schwächen des Asylverfahrens (EGMR) nicht in Betracht.26 Es ist also festzuhalten, dass das Dublin-System aufgrund der Verantwortungsverlagerung der Einreisekontrollen und Erstzuständigkeit der Mitgliedstaaten an den Außengrenzen der Union ein systemimmanentes Defizit aufweist, das zwangsläufig zu einer asymmetrischen Kontrolle und Belastung einiger weniger Mittelmeerländer führt, die den Herausforderungen nicht gewachsen sind. Will man diesen permanenten Druck verringern und die Erstzuständigkeit nach dem Dublin-Verfahren noch „retten“, wird dies nur mit der oben geforderten Umverteilung nach Quoten bzw. europäischen humanitären Aufnahmeprogrammen und massiver finanzieller und logistischer Unterstützung vor Ort zu machen sein. Auch die ständig geforderte Sicherung der EU-Außengrenzen durch die EUGrenzschutzagentur „Frontex“ wird auf den bisherigen Flüchtlingsrouten nur wenig Entlastung bringen, solange sich die Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Griechenland, Italien, Malta oder Spanien begeben. Hier muss zuvörderst die Rettung und der Schutz der Flüchtlinge aus Seenot auch außerhalb der Hoheitsgewässer im Vordergrund stehen, wie der Europäische Gerichtshof in Straßburg in einem italienischen Fall (Hirsi Jamaa) eindrücklich angemahnt hat27. Welchen Sinn macht es, Bootsflüchtlinge wieder in einen unsicheren Herkunftshafen zurückzuschleppen, von wo aus sie bei nächster Gelegenheit wieder zu entkommen suchen? Es wird – neben einer besseren Sicherung der Außengrenzen – also auf die sichere und menschenwürdige Ausgestaltung der Erstaufnahmestellen („Hotspots“) an den Grenzen ankommen, die den geltenden EU-Aufnahmebedingungen entsprechen und nicht geringe Anforderungen an eine „angemessene Versorgung“ stellen. 24 25 26 27 S. Gutachten von Dietrich Thränhardt: „Warum das deutsche Asylsystem zu einem Bearbeitungsstau führt“, Mediendienst Integration vom 31.7.2015 Art. 23 Abs. 1 GSK; bei schwerwiegender Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit kann dies um jeweils drei Monate verlängert werden. EGMR, Rs. M:S:S:/Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 vom 21.1.2011; ebenso EuGH vom 21.12.2011, N:Secretary of State for the Home Department. EGMR, Rs. Hirsi Jamaa and others v. Italy, Nr. 27765/09 vom 23.2.2012. 5 4. Nationale Begrenzungsspielräume Mit diesen europarechtlich und völkerrechtlich weitgehend determinierten Regeln ist freilich noch nicht die drängende unmittelbare Problematik gelöst, die mit der innerstaatlichen Bewältigung des Flüchtlingsstroms in Deutschland und einigen Nachbarländern seit diesem Jahr einhergeht und auf die der deutsche Gesetzgeber rasch und entschlossen reagiert hat.28 Hier ist nicht der Ort, die Einzelheiten der Reform des Asyl(verfahrens)gesetzes und weiterer Gesetze zu bewerten – dies wird noch ausreichend von Flüchtlingsorganisationen, den Gerichten und der Wissenschaft geschehen. Dabei sind zwei Vorschläge in jüngster Zeit besonders thematisiert worden: (1) Immer wieder kam die Forderung nach einer weiteren Einschränkung des Grundgesetzes auf (Art. 16a GG). Sie geht jedoch an der derzeitigen Migrationsrealität rechtlich wie faktisch vorbei. Natürlich ist auch Art. 16a GG nicht schrankenlos und die Grundgesetzänderung von 1992 hat mit der Einfügung der Ausschlussgründe wegen Einreise aus einem sicheren Drittstaat bzw. Herkunftsstaat bereits eine Einschränkung des grundgesetzlichen Asyls herbeigeführt, die zu einer wesentlichen Verfahrensvereinfachung nach dem Asylverfahrensgesetz (jetzt „Asylgesetz“) geführt hat. Da ohnehin nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und der geltenden Fassung des Art. 16a Abs. 3 GG trotz „normativer Vergewisserung“ bei der Prüfung von Anträgen aus sicheren Herkunftsstaaten die widerlegbare Vermutung einer mangelnden Verfolgung besteht, kann der Antragsteller Tatsachen vortragen, die diese gesetzliche Fiktion widerlegen. Diese widerlegliche Vermutung kann auch nicht durch eine GG-Änderung „ausgehebelt“ werden, weil sie den Vorgaben des „Refoulement-Verbots“ der Genfer Flüchtlingskonvention29, dem Verbot der Folter bzw. unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung30 und dem gleichlautenden Verbot der Europäischen Grundrechtecharta (Art 4 EuGRCH) widerspräche, die ein Zurückweisungsverbot mit vorläufigem Aufenthaltsrecht zur Prüfung eines Antrags auf Flüchtlingsschutz beinhalten. Dies ist vom BVerfG 1994 in den Fällen „sicherer Drittstaaten“ wie „sicherer Herkunftsstaaten“ festgehalten worden.31 Die Forderung übersieht aber noch einen weiteren Umstand, der die heutige Anerkennungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bei Flüchtlingen aus Konfliktgebieten prägt. Schon heute nimmt die Zahl der Personen, die um internationalen Schutz nach der GFK nachsuchen und nach Art. 16a GG eine Anerkennung erhalten, nur einen vergleichsweise geringen Anteil ein. Nach der Asylgeschäftsstatistik des BAMF vom Januar bis Oktober 2015 betrug bei ca. 205.000 Anträgen auf Flüchtlingsschutz die Gesamtschutzquote 41,2 Prozent, die Anerkennungsquote nach Art. 16a GG und Familienasyl lag lediglich bei 0,8 Prozent.32 Dies dürfte auch daran liegen, dass Anträge aus Syrien und von religiösen Minderheiten aus dem Irak (z. B. Jeziden) sowie Eritrea seit November 2014 vom BAMF in einem beschleunigten Verfahren geprüft werden können – also ohne Anhörung 28 29 30 31 32 Erste Würdigung bei Kluth, ZAR 10/2015, 337. Art. 33 Abs. 1 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) BVerfGE 94, 49. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Asylgeschäftsstatistik November 2015, Seite 10 6 des Asylbewerbers. Ferner ist auch die offenbar als Ausweg gedachte Anerkennung „subsidiären Schutzes“ möglich, wenn nach Unionsrecht und Asylverfahrensrecht ein „ernsthafter Schaden wegen individueller Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit als Folge willkürlicher Gewalt in innerstaatlichen bewaffneten Konflikten“ zu befürchten ist. Derzeit beträgt die Schutzquote 0,7 % , was immerhin fast der Schutzquote nach Art. 16a GG entspricht. Auch in diesem Fall ist die Anerkennung durch Unionsrecht (Qualifikationsrichtlinie)33 und deutsches Asylverfahrensrecht vorgeprägt und die Rechtsprechung des Gerichtshofs in Luxemburg zu beachten. So kann der Antragsteller trotz des geforderten individuellen Nachweises eines „ernsthaften Schadens“ einen Anspruch auf subsidiären Schutz haben, wenn das Maß an willkürlicher Gewalt so hoch ist, dass davon ausgegangen werden kann, dass er ausschließlich aufgrund seiner Anwesenheit im Herkunftsland der tatsächlichen Gefahr eines Schadens unterliegt.34 Die Verlagerung der Prüfung in das „subsidiäre Schutzverfahren“ dürfte daher bei Bürgerkriegsflüchtlingen im Vergleich zu dem bisher seit November 2014 beschleunigten Verfahren für Flüchtlingsschutz nach der GFK nur geringfügige Entlastung bringen. Der erkennbare Vorteil läge nur in der Beschränkung des Aufenthaltserlaubnis auf ein Jahr und maximale Verlängerung bis zu drei Jahren35. Doch gerade bei Bürgerkriegsflüchtlingen ist – ähnlich wie bei humanitären Aufnahmekontingenten – der Wechsel in das Asylantragsverfahren nach der GFK offenzuhalten. Eingeschränkter Familiennachzug ist zwar zulässig36, aber angesichts der engen völkerrechtlichen Verpflichtungen nach der EMRK und der Verfassung im Hinblick auf größtmöglichen Schutz der Familieneinheit und des Kindeswohls eher selten möglich.37 Unionsrecht und nationales Recht haben somit unter dem Begriff des „internationalen Schutzes“ zu einer Annäherung des Genfer Flüchtlingsstatus und des subsidiären Schutzstatus geführt, der nach Anerkennung zu einer Aufenthaltserlaubnis berechtigt. In diesem Zusammenhang einer Beschleunigung von Asylverfahren sollten auch rechtsvergleichende Ansätze genutzt werden, wie das von Dietrich Thränhardt erwähnte beschleunigte Verfahren in den Niederlanden (binnen acht Wochen)38, das beschleunigte Verfahren für Anträge aus sicheren Drittstaaten (im weiten Sinn) in der Schweiz39 und die Testpilotphase eines beschleunigten Asylverfahrens im Kanton Zürich40, die nun evaluiert 33 34 35 36 37 38 39 40 S. Art. 15c) RL (Fn. 6). EuGH, Rs. Aboubacar Diakité, C-285/12 vom 30.1.2014. § 26 Abs. 1 S. 3 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG) § 29 Abs. 3 S. 1 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG) Die Vorschriften des AufenthG enthalten selbst bestimmte engmaschige Regeln für den Familiennachzug (Ehegatten- bzw. Kindernachzug), wenn ein Elternteil bereits eine Aufenthaltserlaubnis besitzt (§§ 30, 31, 32, 35). S. Gutachten von Dietrich Thränhardt: „Warum das deutsche Asylsystem zu einem Bearbeitungsstau führt“, Mediendienst Integration vom 31.7.2015 „Nichteintretensbescheid“ Art. 6a Abs. 2b schweiz. AsylG. Art. 112b schweiz. AsylG und Testphasenverordnung, TestVO, hierzu ausführlicher Handbuch Migrationsrecht Schweiz 2015, 157 f. 7 werden muss. Auch in Kanada ist ein beschleunigtes Prüfungsverfahren seit 2012 üblich, das im September 2015 verbessert wurde („Expedited Processing of Refugee Claims“).41 (2) Weitere Vorschläge zielten darauf, „Transitzonen“ an der Grenze bzw. „Einreisezentren“ im Inland einzurichten. Gemeinsame Grundidee ist eine beschleunigte Bearbeitung von Asylverfahren, die sich an das Flughafenverfahren anlehnt, das grundsätzlich 1994 vom BVerfG gebilligt wurde. „Transitzonen“ wären zwar grundsätzlich möglich, unterlägen jedoch relativ strengen europarechtlichen wie verfassungsrechtlichen Anforderungen, die den Ablauf des Verfahrens bestimmen und eine Mindestdauer von ca. drei Wochen (mit Durchführung von Rechtsschutz) bedingen. Da statt der geforderten Transitzonen nunmehr „Einreisezentren“ geplant sind,42 gelten die vom BVerfG aufgestellten „Mindeststandards eines fairen rechtstaatlichen Verfahrens und effektiven Verwaltungsverfahrens“ in vergleichbarer Weise. In den „Einreisezentren“ müssten die Anträge aus „Sicheren Herkunftsstaaten“ bzw. missbräuchliche Anträge beschleunigt bearbeitet werden. Die übrigen Anträge von Personen aus Krisengebieten wären wie bisher an die Außenstellen des BAMF weiterzuleiten oder selbst zu bearbeiten. Eine räumliche Freiheitsbeschränkung wie im Falle von Transitzonen, die das BVerfG für das Flughafenverfahren unter den genannten Bedingungen verneint hatte, könnte für den Bereich der für die Aufnahmeeinrichtung zuständigen Ausländerbehörde oder eventuell auch faktisch durch Einschränkung von Sozialleistungen bei Verlassen der Einrichtung in Betracht kommen. Doch bis zum Abschluss des Verfahrens wäre auch hier eine Aufenthaltsgestattung zu gewähren. 41 42 Der „Immigration and Refugee Protection Act (IPRA)“ ermöglicht Einzelprüfern eine Prüfung ohne Anhörung innerhalb von zehn Tagen, sofern nicht der Innenminister innerhalb dieser Frist interveniert. Das verkürzte Verfahren beruht auf vier Prinzipien: Unabhängigkeit des Prüfers; Möglichkeit der Anhörung; Systemintegrität und öffentliche Sicherheit; s. Immigration and Refugee Board of Canada: „Policy on the Expedited Processing of Refugee Claims by the Protection Division“, 18 September 2015. Vgl. Artikel vom Mediendienst Integration: „Neue Aufnahmeeinrichtungen statt Transitzonen“ vom 6.11.2015 8 5. Rechtspolitische Überlegungen zu einem Einwanderungsgesetz und Ausblick Angesichts dieser Situation kommt es derzeit auf ein geduldiges, humanitäres Krisenmanagement an, bevor an eine größere Reform des Einwanderungsrechts gedacht wird, für die die Zeit offensichtlich noch nicht reif ist. Das geltende Einwanderungsrecht ist schon im Aufenthaltsrecht und der Beschäftigungsverordnung enthalten und gilt in der aktuellen Fassung nach Einschätzung von Experten als eines der liberalsten Einwanderungsregime der Welt.43 Notwendig wäre freilich eine transparentere Regelung, die die „Einwanderungspfade“ mit den jeweiligen aufenthaltsrechtlichen Folgen deutlicher trennt (Asyl einerseits – Arbeitsmigration andererseits) und die arbeitsmarktrechtlichen Folgen im jeweiligen Bereich „Asyl“ (für Asylbewerber) oder „Arbeitsmigration“ (bei anerkanntem internationalen Schutz und legaler Einwanderung zum Zwecke der Beschäftigung bzw. Ausbildung) verortet. Die Eröffnung zusätzlicher legaler Einwanderungspfade für Antragsteller aus sicheren Dritt- oder Herkunftsstaaten sollte hier flexibel ausgestaltet werden – nach Maßgabe des Arbeitskräftebedarfs unter Aufsicht der Bundesagentur für Arbeit unter Berücksichtigung konkreter Arbeitskräftebedarfe der Unternehmen. Hier könnten auch ausländische Erfahrungen wie das seit Anfang 2015 geltende kanadische „Express Entry System“ einfließen, das sich von einem angebotsorientierten zu einem nachfrageorientierten Arbeitsmarktmodell entwickelt hat. Das heutige Aufenthaltsrecht ist immer noch deutlich vom ursprünglich ausländerrechtlichen Ansatz geprägt und für Außenstehende schwer verständlich und wenig transparent. Es fehlt – wie meist in Zeiten der Krisenbewältigung – am langen Atem und systematisierenden Zugriff des Gesetzgebers. Prof. em. Dr. Albrecht Weber: Der Autor ist Professor für Öffentliches Recht und Europarecht in Osnabrück und Mitglied des Rats für Migration. Er ist außerdem Präsident der Deutschen Sektion des AWR (Association for the Study of the World Refugee Problem). Dieser Text gibt seine persönliche Auffassung wieder. 43 Vgl. Jahresgutachten 2015 vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration und „Migrant Integration Policy Index“ MIPEX 2015. 9
© Copyright 2024 ExpyDoc