Möglichkeiten und Grenzen der Palliativmedizin

Dr. med. Frauke Rösick 1
Möglichkeiten und Grenzen der Palliativmedizin
Möglichkeiten und Grenzen der Palliativmedizin
Am 13. November des vergangenen Jahres hat sich etwas Besonderes ereignet. An diesem
Tag fand die Orientierungsdebatte des Deutschen Bundestages zur Vorbereitung eines
geplanten Gesetzes zur Sterbebegleitung und Sterbehilfe statt. Das Besondere an dieser
Debatte, die sich über fünf Stunden erstreckte, war, dass es plötzlich keine Parteigrenzen
mehr zu geben schien, eine Atmosphäre gegenseitigen Respektes und großer Ernsthaftigkeit
herrschte und die Beiträge der insgesamt 48 Redner zum großen Teil auffallend persönlich
waren.
Die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit unseres Lebens berührt uns zu tiefst. Aber sie
berührt jeden von uns anders. Die Parlamentarier argumentierten in der Debatte - geprägt
von persönlichen Erfahrungen - aus sehr unterschiedlichen Blickrichtungen. Letztendlich sind
es aber immer Einzelfälle, individuelle Schicksale, günstige oder ungünstige Rahmenbedingungen, glückliche oder unglückliche Verläufe, die diese Erfahrungen prägen. Allgemeingültige Regeln oder Gesetzentwürfe lassen sich daraus nicht ableiten, wohl aber Rahmenbedingungen schaffen, die dem Anspruch eines würdigen Lebens und Sterbens möglichst
gerecht werden. So herrschte unter unseren Volksvertretern große Einigkeit darüber, dass
die palliativmedizinische Versorgung in den kommenden Jahren gefördert und weiter
ausgebaut werden solle.
Mein Auftrag ist es heute, über Möglichkeiten und Grenzen der Palliativmedizin zu sprechen.
Angesichts der Tatsache, dass wir alle mit ganz unterschiedlichen Vorerfahrungen, Ansichten
und Erwartungen im Hinblick auf die Thematik hier versammelt sind, keine leichte Aufgabe.
Ich werde Ihnen daher jetzt keine Fakten, oder statistische Auswertungen präsentieren.
Angesichts der emotionalen Dynamik des Themas gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion möchte ich einen anderen Weg einschlagen. Meine Berufserfahrung erstreckt
sich über 30 Jahre, seit 25 Jahren arbeite ich in der Onkologie, seit 10 Jahren mit palliativmedizinischem Schwerpunkt. Die Begleitung Schwerkranker und Sterbender gehört zu
meinem Berufsalltag. Aus dieser Erfahrung heraus möchte ich Denkanstöße setzen, Sie ein
Stück mitnehmen und einladen, sich mit mir in die Thematik einzufühlen.
Damit wir uns unterwegs nicht verlieren, hier zunächst ein kleiner Wegweiser durch meinen
Vortrag. Ich werde zuerst über Reibungspunkte zwischen der klassischen Medizin und der
Palliativmedizin sprechen - zunächst vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung,
dann im Hinblick auf derer beider Selbstverständnis. Anschließend fahren wir fort mit den
speziellen Charakteristika der Palliativmedizin. In der praktischen Umsetzung sind drei Aspekte besonders wichtig, die ich besonders herausstellen möchte. Dann wenden wir uns vor
dem Hintergrund der zuvor erarbeiteten Grundkenntnisse dem eigentlichen Thema des
Vortrags zu: Möglichkeiten und Grenzen der Palliativmedizin. Zuletzt versuche ich einen
Ausblick.
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Wie ist sie entstanden, die scheinbar noch sehr junge Disziplin der Palliativmedizin ?
Genaugenommen reichen ihre Wurzeln weit zurück. Doch weil die Medizin sich in eine andere Richtung entwickelte, verschwand sie zunächst, um spät wieder aufzutauchen. Wir
versetzen uns zurück in das 6. bis 12. Jahrhundert, wo sich die Klostermedizin im Abendland
ausbreitete. Die Benediktinerregel machte die Unterbringung und Versorgung von Armen,
Kranken und Fremden zur christlichen Pflicht. Das klösterliche „Hospitium“ darf als Vorläufer
der heutigen Hospize angesehen werden. Die Mönche verfügten damals über ein tradiertes
und fundiertes medizinisches Wissen, legten Heilpflanzengärten an und stellten Arzneimittel
her. Aber sie waren auch des Lesens und Schreibens mächtig und verwahrten in den
klösterlichen Bibliotheken die schriftlichen Dokumente des medizinischen Wissens. Das
Laterankonzil beendete dann 1215 endgültig die ärztliche Betätigung von Geistlichen und
Mönchen. Seelsorge und ärztliche Kunst gingen fortan getrennte Wege. Am Vorbild der
klösterlichen Krankenpflege entstanden später bürgerliche Hospitäler.
Ein weiteres Schlaglicht werfen wir in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Medizin
trat sie in ihre moderne Phase ein, als sie sich neben Physik und Chemie zur reinen Naturwissenschaft entwickelte. Die subjektiven Empfindungen der Kranken wie Schmerz, Angst,
Unruhe, Frösteln oder Hitze traten in Hintergrund. An ihrer Stelle wurden objektive Befunde
wie Körpertemperatur, Pulsfrequenz und Blutdruck gemessen, die chemische und mikroskopische Analyse von Blut und Urin sowie verfeinerte Untersuchungstechniken der inneren
Organe entwickelten sich. Die über 1500 Jahre gültige Humoralpathologie, die Krankheit als
eine Imbalance der vier Körpersäfte auffasste, wurde durch die „Zellularpathologie“ Rudolf
Virchows ersetzt. Dank besserer Mikroskope war entdeckt worden, dass Lebewesen aus
Zellverbänden bestehen. Man glaubte, die Körperzelle als elementare Funktionseinheit identifiziert zu haben und damit jede Krankheit als rein physikalische oder chemische Störung der
Körperzellen erklären zu können. Dieses Denken prägt die moderne Medizin, insbesondere
aber die medizinische Forschung bis heute.
Im Jahr 1861 wurde das Medizinstudium endgültig von allem geisteswissenschaftlichen
Ballast befreit, als die Zwischenprüfung, das Tentamen philosophicum, durch ein Tentamen
physicum ersetzt wurde. Daraus ergibt sich ein wichtiger Paradigmenwandel bezüglich der
Rolle des Arztes. Als Naturwissenschaftler hat sich der Arzt allein auf objektive, möglichst
messbare Befunde zu konzentrieren. In einem rein naturwissenschaftlichen, zellularpathologischen Ansatz ist Krankheit somit letztlich eine biologische Dysfunktion und der Arzt darin
geschult, diese Ursache zu erkennen und nach Möglichkeit zu beseitigen. Mein Medizinstudium, das ich im Jahr 1978 aufgenommen habe, war ebenso ausgerichtet, Sterben und
Tod kamen darin nicht vor. Ein in dieser Weise ausgebildeter Arzt muss das Versterben eines
Patienten als „Betriebsunfall“ empfinden, der eigentlich nicht vorkommen sollte.
Wahrscheinlich erklärt dieser kühle, akademische und distanzierte Blickwinkel der Ärzteschaft ein weiteres Phänomen: Typisches Rollenverhalten! Medizin ist ein Bereich, aus dem
Paternalismus und hierarchisches Denken zumindest im deutschsprachigen Raum nur sehr
langsam weichen. Lange galt ein Arzt als unangefochtene Autorität. Der Arzt verordnet
(denn er allein weiß, was gut für seinen Patienten ist) der Patient befolgt. Wir meinen zwar,
den „Herrgott in Weiß“ längst in die Klamottenkiste gepackt zu haben, doch eine gewisse
Sehnsucht nach ihm ist häufig doch zu spüren, zumindest, wenn es ernst wird. Der Arzt als
fürsorgliche, allwissende und väterliche Gestalt, als Helfer und Heiler, sagt wo es lang geht
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und nimmt dem Patienten somit folgenschwere Entscheidungen ab. Wenn ich meinen
Patienten im Fall einer fortgeschrittenen Krebserkrankung verschiedene Behandlungswege
vorschlage und erläutere, überfordere ich sie oft. Ein medizinischer Laie erwartet in der
Regel, dass es nur den einen richtigen Weg gibt, den der Arzt kennt und der Patient befolgen
muss, um nichts „falsch“ zu machen. Viele von uns - Ärzte wie Patienten - stecken noch tief
in Denkmustern und Rollenbildern fest, die die Arzt-Patient-Beziehung in enge und
festgefahrene Bahnen lenkt
In der männlich dominierten Medizinischen Welt der 1950-iger Jahre war es eine Frau, und
zunächst auch keine Ärztin, die den Weg zur heutigen Hospizarbeit und Palliativmedizin
entscheidend geprägt hat. Cicely Saunders, eine englische Krankenschwester und
Sozialhelferin lernte im Jahr 1948 als Dreißigjährige David Tasma, einen polnischen Juden
kennen, der den Holocaust im Warschauer Ghetto überlebt hatte und zu diesem Zeitpunkt
bereits an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung litt. Cicely Saunders erkannte damals die
Komplexität einer guten Sterbebegleitung. Der von ihr betreute David Tasma litt nicht nur an
Tumorschmerzen, sondern blickte auch auf ein sehr bewegtes Leben zurück. Er trauerte um
den Verlust seiner Angehörigen, und dem Verfall seines eigenen Körpers. Angst und
Alpträume plagten ihn und es stellten sich ihm Fragen nach dem Sinn seines Lebens, seines
Leidens und der Existenz von Gott. Cicely Saunders begann im Jahr 1951 ihr Medizinstudium.
Als Ärztin engagierte sie sich in der Ausbildung wie Forschung bei der Betreuung
Schwerstkranker und Sterbender. Im Jahre 1967 schließlich konnte sie das St. Christopher's
Hospice im Süden Londons eröffnen, das allgemein als der historische Impuls der modernen
Hospizbewegung angesehen wird.
Damit komme ich zu den wesentlichen Charakteristika der Palliativmedizin.
Palliativmedizin hat ihre Wurzeln zwar in der Hospizarbeit, setzt aber andere Impulse.
Gemeinsam ist lediglich der Ansatz eines ganzheitlichen Menschenbildes. Nicht die Erkrankung steht im Mittelpunkt, sondern das Individuum in seinem Gesamtkontext. Körper und
Seele lassen sich ebenso wenig voneinander trennen, wie sich ein Patient aus seinem
Erfahrungshorizont oder Lebensumfeld herauslösen lässt. Die Erkenntnis dieser Komplexität
führte zu dem Konzept des sog. „Total pain“-Verständnisses, das von Cicely Saunders
formuliert wurde. Demnach kann es nicht gelingen, physischen Schmerz, z.B. Tumorschmerz
allein mit einem Schmerzmittel zu behandeln, ohne den Kontext zu beachten, in dem der
Patient sich befindet. Schon die physische Komponente ist dabei vielschichtig: Sie umfasst
die primäre körperliche Schädigung durch den Tumor und die Antwort des Körpers darauf
(Anspannung, Verzagtheit, Schonhaltung). Der psychische Bereich beinhaltet die Reaktionen
der Seele (Angst, Auseinandersetzung über Traumerlebnisse, aber auch Hoffnung und
Zuversicht). Die soziale Dimension umfasst alle Sorgen aber auch den Rückhalt auf der
Beziehungsebene und in der spirituellen Dimension geht es um das Begreifen, die Sinnfrage,
die Einordnung der eigenen Existenz in den Kosmos. In dem Symptom „Schmerz“ können
somit auch Saiten im Sinne von „Seelenschmerz“ oder „Abschiedsschmerz“ mitschwingen.
Eine effektive Schmerzbehandlung muss diesem multidimensionalen Ansatz Rechnung
tragen.
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„Hospiz ist kein Ort, in dem wir uns einrichten, sondern eine Haltung, mit der wir uns
begegnen“, sagte Cicely Saunders. Die palliativmedizinisch tätigen Berufsgruppen fühlen sich
eben dieser Grundhaltung verpflichtet. Palliativmedizin ist - entgegen der landläufigen Auffassung - keine Sterbemedizin, auch wenn sie häufig erst in der letzten Lebensphase und im
Sterbeprozess zum Tragen kommt. In den vergangenen Jahren hat eine Entwicklung eingesetzt, viel früher mit einer palliativmedizinischen Begleitung zu beginnen, nämlich zu dem
Zeitpunkt, an dem einem Patienten die Diagnose einer nicht mehr heilbaren und voranschreitenden Erkrankung mitgeteilt wird. Zu diesem Zeitpunkt ist für den Betroffenen das
Leben endlich, er wird mit seinem bevorstehenden Tod konfrontiert. Bewusst oder
unbewusst hat eine innere Uhr zu laufen begonnen und das hat Folgen.
Eine Therapiestudie hat sehr zu diesem Umdenken beigetragen, die in den USA von Jennifer
S. Temel und ihren Mitarbeitern an Patienten mit Lungenkrebs durchgeführt und 2010 im
New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde. Alle Patienten befanden sich in
einem Krankheitsstadium, in dem der Krebs sich im Körper ausgebreitet hatte und somit
eine Heilung durch Operation nicht mehr möglich war. Die Patienten wurden in zwei
Gruppen eingeteilt. Beide Gruppen erhielten die stadiengerechte Standardtherapie, also
eine Chemo- und Strahlentherapie. Aber nur eine dieser Patientengruppen wurde zusätzlich
palliativmedizinisch begleitet. In dieser Behandlungsgruppe lebten die Patienten nicht nur
mit höherer Lebensqualität und besserer psychischer Verfassung, sondern auch deutlich
länger. Die Verlängerung der Lebenszeit betrug im statistischen Mittel 2 Monate, was in
diesem Ausmaß kein modernes Krebstherapeutikum bewirken kann. Das hat in Fachkreisen
für großes Aufsehen gesorgt, zumal die Ergebnisse inzwischen in weiteren Studien und für
andere Krankheitsbilder bestätigt werden konnten. Biologisch lässt sich das gut erklären:
Stressfaktoren wie Schmerzen, Sorgen, Angst, Unsicherheit kosten Lebensenergie und
schwächen das Immunsystem. Palliativmedizin hat demnach auch ein heilsames Potential.
Die meisten Menschen sind sehr wohl in der Lage, ihr Schicksal anzunehmen, sich
unabänderlichen Tatsachen zu beugen, auch, sich damit abzufinden, dass ihre Lebenszeit
überschaubar wird. Dieser Prozess benötigt Zeit - Zeit, sich in die neue Situation hineinzufinden. Dieses Hineinwachsen ist ein aktiver Prozess und führt dazu, dass die Betroffenen
wieder zu Akteuren werden. Ziel ist es, möglichst bis zuletzt autonom und selbstbestimmt zu
bleiben, sich dem Schicksal nicht passiv beugen zu müssen, sondern es anzunehmen und
dennoch Herr der Lage zu bleiben. Gelingt dies, empfinden wir die Situation als würdevoll.
„High person - low technology“ ist eines der von Cicely Saunders geprägten Prinzipien. Das
heißt, die menschliche Beziehung und Fürsorge tritt in den Vordergrund, das medizinisch
oder technisch Machbare in den Hintergrund. Ziel der Therapie ist eine möglichst gute
Lebensqualität des Patienten. Palliativmedizin bejaht das Leben und wendet sich gegen seine
Verkürzung, allerdings auch gegen sinnlose Therapieversuche, die den Patienten belasten
und verhindern, dass er die verbleibende Lebenszeit optimal nutzen kann. Offenheit und
Wahrhaftigkeit sind Grundlage des Vertrauensverhältnisses zwischen allen Beteiligten.
Drei Aspekte möchte ich als wesentlich bei der Behandlung Schwerkranker und Sterbender
herausstellen, gleichsam wie drei Säulen um eine im Wortsinn „tragende Beziehung“
aufzubauen:
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1. Kommunikation auf Augenhöhe
Arzt und Patient gehen bei jeder Behandlung - auch im Rechtssinn - einen Behandlungsvertrag miteinander ein. Beide tragen Verantwortung und bringen ihre Expertise ein.
Der Arzt informiert über die Erkrankung, deren Ablauf, Behandlungsmöglichkeiten,
Behandlungsziele und -grenzen. Der Patient übernimmt Verantwortung für sich selbst,
willigt in diagnostische und therapeutische Maßnahmen ein, d.h. er entscheidet über
seinen individuellen Behandlungsverlauf im Rahmen der medizinischen Möglichkeiten,
aber auch seiner individuellen Wünsche. So ist es vorgesehen, doch wie sieht es in der
Praxis aus ? Diesem Anspruch gerecht zu werden verlangt allen Beteiligten viel ab. Dem
Arzt eine hohe fachliche und kommunikative Kompetenz, aber auch Empathtie und
Erfahrung, denn ihm obliegt es, die medizinische Diagnose und die sich daraus
ergebenden Konsequenzen für den Patienten in dessen Erfahrungshorizont zu
übertragen. Nur wenn der Patient seine Erkrankung verstehen und einschätzen kann, ist
er in der Lage, Entscheidungen von großer Tragweite zu fällen. Dann kann er
Verantwortung für sich und seine Angehörigen mit allen Konsequenzen, die sich aus der
Erkrankungssituation ergeben, übernehmen. Gelingt die Kommunikation in dieser Weise,
resultiert daraus in der Regel ein vertrauensvolles und gutes Arzt-Patient-Verhältnis, das
von gegenseitiger Achtung getragen wird.
Freilich klaffen Wunsch und Wirklichkeit im Alltag oft weit auseinander, wir stoßen auf
persönliche, personelle, organisatorische und mentale Grenzen. Es gibt viel Nachholbedarf, insbesondere in der individuellen und kollektiven Auseinandersetzung mit
Krankheit, Gebrechlichkeit, und der Endlichkeit unseres Lebens. Doch nur dann, wenn wir
persönlich wie interfamiliär in der Lage sind, uns diesen Themen zu stellen, handeln wir
wirklich eigenverantwortlich und selbstbestimmt. Bevor wir unsere Wertvorstellungen in
einem Dialog vertreten können, müssen wir sie erst einmal für uns selbst formulieren.
2. Sicherheit
Wenn das Leben durch Krankheit bedroht ist, nimmt das Bedürfnis nach Sicherheit einen
hohen Stellenwert ein. Ein Patient und auch seine Angehörigen möchten sich darauf verlassen können, in jeder Phase der Erkrankung gut betreut und aufgefangen zu werden.
Dann ist auch eine Auseinandersetzung mit dem bevorstehenden Tod möglich. Diese Verlässlichkeit sollte sich erstrecken auf
- die fachliche Kompetenz der Behandelnden
- eine optimale Therapie auf der Grundlage fachlicher Leitlinien, die jedoch den Patienten
als Gesamtpersönlichkeit im Kontext seines persönlichen Lebenshintergrundes im Auge
behält, seine Bedürfnissen, Wünschen uns Zielen möglichst gerecht wird
- Wahrhaftigkeit und Offenheit in der Kommunikation auf Augenhöhe mit allen Beteiligten
- die Zusicherung, niemanden leiden zu lassen. Kann die Erkrankung nicht behandelt
werden, so doch alle denkbaren belastenden Symptome, die im Verlauf auftreten können wie Schmerzen, Luftnot, Übelkeit, Angst . . . Wenn es ganz hart kommt, besteht als
ultima ratio auch die Möglichkeit, eine sog. „Palliative Sedierung“ vorzunehmen, d.h.
einen Patienten medikamentös in den Schlaf zu versetzen, ähnlich wie bei einer
Narkose.
- erreichbar zu sein, als fester Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen, bzw. für feste
Ansprechpartner zu sorgen.
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3. Multiprofessionalität und Vernetzung
Palliativmedizin ist immer Teamarbeit. Weil sie, wie schon beschrieben, multidimensional
ist, muss sie auch multiprofessional sein. Nicht nur Ärzte und Pflegende sind in die Betreuung der Patienten und ihrer Angehörigen involviert, auch Psychologen, Physiotherapeuten, Sozialarbeiter, Seelsorger, Ernährungsberater sowie Kunst- und Musiktherapeuten. Diese Strategie ermöglicht eine Erweiterung des Blickfeldes in beide Richtungen.
Der Patient wird von unterschiedlichen Menschen und Professionen und damit auch aus
unterschiedlichen Richtungen in seiner Einmaligkeit wahrgenommen. Es werden ihm aber
auch sehr vielfältige Möglichkeiten der Unterstützung angeboten, die er nach seinen Bedürfnissen annehmen oder ablehnen kann.
Die Vernetzung umfasst sowohl den stationären wie ambulanten Bereich. Sie beinhaltet
die Zusammenarbeit mit Hausärzten, ambulanten Pflegeteams, spezialisierten Palliative
Care-Teams, den Palliativstützpunkten der benachbarten Landkreise sowie den ambulanten Hospizdiensten und den Hospizen der Region.
Wenden wir uns nun dem eigentlichen Thema dieses Vortrages zu und versuchen zusammenzufassen, welche Möglichkeiten uns die Palliativmedizin bietet und wo sich Grenzen
finden. Ich denke, aus dem bereits Gesagten geht hervor, dass sehr viel von äußeren
Umständen aber auch den beteiligten Personen abhängt.
Als Positiva verbuchen wir die Entwicklung der Disziplin Palliativmedizin in den vergangenen
Jahren. Den Zuwachs an Palliativstationen, die steigende Zahl an Palliativmedizinern,
spezialisierten Pflegekräften und Mitgliedern anderer beteiligter Berufsgruppen. Die
Tatsache, dass Palliativmedizin jetzt auch Einzug in das Medizinstudium gefunden hat und
damit zum festen Ausbildungsinhalt von Ärzten geworden ist, aber auch die Bewusstseinsänderung in der Bevölkerung haben zu einem Umdenken beigetragen. Viele Patienten machen
sich mittlerweile Gedanken über die die Gestaltung ihrer letzten Lebensphase und die
Umstände ihres Sterbens, sie versuchen in Patientenverfügungen ihre Wünsche zu
formulieren und sprechen vorab mit ihren Angehörigen. Es ist gelungen, das Thema aus der
Tabuzone zu holen und es gelingt immer besser. Die Möglichkeiten einer ambulanten
palliativmedizinischen Betreuung bis hin zur Finalpflege zuhause wurden ausgebaut, das
Angebot beginnt niederschwellig und lässt sich individuell und flexibel aufstocken. Die
Forschung im Bereich Palliativmedizin nimmt einen immer größeren Stellenwert ein, kürzlich
ist auch die „Leitlinie Palliativmedizin“ erschienen. Palliativmedizin ist keine Nischendisziplin
mehr, die da beginnt, wo klassische Medizin aufhört, sondern hat dort Einzug gehalten, wo
sie gebraucht wird: In die Hausarztpraxen, die Onkologie, überall wo chronische Krankheiten
sich verschlechtern und deren Symptome die Patienten belasten und vital bedrohen (z.B.
schwere Lungenerkrankungen, Herzschwäche, ALS ….). Selbst vor Bereichen wie der Intensivund Rettungsmedizin, die primär dem Erhalt des Lebens und der Aufrechterhaltung von
Organfunktionen dienen, hat die Palliativmedizin nicht Halt gemacht. Grundsätzlich sieht es
also gut aus für einen jeden, der einer palliativmedizinischen Begleitung bedarf.
Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang die „Charta zur Betreuung schwerstkranker
und sterbender Menschen in Deutschland“, die unter der Trägerschaft der Deutschen
Gesellschaft für Palliativmedizin, dem Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verband und der
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Deutschen Ärztekammer erstellt wurde und darauf hinwirken soll, dass „. . .jeder Betroffene
unabhängig von der zugrundeliegenden Erkrankung, von der persönlichen Lebenssituation
oder vom Versorgungsort eine qualitativ hochwertige Versorgung und Begleitung erhält. „
Dabei handelt es sich nicht um eine Unterschriftenaktion im Sinne eines Volksbegehrens,
sondern es soll ein Prozess angestoßen werden. Die unterzeichnenden Einzelpersonen,
Institutionen und Vertreter der Politik erklären, sich aktiv für die in den fünf Leitsätzen
formulierten Ziele einzusetzen.
Wo finden sich Grenzen ?
Ganz wichtig: Grenzen finden sich in unserer aller Köpfe ! Sie sind bei jedem anzutreffen, bei
Patienten, Angehörigen, Medizinern. Ein jeder ist aufgefordert, bei sich nachzuschauen. Zu
oft folgen wir eingefahrenen Mustern, handeln reflexartig oder aus Gewohnheit. Es gibt
keine klaren Richtlinien, wann eine palliativmedizinische Begleitung beginnen sollte. Wird sie
jedoch erst spät oder vielleicht gar nicht angeboten, raubt man Patienten und ihren
Angehörigen wichtige Zeit, die sie benötigen, um sich aktiv auseinanderzusetzen. Es ist nicht
gnädig, Patienten den eigenen Tod ersparen zu wollen, indem man den Ernst der Lage
totschweigt. Die meisten Menschen spüren, dass es zu Ende geht und sind dann sich und
ihren Sorgen allein überlassen.
Immer wieder einmal wird von Fällen berichtet, in denen auch Palliativmedizin an ihre
Grenzen stößt, Patienten und Angehörige sinnlos leiden und die Frage nach einem assistierten Suizid laut wird. Begründet wird dieses Ansinnen ethisch, nämlich mit dem Recht eines
Menschen, über den eigenen Tod bestimmen zu dürfen im Sinne seiner Autonomie. Doch
selbst wenn Patienten in einer scheinbar ausweglosen Situation im Suizid eine gangbare
Lösung sehen mögen, steht in der Regel nicht ihr Todeswunsch im Vordergrund, sondern
vielmehr die Sehnsucht nach einer Beendigung ihres Leidens.
Obwohl die Palliativmedizinische Versorgung in den vergangenen Jahren große Fortschritte
gemacht hat, steht sie längst nicht allen Patienten mit einem entsprechenden Bedarf zur
Verfügung. Als Beispiel sei angeführt, dass nur 15 % der bundesweit rund 2000 Krankenhäuser über eine Palliativstation verfügen. Es geht also weniger um ein Versagen der
Palliativmedizin als den unzureichenden Zugang zu einer adäquaten palliativmedizinischen
Versorgung.
Überrascht bin ich immer wieder, wie archaisch sich viele den Sterbeprozess vorstellen.
Dank einer zunehmenden Offenheit werde ich immer häufiger direkt gefragt: „Wie ist das,
wenn man stirbt ? Im Gespräch zeigt sich dann, dass sich viele Menschen einen
„Todeskampf“ vorstellen, ein leidvolles und abruptes Versagen wichtiger Organfunktionen insbesondere ein Ersticken. Geschuldet ist das sicher der Tatsache, dass wir unseren Körper
als biologisch funktionierende Maschine wahrnehmen. Wenn ich dann erkläre, dass Sterben
in der Regel ein längerer Prozess ohne klar definierten Beginn ist, der sich langsam über Tage
oder Wochen hinziehen kann und dadurch geprägt ist, dass sich das Leben langsam und
durchaus friedvoll aus dem Körper zurückzieht, sofern man diesen Prozess zulässt, sind
meine Gesprächspartner oft überrascht. Dass Sterben wie die Geburt ein grundsätzlich
natürlicher Prozess und kein medizinischer Ausnahmezustand ist, ist den meisten von uns
zwar rational klar, aber es fehlt uns die transgenerationale Erfahrung. Zu lange haben wir
Sterbende an Institutionen abgegeben. Menschen, die einen leidvollen Strebeprozess be-
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fürchten, neigen dazu, in der theoretischen Option eines assistierten Suizids eine Möglichkeit zu sehen, diesem Leiden entgehen zu können.
Palliativmedizin lebt von menschlicher Fürsorge. Im Hinblick auf die medizinischen Leistungen, die uns allen zustehen, darf das deutsche Gesundheitssystem sicherlich als das beste
weltweit angesehen werden. Alternativlos ist auch die Tatsache, dass die Kosten für
Gesundheit bezahlbar bleiben müssen. Doch unser Gesundheitssystem gerät immer mehr in
eine Schieflage. Einerseits steigen die Kosten für Arzneimittel und technische Geräte in
astronomische Höhen, andererseits führt die Ökonomisierung unseres Gesundheitswesens
zu einem Bilanzdenken, dem sozialethische und humanitäre Aspekte zunehmend zum Opfer
fallen. Die Folgen nicht nur im Krankenhaussektor sind bekannt. Besonders personalintensive Einrichtungen wie Palliativmedizin gelten als „unwirtschaftlich“ und bleiben auf der
Strecke.
Ausblick
Was brauchen wir ? Es geht um ganz grundlegende Werte, die jeden einzelnen von uns aber
auch unsere gesamte Gesellschaft betreffen. Es geht darum, ein Bewusstsein zu erzeugen, zu
sensibilisieren und es geht darum, flankierende Maßnahmen zu treffen, um die von uns
gesetzten Ziele auch erreichen zu können.
 Wertorientierung
- Debatte zur Priorisierung gesundheitspolitischer Ziele und Schwerpunkte
- Stärkere Reflektion in Umgang und sozialem Miteinander hinsichtlich Krankheit, Sterben, Trauer und Tod
 Information
- Ausweitung palliativmedizinischer Inhalte in der Ausbildung medizinischer Berufsgruppen, ganzheitlicher Ansatz von Krankheit und Gesundheit
- Orientierungsmaßnahmen für Berufsgruppen, die verstärkt mit den Themen Sterben
und Tod konfrontiert werden (zum Beispiel Polizeidienst und Rettungswesen).
- schulische Information und Bildungsangebote für Erwachsene, um eine ethisch und
moralisch angemessene Orientierung zu den Themen Krankheit, Sterben und Tod zu
ermöglichen
 Definierte Standards
- Palliativgesetz
- Einführung eines Palliativbeauftragten in jedem Krankenhaus und Pflegeheim
- Sicherstellung einer kontinuierlichen und tragenden Palliativversorgung durch
regionale Netzwerkbildung im ambulanten und stationären Bereich
- realistische Personalschlüssel als bindendes Qualitätsmerkmal in Einrichtungen der
Palliativversorgung
Ich hoffe, dass ich Ihnen zeigen konnte, Palliativmedizin betrifft uns alle, heute, hier und
jetzt. Palliativmedizin ist keine Sterbemedizin aber auch keine spezielle Dienstleistung, die
angefordert oder verordnet werden kann. Palliativmedizin erfordert eine Haltung aus der
Mitte der Gesellschaft heraus, sie muss gewollt, getragen, gelebt und finanziert werden dann kann sie funktionieren.