rechtlichen Grenzen

RatfürMigratione.V.
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Stellungnahme (Januar 2016)
Die rechtlichen Grenzen der Steuerung von
Flüchtlingszuwanderung in der Europäischen Union
Von Prof. Dr. Albrecht Weber
Wie können Asylbewerber in der EU verteilt werden? Der Europarechtler und RfMMitglied Weber erklärt, warum die derzeitige Umsetzung der Asylpolitik dem
europäischen Rechtsprinzip „der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter
den Mitgliedstaaten“ (Art. 80 AEUV) zuwiderläuft.
1. Europarechtliche Grundlagen
Die akute Flüchtlingsmigration bedroht angesichts des anhaltenden Zustroms aus den
Krisengebieten Syrien, Irak und Afghanistan den Zusammenhalt der Europäischen Union in
einem nicht gekannten Ausmaß. Die politischen Hauptakteure – die Mitgliedstaaten der
Union, der Europäische Rat und die Ministerräte, die Kommission und das Parlament –
versuchen in permanentem Krisenmechanismus, aus der bloßen einzelstaatlichen Reaktion
wieder zu einem gemeinsamen europäischen Handeln zurückzufinden. Neben zentralen
Werten wie der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit,
Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, Solidarität, Achtung der Menschenrechte und der Rechte von
Minderheiten1 und der Gewährleistung eines freien Personenverkehrs in einem „Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen“ 2hat die Union im Amsterdamund Lissabon-Vertrag ausdrücklich gemeinschaftliche Kompetenzen im Bereich
Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung verankert. Sie liefern der Union ein starkes Mandat
für ein gemeinschaftliches Asylsystem3, eine gemeinsame Grenzschutzpolitik4 und eine
gemeinsame Einwanderungspolitik5. Lediglich im Bereich der Arbeitskräfteeinwanderung
besteht noch eine nationale Souveränitätsreserve im Hinblick auf zahlenmäßige
Festlegungen6. Die Union hat von diesen Kompetenzen im Rahmen des verabschiedeten
„Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS)7 in zwei Phasen Gebrauch gemacht, die
1
2
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Art. 2 EU-Vertrag (EUV)
Art. 3 Abs. 2 und 3 EU-Vertrag (EUV)
Art. 78 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
Art. 77 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
Art. 79 Abs. 1-4 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
Art. 79 Abs. 5 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
Tampere-Programm 1999; Haager Programm 2005; Abl. EU Nr. C 53, 1.
den Kern einer Gemeinsamen Asyl-und Einwanderungspolitik erkennen lässt. In der ersten
Phase (bis Mai 2004) sollten die Rahmenbedingungen für gemeinsame Minimalstandards
geschaffen werden. In der zweiten Phase wurden 2013 wichtige Rechtsinstrumente neugefasst
und höhere Schutzstandards vereinbart (wie die Dublin-III-Verordnung8, Aufnahmerichtlinie9,
Asylverfahrensrichtlinie10 oder das Fingerabdruckidentifizierungssystem EURODAC11). Die
Qualifikationsrichtlinie für Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz war bereits
2011 verbessert und verabschiedet worden.12 Für den freien Personenverkehr im Binnenraum,
der durch Grenzabriegelungen in Mitleidenschaft gezogen werden könnte, ist das Schengener
System13 sowie der Schengener Grenzkodex14 von erheblicher Bedeutung, der die
Einreisevoraussetzungen von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen, Grenzkontrollen
und die Einreiseverweigerung regelt15.
2.
Europäische Lösungsansätze
Die Bewältigung der aktuellen Flüchtlingskrise ist nicht nur eine globale Herausforderung mit
vielfältigen Ursachen, die zugleich bekämpft werden müssen. Hier stehen auch zentrale Werte
der Europäischen Union auf dem Spiel. Angesichts der gegenwärtigen
Flüchtlingsbewebungen ist die Politik gefordert, im Krisenmodus kurzfristige Abhilfe zu
schaffen, bevor das gemeinsame Asylsystem (GEAS) völlig erodiert. Gleichzeitig muss sie
nach längerfristigen Lösungen suchen, die auf Dauer nach verbesserten, allgemeinen Regeln
der Flüchtlingsaufnahme und -verteilung in der EU eine größere Stabilität versprechen. Dabei
geht es nicht nur um Dublin und Schengen, sondern auch um den gemeinsamen Bestand von
europäischen Rechtsregeln, die die materiellen Anerkennungsvoraussetzungen, die Aufnahme
von Flüchtlingen, Mindestnormen für Asylverfahren, den vorübergehenden Schutz, die
Identifizierung sowie die gemeinsame Visa-Politik betreffen.
Ein zentraler Pfeiler dieses Systems ist die Prüfung der Erstzuständigkeit der Mitgliedstaaten
nach dem Dublin-System (Dublin I–III), die infolge der akuten Krise weggebrochen ist, da
Erstaufnahmestaaten wie Griechenland und Italien diese Zuständigkeitsbestimmung
missachteten oder zumindest nachlässig handhabten. Daraufhin haben die weiteren
Aufnahmeländer – jetzt vor allem auf der Balkanroute – die Politik des „benign neglect“ (um
es wohlwollend zu formulieren) auf nachhaltige Weise fortgesetzt, die zu einem
weitgehenden „Durchwinken“ der Flüchtlinge geführt hat.
De facto und rechtlich läuft diese Migrationspolitik nicht nur dem Grundprinzip des DublinSystems zuwider, die Aufnahme, Registrierung und Identifizierung im Erstaufnahmestaat
8
Dublin III: VO 604/2013/EU; Abl. EU Nr. L 180, 31.
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Richtlinie 2013/33/EU; Abl. EU Nr. L 180, 97.
Richtlinie 2005/85 vom 1.12.2005 (über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur
Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft ); Abl. EU Nr. L 326, 13 i.d.F. vom
EURODAC VO 603/2013, ABl. EU Nr. L 180, 1.
Richtlinie 2011/95/EU („über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder
Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für
Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Unhalt des zu
gewährenden Schutzes“)vom 13.12.2011; Abl. EU Nr. L 237, 9.
Schengen I 1985; Schengen II 1990, teilweise in den Amsterdamer Vertrag integriert
(SGK 2006) ABl. EU Nr. L 105, 1.
S. Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht 2013, Rn. 72; ders., Ausländerrecht, D 8.3.
2
vorzunehmen. Praktisch läuft sie sogar auf eine freie Wahl des Zielstaates („free choice“)
hinaus, die sich derzeit auf die drei Mitgliedsstaaten Österreich, Deutschland und Schweden
konzentriert. Eine solches Verfahren als allgemeines Prinzip wäre aber nicht nur in höchstem
Maße ungerecht, weil es die Lasten wenigen „Willigen“ aufbürdet, sondern läuft dem
Grundprinzip solidarischen Handelns und „der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten
unter den Mitgliedstaaten“ (Art. 80 AEUV) als Rechtsprinzip zuwider. Die gelegentlich
geforderte finanzielle Kompensation für aufnahmewillige Mitglieder durch nicht oder
beschränkt aufnahmebereite Staaten, die das Unionsrecht nicht kennt, würde einen Freikauf
von Solidaritätspflichten bedeuten und dem Prinzip den Todesstoß versetzen.
Es wird mittelfristig daher kein Weg daran vorbeiführen,
(1) das Dublin-System zu „europäisieren“, d. h. nicht nur nationale Grenzkontrollen an den
Außengrenzen der Mitgliedstaaten durchzuführen und den überforderten Mitgliedern zu
helfen, sondern europäische Grenz- und Aufnahmezentren zur Kontrolle und Registrierung an
den Grenzen zu errichten, an denen Flüchtlinge einreisen; dafür bieten die vom Europäischen
Rat angedachten und in Griechenland und Lampedusa zu errichtenden „Hot Spots“ einen
möglichen Ansatz.
(2) Dieser Ansatz wird aber nur funktionieren, wenn dies gleichzeitig mit einem System von
Aufnahme-und Verteilungsquoten gekoppelt wird, das eine faire Lastenverteilung für alle
Mitgliedstaaten vorsieht und vom Forschungsbereich des „Sachverständigenrats Deutscher
Stiftungen für Integration und Migration“ (SVR) schon 2013 in einem Policy Brief angeregt
wurde.16 Die Kommission hat dafür einen vernünftigen Schlüssel entwickelt, der sich an der
Wirtschaftskraft und der Bevölkerungszahl mit einigen zusätzlichen Kriterien orientiert.
Immerhin konnte sich der Rat der Innen- und Justizminister am 22. September 2015 mit
qualifizierter Mehrheitsentscheidung über eine Verteilung („relocation“) von 120.000
Flüchtlingen aus Griechenland und Italien einigen.17 Dies ist ein wichtiger Präzedenzfall, an
dem sich künftige Verteilungsentscheidungen orientieren könnten, auch wenn sie in einigen
Mitgliedstaaten kurz vor Wahlen höchst unpopulär sein dürften und die Umsetzung äußerst
schleppend verläuft. Finanzielle Hilfen sind allerdings im Falle eines „Massenzustroms“ in
Krisensituationen denkbar, um einem Erstaufnahmestaat bei der Registrierung,
Identitätsfeststellung und vorübergehenden Versorgung die nötige Unterstützung bis zu einer
Umverteilung zu geben. Es ist bezeichnend, dass die hierfür eigentlich vorgesehene Richtlinie
aus dem Jahre 2001 für die „Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines
Massenzustroms von Vertriebenen“18 bisher nicht zur Anwendung kam, obwohl auch hier
eine qualifizierte Mehrheitsentscheidung des Rates möglich wäre. Der temporäre Schutz wäre
16
17
18
Policy Brief vom SVR-Forschungsbereich: „Europäische Flüchtlingspolitik: Wege zu einer fairen
Lastenteilung“, 2013
Ratsentscheidung der Justiz- und Innenminister vom 22.9.2015: 66 000 sofort in einer ersten Phase;
54 000 in einer zweiten Phase bis ein Jahr nach Inkrafttreten der Entscheidung; gegen diese
Entscheidung stimmten Tschechien, Slowakei, Ungarn und Rumäien.
Richtlinie 2001/55/EG vom 20.7.2001 „über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden
Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer
ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen
dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten“; ABl. EU Nr. L 212, 12.
3
auf ein Jahr bis maximal zwei Jahre begrenzt und verpflichtete die Mitgliedstaaten zur
Gewährung
von
Aufenthaltstiteln,
angemessener
Unterbringung,
notwendigen
Sozialleistungen und medizinischer Versorgung. Die Beantragung von Asyl nach dem
nationalen Recht bliebe unberührt. Immerhin hatte der Rat im Konsens bereits am 20. Juli
2015 eine Relocation von 40.000 Personen innerhalb von zwei Jahren aus Italien und
Griechenland als Notstandsmaßnahme beschlossen und am 14. September 2015 als
Ratsentscheidung erlassen.19
Ein ähnlicher Ansatz bestünde in Form von humanitären Flüchtlingskontingenten, von dem
die Bundesrepublik bisher wiederholt erfolgreich Gebrauch gemacht hat (wie bspw. bei den
Ungarnflüchtlingen 1956, vietnamesischen Boatpeople 1979, 350.000 bosnischen
Flüchtlingen ab 1992, 2.500 irakischen Flüchtlingen 2009/2010 sowie die bisherigen drei
Aufnahmeprogramme des Bundes und der Länder seit 2013 von mehr als 30.000 syrischen
Flüchtlingen). Sie verschaffen vorübergehend etwas Entlastung und können zugleich ein
Modell für ein europäisches humanitäres Aufnahmeverteilungsprogramm sein.20 Die aktuelle
Debatte über „Kontingente“ und „Obergrenzen“ übersieht freilich nur zu gerne, dass zwar
Kontingente einen vorübergehenden Rechtstatus mit einem sichereren Fluchtweg
(Flugeinreise) garantieren könnten, aber keinesfalls völkerrechtliche Ansprüche aus dem
„Non-Refoulement-Verbot“ der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)21 und den
Zurückweisungsverboten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)22
ersetzen oder verdrängen können. Hier hilft auch der Blick in das vielfach zu Recht
gepriesene kanadische Flüchtlingsrecht nicht weiter, weil die gesetzlichen Aufnahmequoten
in der Regel nicht erreicht werden. Es ist im Übrigen zu beachten, dass der Aufenthalt in
Deutschland nach geltendem Recht in der Regel auf drei Jahre begrenzt ist (§§ 23, 26 Abs. 1
AufenthG), was dem Regelaufenthalt für Asylberechtigte und Personen mit internationalem
Schutz entspricht23. Ob dies angesichts des anhaltenden Syrienkonflikts eine realistische
Perspektive ist, ist schwer einzuschätzen. Solange keine Rückkehrperspektive besteht, muss
der „Spurwechsel“ in das individuelle Asylantragsverfahren offen bleiben, um den
Flüchtlingen einen längerfristigen Aufenthaltsstatus zu gewährleisten, wenn kein Widerruf
seitens des BAMF vorliegt (§ 26 Abs. 3 AufenthG; § 73 Abs. 2a AsylverfG). Da Flüchtlinge
aus Syrien eine steigende Anerkennungsquote aufweisen und die Chancen für eine Rückkehr
noch als gering einzuschätzen sein dürften, wäre in der Tat zu überlegen, ob nicht das
19
20
21
22
23
Council Decision (EU) 2015/ 1523 of 14 September 2015 „establishing provisional measures in the area
of international protection for the benefit of Italy and Greece“; diese Entscheidung ist auf Art. 78 Abs. 3
AEUV gestützt: „Befinden sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms
von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission vorläufige
Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassen. Er beschließt nach Anhörung des
Europäischen Parlaments.“.
Forschungsbereich SVR 2015 (Müller).
Art. 33 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)
Art. 3: Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung
§§ 25 Abs. 2; 26 Abs. 1 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von
Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG)
4
Verfahren über Widerruf bzw. Rücknahme „typisiert“ werden könnte, um das BAMF zu
entlasten.24
3.
Das Dublin-System und die Sicherung der Außengrenzen
Mit einer Umverteilung von Flüchtlingen an den Außengrenzen der EU, die als Transitzonen
eingerichtet werden könnten, wäre übrigens das geltende Dublin-System noch nicht außer
Kraft. Abgesehen vom oben erwähnten Vorschlag eines europäischen Grenzkontrollregimes
könnte es in begrenztem Umfang wiederbelebt werden. Allerdings sind auch Systeme wie
Dublin kein Selbstzweck, sondern müssen mit der Migrationswirklichkeit in Einklang
gebracht werden. Eine wieder geforderte Rücküberstellung von eingereisten Flüchtlingen
dürfte angesichts zumeist unterlassener Registrierung in den Transitstaaten kaum
erfolgversprechend sein, voraussichtlich zu einer „Kettenrückschiebung“ führen und weitere
Blockaden provozieren, die mit dem Schengener Binnenregime kaum noch vereinbar sein
werden (maximale Aussetzungsdauer 30 Tage).25 Eine Rückführung in den Ersteinreisestaat
Griechenland kommt derzeit ohnehin aus praktischen Gründen und wegen „systemischer“
Schwächen des Asylverfahrens (EGMR) nicht in Betracht.26
Es ist also festzuhalten, dass das Dublin-System aufgrund der Verantwortungsverlagerung der
Einreisekontrollen und Erstzuständigkeit der Mitgliedstaaten an den Außengrenzen der Union
ein systemimmanentes Defizit aufweist, das zwangsläufig zu einer asymmetrischen Kontrolle
und Belastung einiger weniger Mittelmeerländer führt, die den Herausforderungen nicht
gewachsen sind. Will man diesen permanenten Druck verringern und die Erstzuständigkeit
nach dem Dublin-Verfahren noch „retten“, wird dies nur mit der oben geforderten
Umverteilung nach Quoten bzw. europäischen humanitären Aufnahmeprogrammen und
massiver finanzieller und logistischer Unterstützung vor Ort zu machen sein.
Auch die ständig geforderte Sicherung der EU-Außengrenzen durch die EUGrenzschutzagentur „Frontex“ wird auf den bisherigen Flüchtlingsrouten nur wenig
Entlastung bringen, solange sich die Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Griechenland,
Italien, Malta oder Spanien begeben. Hier muss zuvörderst die Rettung und der Schutz der
Flüchtlinge aus Seenot auch außerhalb der Hoheitsgewässer im Vordergrund stehen, wie der
Europäische Gerichtshof in Straßburg in einem italienischen Fall (Hirsi Jamaa) eindrücklich
angemahnt hat27. Welchen Sinn macht es, Bootsflüchtlinge wieder in einen unsicheren
Herkunftshafen zurückzuschleppen, von wo aus sie bei nächster Gelegenheit wieder zu
entkommen suchen? Es wird – neben einer besseren Sicherung der Außengrenzen – also auf
die sichere und menschenwürdige Ausgestaltung der Erstaufnahmestellen („Hotspots“) an den
Grenzen ankommen, die den geltenden EU-Aufnahmebedingungen entsprechen und nicht
geringe Anforderungen an eine „angemessene Versorgung“ stellen.
24
25
26
27
S. Gutachten von Dietrich Thränhardt: „Warum das deutsche Asylsystem zu einem Bearbeitungsstau
führt“, Mediendienst Integration vom 31.7.2015
Art. 23 Abs. 1 GSK; bei schwerwiegender Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit
kann dies um jeweils drei Monate verlängert werden.
EGMR, Rs. M:S:S:/Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 vom 21.1.2011; ebenso EuGH vom
21.12.2011, N:Secretary of State for the Home Department.
EGMR, Rs. Hirsi Jamaa and others v. Italy, Nr. 27765/09 vom 23.2.2012.
5
4.
Nationale Begrenzungsspielräume
Mit diesen europarechtlich und völkerrechtlich weitgehend determinierten Regeln ist freilich
noch nicht die drängende unmittelbare Problematik gelöst, die mit der innerstaatlichen
Bewältigung des Flüchtlingsstroms in Deutschland und einigen Nachbarländern seit diesem
Jahr einhergeht und auf die der deutsche Gesetzgeber rasch und entschlossen reagiert hat.28
Hier ist nicht der Ort, die Einzelheiten der Reform des Asyl(verfahrens)gesetzes und weiterer
Gesetze zu bewerten – dies wird noch ausreichend von Flüchtlingsorganisationen, den
Gerichten und der Wissenschaft geschehen.
Dabei sind zwei Vorschläge in jüngster Zeit besonders thematisiert worden:
(1) Immer wieder kam die Forderung nach einer weiteren Einschränkung des Grundgesetzes
auf (Art. 16a GG). Sie geht jedoch an der derzeitigen Migrationsrealität rechtlich wie faktisch
vorbei. Natürlich ist auch Art. 16a GG nicht schrankenlos und die Grundgesetzänderung von
1992 hat mit der Einfügung der Ausschlussgründe wegen Einreise aus einem sicheren
Drittstaat bzw. Herkunftsstaat bereits eine Einschränkung des grundgesetzlichen Asyls
herbeigeführt, die zu einer wesentlichen Verfahrensvereinfachung nach dem
Asylverfahrensgesetz (jetzt „Asylgesetz“) geführt hat. Da ohnehin nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und der geltenden Fassung des Art. 16a Abs. 3 GG
trotz „normativer Vergewisserung“ bei der Prüfung von Anträgen aus sicheren
Herkunftsstaaten die widerlegbare Vermutung einer mangelnden Verfolgung besteht, kann
der Antragsteller Tatsachen vortragen, die diese gesetzliche Fiktion widerlegen. Diese
widerlegliche Vermutung kann auch nicht durch eine GG-Änderung „ausgehebelt“ werden,
weil sie den Vorgaben des „Refoulement-Verbots“ der Genfer Flüchtlingskonvention29, dem
Verbot der Folter bzw. unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung30 und dem
gleichlautenden Verbot der Europäischen Grundrechtecharta (Art 4 EuGRCH) widerspräche,
die ein Zurückweisungsverbot mit vorläufigem Aufenthaltsrecht zur Prüfung eines Antrags
auf Flüchtlingsschutz beinhalten. Dies ist vom BVerfG 1994 in den Fällen „sicherer
Drittstaaten“ wie „sicherer Herkunftsstaaten“ festgehalten worden.31
Die Forderung übersieht aber noch einen weiteren Umstand, der die heutige
Anerkennungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bei Flüchtlingen
aus Konfliktgebieten prägt. Schon heute nimmt die Zahl der Personen, die um internationalen
Schutz nach der GFK nachsuchen und nach Art. 16a GG eine Anerkennung erhalten, nur
einen vergleichsweise geringen Anteil ein. Nach der Asylgeschäftsstatistik des BAMF vom
Januar bis Oktober 2015 betrug bei ca. 205.000 Anträgen auf Flüchtlingsschutz die
Gesamtschutzquote 41,2 Prozent, die Anerkennungsquote nach Art. 16a GG und Familienasyl
lag lediglich bei 0,8 Prozent.32 Dies dürfte auch daran liegen, dass Anträge aus Syrien und
von religiösen Minderheiten aus dem Irak (z. B. Jeziden) sowie Eritrea seit November 2014
vom BAMF in einem beschleunigten Verfahren geprüft werden können – also ohne Anhörung
28
29
30
31
32
Erste Würdigung bei Kluth, ZAR 10/2015, 337.
Art. 33 Abs. 1 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)
Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)
BVerfGE 94, 49.
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Asylgeschäftsstatistik November 2015, Seite 10
6
des Asylbewerbers. Ferner ist auch die offenbar als Ausweg gedachte Anerkennung
„subsidiären Schutzes“ möglich, wenn nach Unionsrecht und Asylverfahrensrecht ein
„ernsthafter Schaden wegen individueller Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit als
Folge willkürlicher Gewalt in innerstaatlichen bewaffneten Konflikten“ zu befürchten ist.
Derzeit beträgt die Schutzquote 0,7 % , was immerhin fast der Schutzquote nach Art. 16a GG
entspricht. Auch in diesem Fall ist die Anerkennung durch Unionsrecht
(Qualifikationsrichtlinie)33 und deutsches Asylverfahrensrecht vorgeprägt und die
Rechtsprechung des Gerichtshofs in Luxemburg zu beachten. So kann der Antragsteller trotz
des geforderten individuellen Nachweises eines „ernsthaften Schadens“ einen Anspruch auf
subsidiären Schutz haben, wenn das Maß an willkürlicher Gewalt so hoch ist, dass davon
ausgegangen werden kann, dass er ausschließlich aufgrund seiner Anwesenheit im
Herkunftsland der tatsächlichen Gefahr eines Schadens unterliegt.34 Die Verlagerung der
Prüfung in das „subsidiäre Schutzverfahren“ dürfte daher bei Bürgerkriegsflüchtlingen im
Vergleich zu dem bisher seit November 2014 beschleunigten Verfahren für Flüchtlingsschutz
nach der GFK nur geringfügige Entlastung bringen. Der erkennbare Vorteil läge nur in der
Beschränkung des Aufenthaltserlaubnis auf ein Jahr und maximale Verlängerung bis zu drei
Jahren35. Doch gerade bei Bürgerkriegsflüchtlingen ist – ähnlich wie bei humanitären
Aufnahmekontingenten – der Wechsel in das Asylantragsverfahren nach der GFK
offenzuhalten. Eingeschränkter Familiennachzug ist zwar zulässig36, aber angesichts der
engen völkerrechtlichen Verpflichtungen nach der EMRK und der Verfassung im Hinblick
auf größtmöglichen Schutz der Familieneinheit und des Kindeswohls eher selten möglich.37
Unionsrecht und nationales Recht haben somit unter dem Begriff des „internationalen
Schutzes“ zu einer Annäherung des Genfer Flüchtlingsstatus und des subsidiären Schutzstatus
geführt, der nach Anerkennung zu einer Aufenthaltserlaubnis berechtigt.
In diesem Zusammenhang einer Beschleunigung von Asylverfahren sollten auch
rechtsvergleichende Ansätze genutzt werden, wie das von Dietrich Thränhardt erwähnte
beschleunigte Verfahren in den Niederlanden (binnen acht Wochen)38, das beschleunigte
Verfahren für Anträge aus sicheren Drittstaaten (im weiten Sinn) in der Schweiz39 und die
Testpilotphase eines beschleunigten Asylverfahrens im Kanton Zürich40, die nun evaluiert
33
34
35
36
37
38
39
40
S. Art. 15c) RL (Fn. 6).
EuGH, Rs. Aboubacar Diakité, C-285/12 vom 30.1.2014.
§ 26 Abs. 1 S. 3 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern
im Bundesgebiet (AufenthG)
§ 29 Abs. 3 S. 1 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern
im Bundesgebiet (AufenthG)
Die Vorschriften des AufenthG enthalten selbst bestimmte engmaschige Regeln für den
Familiennachzug (Ehegatten- bzw. Kindernachzug), wenn ein Elternteil bereits eine
Aufenthaltserlaubnis besitzt (§§ 30, 31, 32, 35).
S. Gutachten von Dietrich Thränhardt: „Warum das deutsche Asylsystem zu einem Bearbeitungsstau
führt“, Mediendienst Integration vom 31.7.2015
„Nichteintretensbescheid“ Art. 6a Abs. 2b schweiz. AsylG.
Art. 112b schweiz. AsylG und Testphasenverordnung, TestVO, hierzu ausführlicher Handbuch
Migrationsrecht Schweiz 2015, 157 f.
7
werden muss. Auch in Kanada ist ein beschleunigtes Prüfungsverfahren seit 2012 üblich, das
im September 2015 verbessert wurde („Expedited Processing of Refugee Claims“).41
(2) Weitere Vorschläge zielten darauf, „Transitzonen“ an der Grenze bzw. „Einreisezentren“
im Inland einzurichten. Gemeinsame Grundidee ist eine beschleunigte Bearbeitung von
Asylverfahren, die sich an das Flughafenverfahren anlehnt, das grundsätzlich 1994 vom
BVerfG gebilligt wurde. „Transitzonen“ wären zwar grundsätzlich möglich, unterlägen
jedoch relativ strengen europarechtlichen wie verfassungsrechtlichen Anforderungen, die den
Ablauf des Verfahrens bestimmen und eine Mindestdauer von ca. drei Wochen (mit
Durchführung von Rechtsschutz) bedingen. Da statt der geforderten Transitzonen nunmehr
„Einreisezentren“ geplant sind,42 gelten die vom BVerfG aufgestellten „Mindeststandards
eines fairen rechtstaatlichen Verfahrens und effektiven Verwaltungsverfahrens“ in
vergleichbarer Weise. In den „Einreisezentren“ müssten die Anträge aus „Sicheren
Herkunftsstaaten“ bzw. missbräuchliche Anträge beschleunigt bearbeitet werden. Die übrigen
Anträge von Personen aus Krisengebieten wären wie bisher an die Außenstellen des BAMF
weiterzuleiten oder selbst zu bearbeiten. Eine räumliche Freiheitsbeschränkung wie im Falle
von Transitzonen, die das BVerfG für das Flughafenverfahren unter den genannten
Bedingungen verneint hatte, könnte für den Bereich der für die Aufnahmeeinrichtung
zuständigen Ausländerbehörde oder eventuell auch faktisch durch Einschränkung von
Sozialleistungen bei Verlassen der Einrichtung in Betracht kommen. Doch bis zum Abschluss
des Verfahrens wäre auch hier eine Aufenthaltsgestattung zu gewähren.
41
42
Der „Immigration and Refugee Protection Act (IPRA)“ ermöglicht Einzelprüfern eine Prüfung ohne
Anhörung innerhalb von zehn Tagen, sofern nicht der Innenminister innerhalb dieser Frist interveniert.
Das verkürzte Verfahren beruht auf vier Prinzipien: Unabhängigkeit des Prüfers; Möglichkeit der
Anhörung; Systemintegrität und öffentliche Sicherheit; s. Immigration and Refugee Board of Canada:
„Policy on the Expedited Processing of Refugee Claims by the Protection Division“, 18 September
2015.
Vgl. Artikel vom Mediendienst Integration: „Neue Aufnahmeeinrichtungen statt Transitzonen“ vom
6.11.2015
8
5.
Rechtspolitische Überlegungen zu einem Einwanderungsgesetz und
Ausblick
Angesichts dieser Situation kommt es derzeit auf ein geduldiges, humanitäres
Krisenmanagement an, bevor an eine größere Reform des Einwanderungsrechts gedacht wird,
für die die Zeit offensichtlich noch nicht reif ist. Das geltende Einwanderungsrecht ist schon
im Aufenthaltsrecht und der Beschäftigungsverordnung enthalten und gilt in der aktuellen
Fassung nach Einschätzung von Experten als eines der liberalsten Einwanderungsregime der
Welt.43 Notwendig wäre freilich eine transparentere Regelung, die die „Einwanderungspfade“
mit den jeweiligen aufenthaltsrechtlichen Folgen deutlicher trennt (Asyl einerseits –
Arbeitsmigration andererseits) und die arbeitsmarktrechtlichen Folgen im jeweiligen Bereich
„Asyl“ (für Asylbewerber) oder „Arbeitsmigration“ (bei anerkanntem internationalen Schutz
und legaler Einwanderung zum Zwecke der Beschäftigung bzw. Ausbildung) verortet. Die
Eröffnung zusätzlicher legaler Einwanderungspfade für Antragsteller aus sicheren Dritt- oder
Herkunftsstaaten sollte hier flexibel ausgestaltet werden – nach Maßgabe des
Arbeitskräftebedarfs unter Aufsicht der Bundesagentur für Arbeit unter Berücksichtigung
konkreter Arbeitskräftebedarfe der Unternehmen. Hier könnten auch ausländische
Erfahrungen wie das seit Anfang 2015 geltende kanadische „Express Entry System“
einfließen, das sich von einem angebotsorientierten zu einem nachfrageorientierten
Arbeitsmarktmodell entwickelt hat. Das heutige Aufenthaltsrecht ist immer noch deutlich
vom ursprünglich ausländerrechtlichen Ansatz geprägt und für Außenstehende schwer
verständlich und wenig transparent. Es fehlt – wie meist in Zeiten der Krisenbewältigung –
am langen Atem und systematisierenden Zugriff des Gesetzgebers.
Prof. em. Dr. Albrecht Weber: Der
Autor ist Professor für Öffentliches Recht und
Europarecht in Osnabrück und Mitglied des Rats für Migration. Er ist außerdem Präsident
der Deutschen Sektion des AWR (Association for the Study of the World Refugee
Problem). Dieser Text gibt seine persönliche Auffassung wieder.
43
Vgl. Jahresgutachten 2015 vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration
und „Migrant Integration Policy Index“ MIPEX 2015.
9