Schlichter Dichter

Impressum
Copyright © 2016 bei Helmut Böger
Verlegt bei epubli
Umschlagillustration: © Seamartini Graphics / Fotolia.com
Gestaltung und Satz: me+Gestaltung
Endkorrektur: Dr. phil. Jens Szczepanski
Printed in Germany
ISBN 978-3-7375-8839-3
Inhalt
Strafversetzt ......................................................................................................5
Carbonara-Klatsch
......................................................................................8
Verlegene Verlegerin ...............................................................................12
Semi-Journalismus ................................................................................... 17
Cafe Olé Olé ...................................................................................................22
Adlerklause ....................................................................................................26
Lusthansa ......................................................................................................... 32
Anschiss ............................................................................................................38
Es grünt so grün .........................................................................................43
Talk mit Schalk ............................................................................................48
S-Klasse ............................................................................................................. 55
Allerlei Reimerei .........................................................................................65
Intrigen-Luder ............................................................................................. 70
Vergenschert ..................................................................................................77
Victoria’s Secret ...........................................................................................83
Cala Callina ...................................................................................................90
Walt Whitman .......................................................................................... 103
Muttermal .................................................................................................... 112
FKK ................................................................................................................... 125
Baselitz ............................................................................................................ 133
Hausmitteilung ........................................................................................ 143
Gräin Brühl ............................................................................................... 152
Fit to print .................................................................................................... 161
Touri-Tour .................................................................................................... 173
Ratzfatz ........................................................................................................... 187
Warmer Wein ............................................................................................ 197
Reimlust & heaterdonner ..............................................................205
Uschi mag Sushi ...................................................................................... 215
Buddhas Mata Hari ...............................................................................224
Koks und Pipi-Pornos .........................................................................234
Stunk beim Umtrunk ..........................................................................244
Reimieber .................................................................................................... 256
Aye aye & Bye bye ................................................................................... 272
Projekt Pegasus ......................................................................................... 283
Was danach geschah ............................................................................. 296
Über Helmut Böger ................................................................................300
Strafversetzt
„Je preiser gekrönt, desto durcher gefallen.“ Buddha, wie wir den
Chefredakteur wegen seiner Leibesfülle nannten, hatte gesprochen.
Der Ressortleiter des Feuilletons, ein Opportunist, und zwar ein
einfallsloser, plichtete ihm wie üblich bei: „Ein Satz für den Zitatenschatz!“ Buddha, ansonsten jeder Schmeichelei zugeneigt, erwiderte: „Ja, leider nicht von mir, auch nicht – wie ot behauptet – von
Alfred Kerr, sondern von Josef Hellmesberger. Das war ein österreichischer Musiker des 19. Jahrhunderts.“
„Und was passiert nun?“, fragte ich in die Runde der Ressortleiter, in die ich nur vertretungsweise geladen war, denn mein Boss,
der Chef des Sportressorts, war wieder mal auf einer gesponserten,
überlüssigen Dienstreise.
Buddha legte beide Daumen unter seine blauen Hosenträger, tat
so, als denke er nach und kümmere sich nicht um die Versammlung
der leitenden Redakteure. Dann spannte er die wegen seines Bauchumfangs notwendigen Beinkleidhalter, ließ sie zurückschnellen,
strich sich wie häuig über seinen im Laufe von Jahrzehnten, die er
bei seiner Zeitung verbracht hatte, ergrauten stattlichen Schnurrbart und sagte, ihm sei die Entscheidung im Falle Heinrich Weinrich alles andere als leichtgefallen, der sei ja nun genauso lange bei
dem Blatt wie er selbst, und habe große Meriten. „Kein anderer
Kollege einer vergleichbaren Regionalzeitung hat sowohl den Henri-Nannen- als auch den heodor-Wolf-Preis bekommen, und zwar
zu Recht. Ich weiß ja, dass der Spiegel und der Stern und wohl auch
Die Zeit hinter ihm her waren und ihn abwerben wollten. Aber er
ist geblieben. Das rechne ich ihm hoch an, auch die Verlegerin übrigens, mit der ich gestern lange über diese Personalie gesprochen
habe. Sie sieht es genau so wie ich: Heini Weini“ – jetzt benutzte
Buddha mit leicht verächtlichem Unterton den Spitznamen des
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Chefreporters – „ist nicht mehr zu halten, jedenfalls nicht in seiner
jetzigen Funktion. Das können wir den Lesern nicht zumuten.“
„Also Entlassung?“, fragte die Betriebsratsvorsitzende mit hektischen roten Flecken im Gesicht. „Wie wollen Sie das denn gegenüber Kress und Co, also nach außen, begründen? Wir machen uns
doch als Zeitung lächerlich, wenn wir jemanden rausschmeißen,
weil er nur noch in Reimen redet …“
„… und schreibt! Das ist ja das Schlimme“, unterbrach Buddha
die Arbeitnehmervertreterin, „aber beruhigen Sie sich. Von Entlassung ist überhaupt nicht die Rede. Sie alle wissen doch, dass ich ein
großer Freund der Lyrik bin, also guter Gedichte. Schließlich habe
ich über Else Lasker-Schüler promoviert …“
„Fakten und Fiktion über das Wupper-Tal im Werk von Else Lasker-Schüler“, nannte der Ober-Feuilletonist eilfertig den Titel von
Buddhas Dissertation, als ob der irgendeinem im Raum unbekannt
gewesen wäre.
„Schon gut, Herr Kollege“, wies der Chefredakteur den Redaktions-Schleimer zurecht, „es geht ja nicht nur um Heini Weini, sondern um die Reputation des Blattes. Deshalb wird er ab sofort die
Schlussredaktion übernehmen. Er wird also nur versetzt …“
„Strafversetzt!“, kommentierte der Politik-Chef, der gerade von
einer Wehrübung in Munster zurückgekehrt war.
Nun wurde Buddha böse. „Er wird versetzt. Und um gleich einen
Einwurf der verehrten Arbeitnehmervertreterin zu entkräten: bei
Fortzahlung seiner bisherigen Bezüge. Mir ist durchaus bewusst,
dass wir wegen der schwierigen Lage im gesamten Printsektor kürzlich die gesamte Schlussredaktion entlas … äh freisetzen mussten.
Aber wir alle haben ja bemerkt, dass kein Rechtschreibprogramm
einen erfahrenen Schlussredakteur ersetzen kann. Und dass Kollege Weinrich den neuen Job kann, daran gibt es ja wohl keinen
Zweifel in dieser Runde.“ Ein drohendes „Oder?“ folgte.
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Der Ressortleiter Politik, der wegen seines Ranges als Major der
Reserve gern militärische Begrife verwendete, räusperte sich und
fragte: „Weiß Kollege Weinrich von seiner Straf … also von seiner Anschlussverwendung?“ – „Ja, er ist einverstanden, habe heute
mit ihm gesprochen“, antwortete der Chefredakteur. „Und wie hat
er reagiert?“, fragte ich, obwohl mir durchaus bewusst war, dass
ich, der nur als Vertretung an der Ressortleiter-Runde teilnehmen
durte, eigentlich nur zuhören sollte.
Doch Buddha reagierte gnädig. „Na, wie wohl? Mit schlechten
Reimen. Er sagte, wenn ich mich richtig erinnere: ‚Der neue Job ist
mir eine Ehre, gegen die ich mich nicht wehre. Denn einem Redakteur ist nichts zu schwör. Doch auch in Zukunt werde ich nur noch
in Reimen schreiben und auch sprechen. Dies ist kein Verbrechen.
Erstens kommt der Reim, dann kommt der Sinn. Sinnverlust ist
Lustgewinn.‘ “
Während wir das Zimmer des Chefs verließen, raunte mir die
Leiterin der Wirtschatsredaktion, die während der gesamten Konferenz geschwiegen hatte, zu: „Der Zwang zum Reim sucht auch
mich ot heim!“
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Carbonara-Klatsch
Kurz vor Mittag nach dieser denkwürdigen Ressortleiter-Koni
rief mich Marlene an, die wir alle Lene nannten und wegen ihrer
burschikosen Art mochten, aber auch, weil ihr dominanter Busen die Fantasie der männlichen Redakteure, zumindest die der
Heteros, belügelte. Seit vielen Jahren war Lene, die ihr eigentlich
dunkles Haar seit geraumer Zeit grau färbte, was ihrem Sex-Appeal keineswegs abträglich war, Sekretärin im Lokalressort und half
auch gelegentlich im Vorzimmer der Verlegerin aus.
Lene, so hieß es, wußte alles und plauderte nie, also so gut wie
nie. Sie wusste genau, wem sie etwas anvertrauen konnte an kleinen
und großen Geheimnissen. Und manchmal informierte die große
Strategin die Klatschmäuler im Verlag in der sicheren Hofnung,
dass ihre Infos weitergetratscht würden. Doch wen sie ins Vertrauen zog, der hatte gewonnen. Ich gehörte zu dem elitären Marlene-Zirkel, obwohl ich erst seit wenigen Jahren bei dem Blatt war.
Warum ich ihr Vertrauen genoss, kann ich nur vermuten. Gesprochen haben wir nie darüber. Während einer Karnevalsfeier in
der Redaktion vor drei Jahren hatte sich Lene ziemlich sinnvoll betrunken. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte sie Zof mit ihrem
geschiedenen Mann. Aber der Grund ist auch ziemlich egal. Ich
hatte sie damals nach Hause gefahren und die Situation nicht ausgenutzt, sondern sie nur brav in ihr Bett gebracht und mich dann
verabschiedet – was mir keineswegs leicht gefallen war. Jetzt fragte
Lene, ob ich Lust habe, mit ihr eine Nudel zu essen in der Pizzeria
„Roma“ gegenüber dem Verlagshaus. Da ich Kantinenessen möglichst meide, sagte ich gerne zu.
Ich kam ein paar Minuten zu spät, weil mich mein Sport-Chef
anrief und mir unbedingt mitteilen musste, wie anstrengend doch
seine Dienstreise sei. Ich hörte mir sein Gelaber an und wünschte
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ihm zum Abschied „ereignisreiche Tage“. Doch ein Ohr für Ironie
hatte er nie. Ach, das reimt sich.
Beim Betreten der Pizzeria rief mir Lene grinsend zu: „Hallo,
mit Oma ins Roma!“ Nach Reimscherzen war mir seit der Buddha-Koni nun gar nicht. „Na, Oma bist du noch nicht“, antwortete
ich einfallslos. „Aber meine Tochter arbeitet daran“, erwiderte Lene
und reichte mir die Speisekarte. „Ach, die brauch’ ich nicht. Ich
nehme das Carpaccio mit Champignons. Als Sportmensch muss
ich auf meine Figur achten.“ Lene lächelte mich mit ihrem immer
noch puppigen Gesicht an und stellte kokett fest: „Ich darf nicht
abnehmen. Sonst passiert es noch an den falschen Stellen. Deshalb
hätte ich gern eine ordentliche Portion Spaghetti carbonara.“
Kaum hatten wir bei Luigi, der aus Pakistan stammte, aber um
der „Roma“-Reputation willen vom kalabrischen Patron einen italienischen Vornamen erhalten hatte, bestellt, wurde Lene ernst. „Sag
mal, Sven, bist du sicher, dass Buddha die Wahrheit gesagt und er
dem Heini den Arsch gerettet hat?“
„Hm“, zögerte ich mit der Antwort, „ich bin mir da nicht so sicher, aber vielleicht doch. Die beiden haben hier ja gleichzeitig angefangen, und von Buddha habe ich in all den Jahren kein böses
Wort über Heini gehört.“
„Also, was ich dir jetzt sage, ist absolut entre nous“, – diese Formulierung liebte Lene – „nur Heini kannst du es sagen, solltest du
sogar, damit er weiß, woran er ist. Ihr beiden seid doch befreundet.
Oder irre ich mich da?“ – „Na, da bin ich mir nicht so sicher“, dachte ich laut nach, „so’n Zwischending zwischen guten Kollegen und
Freunden. Wir sind ein paarmal zusammen beim Fußball gewesen;
er hat gelegentlich, wenn er mal in der Redaktion war und nicht
irgendwo in der weiten Welt, meine Texte verbessert, ohne dass er
sich damit Kollegen gegenüber gebrüstet hätte. In seiner Stammkneipe, der ‚Adlerklause‘ am Alten Markt, haben wir auch schon mal
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zusammen ein Bier getrunken. Ich glaube übrigens, Heini und die
Wirtin, also da ist mehr.“
„Weiß ich doch, ist ja auch ein attraktiver Kerl, der Heini, einer,
bei dem sich Frauen wohlfühlen, nicht nur weil er so etwas Bäriges
hat. Er kann Menschen und speziell Frauen gut unterhalten und
zum Lachen bringen, jedenfalls langweilt man sich nicht bei ihm“,
schwärmte Lene.
Ich guckte sie neugierig an. „Nein, nicht was du nun wieder
denkst. Heini und ich, wir waren immer nur gute Kumpel. Ach du
Scheiße“, unterbrach sie sich, „jetzt habe ich schon ‚waren‘ gesagt.
Wir sind gute Kumpel und wollen es bleiben, auch wenn er nun
nicht mehr Chefreporter ist, Heini, der Reimer. Ich fass’ es nicht.“
„Aber was wolltest du mir denn Geheimnisvolles anvertrauen, so
ganz entre nous?“, lächelte ich sie verschwörerisch an.
Da der pakistanische Luigi gerade den Teller mit der üppigen
Portion Spaghetti auf den Tisch gestellt hatte, wickelte Lene eine
mundgerechte Portion um die Gabel. Ohne einen Löfel zu benutzen, stopte sie sich die Teigwaren in den Mund, kaute genüsslich
und schaute mich mit ihren grünen Augen an.
„Buddha wollte Heini loswerden, rausschmeißen. Ich weiß das
deshalb, weil sie mir das selbst gesagt hat. Ganz konsterniert war
die Verlegerin. Ich war nämlich gestern zur Vertretung im Chefsekretariat, weil Madame“ – so nannten wir wegen ihres vornehmen
Getues die eigentliche Assistentin der Verlagsinhaberin – „ihre
Tage hatte oder nicht kacken konnte oder warum auch immer. Und
Buddha war beim Vieraugengespräch mit der Chein. Und als der
raus war, musste ich sie mit dem Justiziar verbinden. Und als das
Gespräch beendet war, kam sie raus und war ganz bleich, wollte
einen Cognac haben, obwohl sie doch sonst nie Alkohol trinkt.
Und dann ist es ihr nur so rausgeplatzt. ‚Wie kann man sich in
einem Menschen so täuschen‘, hat sie gesagt, ‚da denkt man, der
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Herr Chefredakteur und unser allseits hochgeschätzter Chefreporter seien ein kollegiales Team, dass sie einander sogar mögen, und
dann so etwas. Da will er die Existenz eines Menschen vernichten,
zumindest die beruliche, nur weil der so eine Art Reimzwang hat.
Aber nicht mit mir. Ich rede ja grundsätzlich nicht in die Redaktion
hinein, aber diesmal habe ich es getan. Heinrich Weinrich bleibt.‘
Ja, das hat sie gesagt, die Chein, und dafür hätte ich sie am liebsten
geküsst.“
Mir iel nach dieser Ofenbarung nichts anderes ein als zu fragen:
„Warum hast du es nicht getan? Es heißt doch, sie stehe auf Frauen“
– „Ich aber nicht“, stellte Lene genussvoll kauend fest.
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Verlegene Verlegerin
Was Lene mir zum Weitererzählen anvertraut hatte, das hatte
mich ziemlich erstaunt. Es war tatsächlich höchst ungewöhnlich,
dass die Verlegerin, die sich selbst niemals so nannte, sondern
Mehrheitsgesellschaterin, eine Entscheidung des Chefredakteurs
missbilligte und sogar widerrief. Zumal, wenn dies Geld kostete,
ihr Geld.
Ich war ihr ein paar Mal begegnet, meist auf Reitturnieren. Früher, als junge Frau, war sie, wie ich in Archiven überregionaler Blätter recherchiert hatte, eine talentierte Amazone und wäre beinahe
in die Nationalmannschat der Dressurreiterinnen gekommen.
Wenn wir uns trafen, war ich immer bemüht, meine mangelnden
Reitsportkenntnisse zu kaschieren. Ich bin nun mal ein Fußballmensch. Obwohl sie merken musste, dass ich von ihrer Leidenschat bestenfalls Wikipedia-Wissen hatte, war sie gleichbleibend
freundlich, kühl-freundlich.
Einmal, als ich erst kurz bei ihrer Zeitung angestellt war, ihre
Marotten noch nicht kannte und sie mit „Ah, meine Verlegerin“
linkisch begrüßt hatte, wies sie mich hölich zurecht: „Lassen Sie
das. Verlegerin, das macht mich ganz verlegen. Ich verlege höchstens meine Brille.“
„Ja, aber …“, widersprach ich. „Kein aber. Mein Vater, der war
Verleger mit Leib und Seele. Mein Bruder wäre es geworden, ganz
sicher, wenn er …“ Der Satz verhungerte unvollendet. Sie fuhr fort:
„Ich bin nur die Erbin, die Verwalterin eines gelegentlich bedrückenden Nachlasses. Aber lassen wir das. Schauen Sie sich lieber
die elegante Gangart dieser Schimmelstute an.“ Ich gehorchte.
Nach diesem Gespräch mit der verlegenen Verlegerin fragte ich
am nächsten Tag Heinrich Weinrich, der gerade von einer Reportage über das Albert-Schweitzer-Hospital in Gabun zurückgekehrt
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war, ob er mich über die Geschichte der Zeitung und der Verlegerfamilie auklären könne. „Klar, mache ich gerne und sofort“,
grinste der Chefreporter, der zu jener Zeit noch ganz normal und
reimlos sprach, „ich suche nämlich gerade nach dem besten Einstieg in die Lambarene-Story, und weil mir bisher keiner eingefallen ist, bin ich für jede Ablenkung dankbar.“ Er ingerte aus einem
auf dem Schreibtisch stehenden Humidor eine mittelgroße Zigarre,
biss mit seinen gelblichen Zähnen ihren Kopf ab und entzündete
sie mit höchster Konzentration. Eigentlich herrschte im gesamten
Verlagsgebäude auf Anordnung der Verlegerin, die nicht so tituliert
werden wollte, Rauchverbot seit den Tagen, als sie selbst mühsam
dem Nikotin entsagt hatte. Aber Heinrich Weinrich als privilegierter Einzelzimmerbewohner ignorierte diesen Ukas wie viele der
älteren Redakteure.
„Also, lieber Kollege, es folgt die Geschichte unserer kleinen,
aber immer noch feinen Zeitung im Schweinsgalopp, und zwar so,
wie sie nicht im Internet steht. Sie beginnt Ende der 30er Jahre,
als der Gründer, ein knorriger Sozialdemokrat, vor den Nazis nach
England ins Exil lüchtete. Die Braunen nahmen ihm weniger sein
Sozi-Sein übel, sondern dass er sich nicht von seiner jüdischen Frau
scheiden lassen wollte. Im Exil hat er sich mehr schlecht als recht
durchgeschlagen mit Schreiben, obwohl das nie seine Stärke war.
Immerhin hat er mit homas Mann korrespondiert, wird sogar
mehrfach in dessen Tagebüchern erwähnt, wenn auch nicht immer
schmeichelhat. Nachdem der Nazi-Spuk vorbei war, bekam er von
den Briten die Lizenz fürs Zeitungsmachen, das war kurz nach dem
Krieg gleichbedeutend mit der Erlaubnis, Geld zu drucken.“
„Wie, musste man damals eine Lizenz haben, um eine Zeitung zu
gründen?“, fragte ich; Geschichte hatte mich in der Schule nämlich
immer gelangweilt. „Ja, musste man“, erklärte mir der Chefreporter nachsichtig, „nun hatte er also die Lizenz und suchte Redakteu13
re, ein paar kannte er, oder sie wurden ihm von der SPD empfohlen.
Dann stellte er den Walter Wiese ein. Sagt dir der Name was?“
„Nee“, zuckte ich mit den Schultern.
„Also, Wiese war ein glänzender Organisator und guter Schreiber. In seinem Lebenslauf hatte er auch nicht verschwiegen, dass er
im Krieg Oizier war. Doch hatte er vergessen zu erwähnen, dass er
dies nicht in der Wehrmacht, sondern in der Wafen-SS war. Unser
Verleger hatte dem Wiese völlig vertraut. Als er die Wahrheit erfuhr, irgendwann in der späten 50ern, war er ix und fertig. Das hat
er mir selbst mal so erzählt.“
„Du kanntest ihn also noch?“, fragte ich.
„Na klar, er hat mich und Buddha ja noch selbst eingestellt, am
selben Tag. Deshalb genieße ich hier in der Redaktion nicht nur
Presse-, sondern auch Narrenfreiheit.“
Weinrich lachte und musste husten. Er fuhr dann fort: „Doch die
Folgen des Falls Wiese waren schlimm. Der Alte, eigentlich ein vertrauensvoller Kumpeltyp, wurde extrem misstrauisch. Und dann
passierte die Sache mit seinem Sohn, ein Sonnyboy, der die Frauen
liebte und den Whisky und seine heißen BMWs. Völlig blau lenkte
er seine Maschine gegen den einzigen Baum auf der Landstraße
nach Norden, da wo heute noch das Kreuz steht, nicht das Kreuz,
sondern eines von vielen, denn die Kreuze werden ot geklaut.
Nach dem Tod seines Sohnes war der Alte nicht mehr nur extrem
misstrauisch, er war ein gebrochener Mann.“
„Selbstmord?“, fragte ich.
„Dafür gab es keinen Grund. Der Sohn war überhaupt nicht der
Typ dafür, sich selbst umzubringen. Nee, Todesursachen waren
eindeutig Whisky und BMW. Der Alte bestimmte nun, dass seine
Tochter – die Mutter war schon länger tot – den Verlag erben sollte.
Doch die zickte rum, wollte lieber ihr Studium der Kunstgeschichte in Florenz beenden. Naja, der Alte hat sie dann doch überredet
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oder überzeugt oder genötigt. Ich weiß es nicht, war ja nicht dabei,
leider. Wäre sicher eine tiefgründende Geschichte gewesen.“
„Aber sie macht ihre Sache doch ganz gut, oder?“, warf ich ein.
„Naja, jetzt. Zu Anfang machte sie einige Fehler. Weißt du, was
ihre erste Entscheidung war?“
„Nee, wie sollte ich?“
„Recherchieren, Herr Kollege!“, klang es jetzt etwas von oben herab, „ihr erster Ukas nach dem Tod des Alten aus physischem und
psychischem Gram war, ein totales Alkoholverbot zu verhängen
nicht nur in der Kantine sondern im ganzen Verlag. Darüber stand
eine Personalie im Spiegel. Seitdem hält sich unsere First Lady völlig raus, bis auf das Rauchverbot, also nach außen jedenfalls. Nur
in Personalfragen, da mischt sie intern krätig mit, und durchaus
mit Erfolg. Denn eines hat die Dame neben ihrem unbestrittenen
Kunstverstand: eine fast schon bedrohliche Menschenkenntnis. Sie
durchschaut jeden Blender spätestens nach fünf Minuten.“
Nun wurde mir mulmig wegen der Begegnung mit ihr beim Reitturnier. Ich dachte kurz nach und war sehr zufrieden, dass unser
Gespräch nicht einmal zwei Minuten gedauert hatte.
Heinrich Weinrich blies einen Rauchkringel in sein Büro und
fragte mich: „Kennst du eigentlich den Spruch, der hinter ihrem
Schreibtisch hängt?“ – „Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäß,
„ich hatte noch nicht das Vergnügen, ihr im Chebüro eine Visite
abstatten zu dürfen.“
„Sei froh“, grinste Weinrich, „denn das ist meistens unangenehm.
Also der Spruch lautet: ‚Die erste Generation schat Vermögen, die
zweite verwaltet Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte und
die vierte verkommt vollends‘. Stammt von Bismarck. Und wenn
jemand unsere Besitzerin darauf anspricht, dann sagt sie ‚Sie sprechen hier übrigens mit der zweiten Generation.‘ Das nennt man
wohl Selbstironie oder wie. Au, das reimt sich.“
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Ich bedankte mich bei meinem Mentor und machte mich auf den
Weg zu meinem Schreibtisch. Unterwegs iel mir ein, dass ich gar
nicht danach gefragt hatte, warum die unzweifelhat kluge und
auch nun im fortgeschrittenen Alter nach wie vor attraktive Frau
nicht verheiratet war, ob die Gerüchte, sie ziehe Frauen Männern
vor, denn stimmten. Doch ich traute mich nicht umzukehren.
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Semi-Journalismus
Der Tag, an dem Heinrich Weinrich zum ersten Mal nach seinem
Zwangsurlaub wieder in der Redaktion autauchte, war der wohl
verrückteste in meinem Leben. Na ja, der zweitverrückteste.
Den bizarrsten erlebte ich als fünf Jahre alter Bub, wie meine
Oma mich immer nannte, nachdem ich einer Nonne in meinem
katholischen Kindergarten die Haube vom Kopf gerissen hatte, um
zu erfahren, ob sie wirklich, wie mein Freund Marvin behauptete,
kahl rasiert war. Ich bekam von Schwester Walburga eine schallende Ohrfeige und musste wegen „Insubordination“ – was das genau
bedeutet, musste meine Mama im Duden nachschlagen – den frommen Kindergarten verlassen. Doch wusste ich nun, dass Schwester
Walburga keineswegs eine Glatze trug, sondern ihre Haare raspelkurz. Und ich hatte erfahren, dass Wissenwollen schmerzhat sein
kann. Marvin hat mich sehr bewundert.
Obwohl ich brennend gern wissen wollte, wie Heinrich Weinrich
seine Degradierung vom Chefreporter zum Schlussredakteur aufgenommen hatte, und ob er immer noch ständig in schlechten Reimen
sprach und schrieb, zögerte ich, ihn in seinem Exil-Büro unterm
Dach zu besuchen. Mir wollte einfach kein Vorwand einfallen.
Also las ich die neueste Ausgabe des Kicker noch sorgfältiger als
sonst, guckte im Internet, was die Kollegen von bild.de produziert
hatten, trank einen Kafee mehr als üblich und fragte den Büroboten, während dieser die Post verteilte, ob er schon bei Weinrich gewesen sei. „Jaaa“, sagte er sehr gedehnt und iel ins Flüstern, „der hat
es da ganz gemütlich unterm Dach, der ganze Dachboden für einen
Mann, dat is doch Verschwendung. Da kann er tun und lassen, wat
er will. Es stinkt auch schon wie in seinem alten Zimmer nach Zigarrenqualm. Aber, dat janz im Vertrauen, bei der Post für ihn war
auch ein Brief von einer Klinik für Psiatrie.“
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„Psychiatrie?“, fragte ich den unüberhörbar aus dem Rheinland
stammenden Boten. Er nickte: „Sach‘ ich doch!“
Sollte, überlegte ich, Heinrich Weinrich gar nicht nur freigestellt
oder beurlaubt gewesen sein in den vergangenen Wochen, sondern
im Irrenhaus gesessen haben wegen seines Reimticks? Das Wort
„Irrenhaus“ strich ich gleich aus meinen Gedanken. Unkorrekt.
Nun gönnte ich mir keinen Aufschub mehr, Weinrich unterm
Dach aufzusuchen, auch wenn mir seit Kindergartentagen bewusst
war, wie schmerzhat Erkenntnis sein kann.
Die Redaktion und die Verlagsspitze arbeiteten in einem großzügigen Bürgerhaus in der Innenstadt. Der Verleger hatte das im
Krieg durch Bomben weitgehend zerstörte Haus Anfang der 50er
Jahre, als es mit seinem Blatt aufwärts ging und er ziemlich schnell
ziemlich reich wurde, gekaut und für viel Geld restaurieren lassen. Nun stand es unter Denkmalschutz. Innen war das Gebäude
gerade noch zeitgemäß. Wir normalen Redakteure saßen auf fünf
Etagen verteilt in größeren Räumen zu dritt, viert oder fünt, je
nach Größe des Ressorts, die Ressortleiter hatten kleine Einzelbüros, ebenso die zwei stellvertretenden Chefredakteure, Buddha und
die Verlagschein repräsentierten in repräsentativen Räumen, den
ehemaligen Salons. Nur zwei Personen, die nicht über „Personalverantwortung“, wie das im Managerdeutsch heißt, verfügten, hatten Einzelzimmer. Chefreporter, nun also a. D., Heinrich Weinrich
und die „Ratgeber-Tante“, wie wir Rosi Heckmann heimlich nannten. Sie gab Lesern gute oder zumindest gut gemeinte Ratschläge
für alle Lebenslagen, wenn es mit dem Sex nicht mehr klappte, oder
die Rente falsch berechnet worden war, wenn der Hund Durchfall
oder ihre Rosen Läuse hatten. Einmal in der Woche, immer samstags, schilderte Rosi Leserfragen und gab Antworten, die sie für
lebensklug hielt. Wir, die wir uns für richtige Journalisten hielten,
nahmen sie nicht ernst. Doch bei jedem Copytest schnitten ihre
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Beiträge bei den Lesern besser ab als die politischen Kommentare
oder die preisgekrönten Reportagen von Heinrich Weinrich. Ein
Grund, weshalb die beiden sich nicht mochten, und er ihre Texte
als „Semi-Journalismus“ oder als „Gesülze“ abtat.
Fünf Etagen waren durch zwei Fahrstühle und einen Paternoster
erreichbar. Doch zum sechsten Geschoss, wo bis zu ihrer Entlassung drei Schlussredakteure unterm Dach inmitten ausrangierter
Möbel und Bänden mit vergilbten Zeitungen gearbeitet hatten,
führte nur eine knarrende Holztreppe. Ich stieg hinauf, klopte
oben an der Tür und hörte Weinrichs Bass: „Komm herein, sei ein
Schwein, bring Glück herein.“
Ich trat ein und musste mich zunächst an das Dämmerlicht gewöhnen. Der Raum erstreckte sich über das ganze Haus und bekam
durch vier Fenster in den Dachgauben nur spärlich Tageslicht. Mitten in dem riesigen Raum, der auf mich wirkte wie ein gut aufgeräumtes Sperrmülllager oder eine vergessene Bibliothek, stand ein
Schreibtisch, darauf ein Apple-Computer, eine Zigarren-Klimabox
und das Bild einer attraktiven, jungen Frau. An der Wand hing ein
gerahmtes Foto. Es zeigte eine Masse von Menschen, davon viele in
Uniform, die die rechte Hand zum Hitlergruß erhoben hatten. Nur
ein Mann stand da und hielt seine Arme verschränkt.
Heinrich Weinrich bemerkte, dass ich etwas ratlos auf das Foto
schaute und begann, es zu erläutern: „Auf den Führer scheiß‘ ich,
dachte der Arbeiter Landmesser im Jahre Neunzehnhundertneununddreißig. Er weigerte, sich den Führer zu grüßen, dafür musste
er mit dem Leben büßen. Von ihm wäre nichts geblieben, hätte ich
nicht über ihn geschrieben.“
Ganz kapiert hatte ich das nicht. Einige Tage später habe ich recherchiert, was es mit dem Foto auf sich hat. Im Frühjahr 1939 hielt
Hitler in Hamburg bei der Wert Blohm + Voss die Taufrede beim
Stapellauf des Schlachtschifs „Bismarck“. Während alle Mitarbei19
ter den Führer mit dem deutschen Gruß ehrten, verschränkte der
Arbeiter August Landmesser als Einziger auf dem Foto die Arme.
Der Grund: Weil er ein jüdisches Mädchen liebte, war er wegen
Rassenschande verurteilt worden.
„Wie geht es dir so?“, begann ich mit dieser unverbindlich-doofen Standardfrage das Gespräch, setzte dann hinzu: „Reimst du
immer noch andauernd?“ Heinrich Weinrich lächelte mich undurchdringlich an, sodass mir nicht klar wurde, ob er mich auf den
Arm nehmen wollte oder seinem Reimzwang folgte: „Ruhig Blut,
mir geht es gut. Ich sitze über den Dächern der Stadt und fresse
mich an miesen Texten satt. Korrigiere der Kollegen Orthograie
und hüte die Worte wie der Bauer das Vieh. Nach wie vor ist mir
das Reimen Lust, es erspart mir manchen Frust.“
„Mal ehrlich“, versuchte ich den kollegialen Frontalangrif,
„kannst du nicht auch ganz normal wie wir alle reden und schreiben?“
Seine Antwort kam so schnell, wie andere ungereimt reden:
„Normal, das ist mir zu pauschal. Klar kann ich reimlos reden und
auch schreiben. Doch dann könnte ich mich selber nicht mehr leiden. Auch der Psychiater, bei dem ich auf Buddhas Wunsch zur
Untersuchung war, schreibt in seinem Bericht ganz klar …“ Der
schlichte Dichter ischte aus dem Sakko, das er über die Lehne seines Schreibtischsessels gehängt hatte, ein Stück Papier, auf dem ich
als Briekopf lesen konnte „Institut für Psychiatrie und Psychotherapie Charité Berlin“. Weinrich legte seine halb aufgerauchte Zigarre nahezu feierlich auf den Rand des Aschenbechers und zitierte
betont langsam aus dem Brief des Arztes: „Herr Heinrich Weinrich
hat kein gestörtes Ich. Auch das Über-Ich ist es nich. Weder sehe
ich ein Krankheitsbild, noch führt der Patient Böses im Schild. Seine Lust an der Poesie benötigt keine herapie. Er ist gesund wie
ein junger Hund. Doch, dies sei eingeräumt, niemals zuvor hat ein
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Psychiater von Reimlust und Reimzwang auch nur geträumt. Ungelogen, dieser Fall ist eher ein Fall für Philologen.“
Triumphierend reichte mir der wohl doch nicht irre Reimer den
Brief des Irrenarztes und lud mich am Abend zur Feier seines neuen Jobs auf ein „Bier wie ich dir“ in die Adlerklause ein.
Ich verabschiedete mich mit einem Reim: „Zwischen Leber und
Milz passt immer noch ein Pils“, und fragte mich, während ich die
steile Treppe herunterstieg, ob Reimzwang ansteckend sein könnte.
Oder wollte der Psychiater seinen Patienten und den Autrag gebenden Chefredakteur verarschen mit seiner gereimten Diagnose?
Die ging wohl in die Hose.
21
Cafe Olé Olé
Als Sportredakteur fühlte ich mich dazu verplichtet, Vorbild zu
sein. Deshalb ignorierte ich wie üblich den Aufzug. Ich lief durchs
Treppenhaus und stellte mir vor, wie Heinrich Weinrich, durchaus
bekannt für seinen herben Charme, mit seinem Reimtick bei der
Kanzlerin ankommen würde, wenn er sie jemals wieder interviewen dürte. Was geschieht wohl, wenn er ein Gespräch eröfnet mit
der Frage: „Frau Merkel, wer im Kabinett ist das größte Ferkel?“
Oder wenn er über den Papst schriebe: „Ob Benedikt noch richtig
tickt?“
Zu Löw iel mir kein Reim ein.
Lustlos setzte ich mich an meinen Schreibtisch. Die Plicht rief
und ich traute mich nicht, wegzuhören. Heute war der Vorbericht
zum Spiel am Samstag fällig. Er musste wie üblich eine Gratwanderung werden. Zum einen wäre es wider die Ehre, wollte ich meinen
Fußballverstand leugnen, zum anderen konnte ich mit Rücksicht
auf unsere verbliebenen Fans nicht meine wahre Meinung veröffentlichen, dass wir nämlich gegen den FC Bayern keine Chance
und in der Ersten Bundesliga nichts mehr zu suchen hatten. Vielleicht könnte ich mit dem Bonmot anfangen oder enden: „Wer nicht
an Wunder glaubt, ist kein Realist“. Während ich googelte, welcher
kluge Mensch das mal gesagt hatte, meldete sich mein Handy mit
der Titelmelodie aus „Titanic“, die mir meine liebe Freundin ausgesucht hatte.
Es war hilo. Der hatte mir gerade noch gefehlt. Wir hatten uns
auf der Journalistenakademie kennengelernt. Ich konnte ihn nie
besonders leiden, doch hatte er mir durchaus imponiert. Ich nahm
mein Studium ernst, schließlich mussten sich meine Eltern für
die Studiengebühren krummlegen. hilo hatte, obwohl ziemlich
talentlos für alles, was mit Schreiben zu tun hatte, irgendwie ein
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Stipendium ergattert und lebte ziemlich sorglos in den Tag hinein.
Nach einem Jahr schmiss er die Ausbildung, ging als Produktionsassistent zu einem obskuren Privatsender. Zwei Jahre später besaß
er eine eigene TV-Produktionsirma, einen nagelneuen Porsche sowie eine nicht mehr ganz frische Lebensgefährtin mit viel Silikon
in den Brüsten und langer Fernsehpräsenz in unterschiedlichen
Formaten.
hilo war, wie er sich bei seinen gelegentlichen Besuchen bei mir
gerne selber rühmte ein „master of connections“, das sei in seiner
Branche der „Kopfnutten“ besser als zweimal summa cum laude
promoviert zu haben. Was ich ihm gerne glaubte.
Seit gut einem Jahr produzierte hilo eine Talkshow für einen
Privatsender und war ständig auf der Suche nach Gästen, die ihn
wenig kosteten. Unterhaltsam mussten sie sein, sich von der Silikon-Frau auch sehr privat befragen lassen und Quote machen. Ich
habe ihm zwei- oder dreimal einen Tipp gegeben, wenn mir in
unserer eher biederen Stadt mal jemand geeignet schien für seine
Show.
Ob ich Zeit für einen Café olé olé habe, fragte mich hilo. Da
mein windelweicher Vorbericht mir schwer im Magen lag, sagte
ich zu, aber nur auf die Schnelle in der zum „Bistro“ aufgehübschten Kantine.
Ich setzte mich ans Fenster. Bevor ich hilo sah, hörte ich seinen Porsche röhren, den er im absoluten Halteverbot parkte. Von
irgendeiner fernen Sonne gebräunt, betrat, ach was: stolzierte
hilo ins „Bistro“, knallte seinen Wagenschlüssel auf den Tisch,
setzte sich mir gegenüber, das Fenster im Rücken, und röhrte,
ohne mich begrüßt oder gefragt zu haben, durch den Raum „zwei
Café olé olé.“
Ich beeilte mich, ihm mitzuteilen, dass hier Selbstbedienung
angesagt sei, als die Kassiererin den lauten Gast anlächelte und
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sagte: „Kommt sofort.“ Mir war entfallen, dass Thilo bei unserem letzten Treffen seinen Kaffee mit einem Zwanzigeuroschein
und einem „Stimmt so!“ bezahlt hatte. Er grinste mich an: „Für
mich ist Selbstbedienung hier abgeschafft.“
Am liebsten hätte ich ihm die großspurige Fresse poliert. Stattdessen beobachtete ich voller geheimer Schadenfreude durchs
Fenster, wie eine Mitarbeiterin des Ordnungsamtes das Kennzeichen von hilos Porsche im Halteverbot notierte.
Er fragte mich nicht, wie es mir gehe, was der Job mache oder der
Club, sondern schaltete sein Berufslächeln ab und jammerte: „Ich
bin ruiniert. Ich war gerade bei dieser Ganzkörper-Tätowierten,
über die euer Weltblatt kürzlich berichtet hat, wollte mal testen, ob
die Tussi was taugt für Karolins Show.“
„Und“, fragte ich hilo, „ist wohl zu seriös dafür?“
„Deine Ironie in Ehren. Verarschen kann ich mich selbst. Nee,
aber die Lady ist einfach zu trashig, selbst für uns. Und leider dazu
noch extrem blöd. Kriegt keinen richtigen Satz raus. Und wenn
man sie fragt, warum sie ihren ganzen Körper tätowiert hat, also
außer ihrer Muschi, wie sie sagt, was ich aber nicht veriiziert habe,
also da antwortet sie nur: ‚Weil ich es schön inde.‘ Da kann man
doch keine ordentliche Sendung draus machen. Außerdem wollte
sie 1 000 Euro haben plus Spesen, die doofe Kuh. Nobelpreisträger
krieg ich für lau. Ich muss für Sonntag auf die Schnelle jemanden
ganz Spektakulären inden, sonst räumt die Will wieder alles ab
und die Werbekunden wollen wieder Rabatte wegen der miesen
Quote. Kennst du nicht irgend jemanden?“
Na also, jetzt kam er raus mit der Sprache. Dass einer wie hilo
nicht einfach nur mal auf einen Kafee vorbeikommt, um mit einem alten Kumpel über alte Zeiten zu reden, hätte mir schon vorher klar sein können. Aber Leute wie er sind Meister darin, sich von
anderen aushelfen zu lassen.
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„In welche Richtung denkst du?“, fragte ich sehr gedehnt, denn
nun sah ich, wie die Hüterin des ruhenden Verkehrs unter den
Scheibenwischer des Luxuswagens von Großmaul hilo einen Zettel klemmte, wahrscheinlich einen sehr teuren.
„Na, am liebsten wäre mir die Freundin des Papstes, oder wenigstens eines Kardinals, die der Karolin gesteht: ‚Ich habe abgetrieben.‘ Damit kämen wir nämlich in die Agenturen und in die
„Tagesschau“ und Bild müsste nachziehen. Das wäre was. Man wird
ja noch träumen dürfen.“
Jetzt ritt mich der Teufel. Ich erzählte dem Fernsehmann die
Geschichte von Heinrich Weinrich, dem großen Reporter, der nun
sein Dasein als Schlussredakteur fristen muss, weil er sich aus welchen Gründen auch immer nur noch reimend ausdrückt.
Zunächst zeigte sich hilo mäßig interessiert, doch hörte er konzentriert zu, fragte dann misstrauisch: „Sag mal, du willst mich
doch verarschen, das ist doch ein abgekartetes Spiel, so wie einst
der Bleistitlutscher bei ‚Wetten, dass‘. Oder?“
Ich versicherte hilo beim Leben meiner Katze, dass der Fall
Heinrich Weinrich, so skurril wie tragisch er sich anhöre, absolut
authentisch sei. Ich habe übrigens keine Katze. Das sagte ich dem
Ex-Kommilitonen jedoch nicht.
Auf einmal war er in hohem Maße interessiert und wollte wissen,
wie er denn am besten mit dem Reimer in Kontakt kommen könnte. „Heute Abend in der Adlerklause“, schlug ich vor, „aber tu’ so,
als ob du zufällig dort Gast bist und lass mich am besten außen vor.
Ich weiß nämlich nicht, wie Heini Weini reagiert.“
Ich beschrieb hilo den Weg, und er war auf einmal sehr neugierig.
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Adlerklause
Verdammt, ich war spät dran heute Abend. Buddha hatte mich
aufgehalten. Normalerweise ging ihm der gesamte Sportteil der
Zeitung am Arsch vorbei, außer wenn sich Leser beschwerten, ihr
Sport, sei es nun Tanzen oder Minigolf oder Tauziehen, inde zu
wenig Erwähnung im Blatt.
Ausgerechnet heute, wo mich Heini Weini in seine Stammkneipe
eingeladen hatte, was ich als Auszeichnung empfand, ausgerechnet
heute wollte der Chefredakteur meinen Vorbericht für das Bundesligaspiel lesen. Er runzelte die Stirn und nörgelte: „Also, mein
Lieber, nicht dass ich Ihre Fachkompetenz für Fußball anzweile,
doch was Sie schreiben, ist Defätismus pur. Denken Sie doch mal
daran, was mit unserer Aulage passiert, wenn wir absteigen in die
Zweitliga!“
Er sprach das Wort „Zweitliga“ mit einer Verachtung aus, als sei
es grob unanständig. Plichtschuldigst widersprach ich: „Aber wir
können doch nicht so tun, als ob alles okay wäre mit dem Club. Der
Trainer hat kein Konzept. Genug Geld für frische Spieler gibt es
auch nicht, weil der Hauptsponsor auf seine alten Tage das Golfen
entdeckt hat. Wir dürfen uns nicht lächerlich machen bei den eigenen Lesern, jedenfalls keinesfalls bei denen, die noch ein bisschen
Fußballverstand haben, und nicht besofen sind vor lauter Lokalpatriotismus.“
Buddha grif wie gewohnt hinter seine Hosenträger und ordnete
an: „Nee, müssen Sie auch nicht. Recherchieren Sie doch einfach
mal, welcher haushohe Favorit in der Bundesliga in den letzten fünf
oder zehn Jahren von einem krassen Außenseiter geschlagen wurde. Machen Sie daraus eine Liste, aber nicht zu klein, und garnieren
Sie die mit vielen hübschen Fotos.“ Eine verdammt gute Idee. Das
musste ich zugeben. Leider war sie nicht von mir. Ich versprach:
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„Okay, so machen wir es“, und machte mich ans Werk, was nicht
schwierig, aber aufwendig war.
Als ich nach einem kurzen, verregneten Spaziergang durch die
Innenstadt die Tür zur Adlerklause öfnete, sah ich wegen dichter Rauchschwaden im schummrigen Licht zunächst nur wenig,
hörte aber vielstimmiges Gemurmel und Lachen. Ich hatte ganz
vergessen, dass man in Heinrichs Stammkneipe die Lizenz zum
Rauchen hat.
Der Laden war voll. Obwohl einige der Tische nicht besetzt waren, drängten sich die Menschen, meist Männer mittleren Alters,
um den Tresen, der sich über die gesamte Raumlänge hinzog. Hoch
oben an der Wand hing ein ausgestopter Adler, wohl der Namensgeber der Kneipe. Ich sah mich suchend um.
Eine gertenschlanke Frau mit kurzen, ofensichtlich hennarot
gefärbten Haaren und knallrot geschminkten Lippen, zwei Knöpfe ihrer arg eng gekauten Bluse geöfnet, sah mich aufmunternd
an: „Du bist doch der Kollege vom Sport“, duzte sie gleich, obwohl
sie mich bei den Besuchen zuvor kaum beachtet hatte. „Heini hat
dich schon erwartet. Ich bin übrigens die Charlo, also eigentlich
Charlotte, aber nur Lotte, das war mir zu blöd. Wieder mal: willkommen in meinem Reich“, lächelte sie ein Lächeln, das sie wohl
für verführerisch hielt, und stellte mehr fest, als dass sie fragte:
„Ein Pils!“ Jetzt erst sah ich Heini am anderen Ende der heke. Er
unterhielt sich intensiv mit hilo, dem Fernseh-Großmaul. Wenn
das mal gut gehen würde. Heini sah mich, rief mit seinem dominanten Bass quer durch den Raum: „Schön, dass du da bist, ich hätte dich sonst arg vermisst. Komm näher, denn der Adler ist kein
Eichelhäher“, fügte er vollständig sinnfrei hinzu. Einige der Tresen-Umlagerer lächelten wohlgefällig.
hilo lachte so laut, als habe er den tollsten Witz seines Lebens
gehört. Mir iel dazu die Weisheit ein: Jeden Tag wird die Zahl der
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Leute größer, die mich am Arsch lecken können. Ich schlängelte
mich an den Tresen-Stehern vorbei, zwei kannte ich von irgendeinem Sportereignis, grüßte die beiden, wurde respektvoll zurückgegrüßt.
Als ich Heini zunickte, stellte er mir hilo vor. „Das ist der hilo vom Privatsender, ein charmanter Blender. Er sagt, er sei in der
Stadt, weil er für seine Talkshow keine Gäste hat. Nun klopt er mich
weich mit Korn und Bier, dass ich vor seine Kamera marschier’.“
hilo schaute auf seine manikürten Fingernägel. Der Wagenschlüssel mit dem unübersehbaren Porsche-Wappen lag auf dem
Tresen, daneben ein Bierdeckel mit vielen Strichen drauf.
Ich reichte hilo förmlich die Hand, murmelte etwas, das wie
der Mainzelmännchen-Gruß „Guddnabnd“ klang. hilo nickte
nur. Immerhin hielt er sich an unsere Verabredung, so zu tun, als
würden wir uns nicht kennen. Ich bekam plötzlich ein schlechtes
Gewissen dem großen Weinrich gegenüber.
Doch er schien nichts bemerkt zu haben, nahm einen großen
Schluck Bier, wischte sich mit seiner dunkel behaarten Riesenhand
kurz über den Mund, zupte dann an seinem linken Ohrläppchen,
eine für den Kratkerl eher untypische Verlegenheitsgeste.
„hilo“, sprach Heini weiter, „macht mich mit vielem Bier ganz
froh. Und dich gleich ebenso. Ich bin ein wenig besofen und lasse den Herrn Produzenten noch viele Biere lang hofen. Was rätst
du, Experte für das Spiel auf grünem Feld, soll ich in Talkshows
gehen für ordentlich Geld? Die Talkerin heißt übrigens Karolin und
fragt angeblich mit viel Hintersinn. Ich könnte dir und dem Rest
der Menschheit erklären, warum wir besser wären, wenn wir stets
reimend kommunizierten, selbst wenn wir uns gelegentlich blamierten.“
Der neue Schlussredakteur, den wir in der Redaktion inzwischen
halb mitleidig und halb ironisch „schlichter Dichter“ nannten,
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guckte mich mit unergründlichem Gesicht an. Auch hier in seiner
Stammkneipe wurde ich nicht schlau aus ihm.
Charlo reichte mir das bestellte, meisterhat gezapte Bier an.
Heinrich hatte wohl nicht mitgekriegt, dass sie mich bereits beim
Eintreten begrüßt hatte, und stellte mir die Wirtin nun vor: „Das
ist die schöne Charlo. Wo sie ist, ist großes Kino. Sie ist unglaublich
nett und teilt mit mir Tisch und Bett.“
Charlos professionelles Lächeln änderte sich zu süß-sauer. „Nicht
so laut. Muss ja nicht jeder wissen, dass wir gelegentlich in die Kiste gehen“, wies sie ihren Liebhaber zurecht, „das ist nicht gut fürs
Geschät.“
Heini grinste hilo an: „Merkst du, neuer Freund an meiner Seite, weshalb ich niemals freite. Statt sich zu mir zu bekennen, sollen
alle anderen Kerle hinter ihr herrennen. Na, egal soll es mir sein,
denn in ihrer Kammer bin ich mit ihr allein.“
hilo hörte nahezu andächtig zu. Ich bin sicher, er kalkulierte bereits die Quoten für den Fall, dass er den Reimer überreden könnte,
in die Talkshow zu kommen.
Nun war ich wieder dran. Heini fragte mich: „Dein Rat, du Mann
der Tat!“
Jetzt wurde es für mich Zeit, hilo eins überzubraten, den neureichen Geizhals.
„An deiner Stelle würde ich das machen“, riet ich Heinrich, „du
hast doch nichts zu verlieren. Geheim halten kannst du auf Dauer deinen Reimzwang …“ – ich bemerkte seine hochgezogenen
Augenbrauen und korrigierte mich – „… ach entschuldige, deine
Lust am Reim sowieso nicht. Wenn du im Fernsehen damit ofen
umgehst und den Zuschauern alles erklärst, dann kannst du sogar gewinnen. Aber“, jetzt schaute ich hilo an, der meinen Worten wohlwollend gelauscht hatte, „ich würde mich nicht zu billig
machen. Denn die Damen und Herren vom Privatfernsehen haben
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viel Geld, das sie ausgeben müssen. Du würdest sicher Superquoten
einspielen.“ Der Reimer reimte: „Quoten ist was für Idioten!“
hilo wollte dazwischen quatschen, ihm missiel die Wendung
des Gesprächs. Heini gebot Ruhe. „Schweig hilo, sonst sperr‘ ich
dich ins Klo.“
hilo schwieg. Ich redete: „Also, Heini, 10 000 Euro ist das Mindeste, was du verlangen kannst. Du bist welteinmalig, eine globale
Sensation.“
Heini guckte mich jetzt sehr skeptisch an, sodass ich mich fragte,
ob ich nicht zu dick aufgetragen hatte. Doch selbst ein so routinierter Reporter und Menschenkenner wird leicht gutgläubig, wenn
man ihm schmeichelt.
Kurzzeitig sagte keiner von uns dreien etwas. Der Reimer fand
als Erster die Sprache wieder: „Für Zehntausend Euro bin ich bereit, mich zu ofenbaren. Darauf noch einen Klaren.“
Nun maulte hilo. Die Summe sei eindeutig zu hoch, das bekomme er niemals reinanziert, und selbst wenn, dann würden die
Preise für Talkshowautritte im Allgemeinen explodieren, Arbeitslosigkeit der Sendermitarbeiter sei die Folge, machte er nun auf die
Mitleidstour.
Heinrich Weinrich schaute hilo streng an, schlug mit seinem
rechten muskulösen Arm unvermittelt auf dessen Rücken und lüsterte, doch so laut, dass ich es hören konnte: „Hör auf mit dem Gewäsch. Zehntausend cash in dä Täsch“.
Der Fernseh-Fritze nickte reimlos-stumm und sah dabei sehr
unglücklich aus. „In den nächsten Tagen“, versprach er, „bekommst
du den Vertrag. Pure Routine. Ich kann mich doch auf dich verlassen?“, fragte er unsicher. „Wenn ich einmal ja sage, gibt es keine
weitere Frage. Pacta sunt servanda – im Haus und auf der Veranda“,
ließ Heini nun seine humanistische Bildung heraushängen, großes
Latinum.
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„Hä?“, fragte hilo, auf einmal misstrauisch geworden, „kannze
das auch auf Deutsch sagen?“
„Hast du einen Vertrag geschlossen, wirst du bei Nichteinhaltung sofort erschossen“, übersetzte der Großlateiner nun sehr frei
und sehr gönnerhat.
Der wieder glückliche Talkshow-Bestücker kündigte an, zur Feier des Tages und in Erwartung der tollen Einschaltquoten wolle er
eine Flasche Champagner spendieren, egal, was sie koste.
Doch Heini Weini stoppte ihn: „Lässt vom Schampus du den Korken krachen, muss ich immer Bäuerchen machen. Lass das sein mit
dem Sekt, auch wenn er dir gut schmeckt. Stets aufs Neue wächst
meine Gier nach einem guten Bier.“ Charlo hatte mitbekommen,
dass ihr heken- und Bettgefährte durch seinen Sekt-Verzicht ihr
gerade ein lukratives Geschät vermasselt hatte, und wischte einige
Male kurz mit der lachen Hand vor ihrem Gesicht. Als er aufsah,
streckte sie ihm schelmisch ihre Zungenspitze heraus.
Ich fand das erotisch und verabschiedete mich von den Zechern
mit dem gut gemeinten Reim: „Noch’n schönen Abend, erquickend
und labend.“
Doch das passte dem Kollegen nun ganz und gar nicht. Er tadelte
mich in der Sprache der alten Römer: „Quod licet Jovi, non licet
bovi.“ Der Porschefahrer verstand wieder nur Bahnhof und guckte
dämlich, was mich freute. Da ich Heinis Marotten kannte und auch
ein wenig Latein verstehe, übersetzte ich ziemlich frei: „Was Heini
erlaubt ist, ist mir verboten.“
Der Dichter des Alltäglichen prustete los und schickte mir noch
einen schnellen Reim hinterher: „Servus, und gib deiner Lusthansa
einen Kuss.“
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Lusthansa
Auf dem Weg nach Hause grübelte ich über Heinis Abschiedssatz
nach. Hatte er tatsächlich „Lusthansa“ gemeint? Oder sich einen
freudschen Versprecher geleistet? Oder hatte ich mich einfach verhört, und er hatte schlicht „Luthansa“ gesagt?
Ich ärgerte mich, dass ich mir über eine solche Banalität Gedanken machte, und freute mich gleichzeitig auf das Wiedersehen mit
Eva. Sie hatte mir noch vor meinem Besuch in der Adlerklause
eine SMS geschickt, dass ihr Airbus dank starken Rückenwinds
die Strecke von New York nach Frankfurt in sechseinhalb Stunden
geschat habe, sie den Anschlusslug noch erreichen konnte, und
deshalb schon am Abend zu Hause sein könne.
Seit gut einem Jahr wohnte ich mit ihr zusammen. Sie ist das, was
jeder heterosexuelle Mann, der nicht blind geboren ist, einfach als
Traumfrau bezeichnen muss. Groß, fünf Zentimeter größer als ich
Normalmann, hellblond, blaue Augen, makellose Zähne, fraulich,
wo eine Frau fraulich sein sollte, also am Popo und obenrum, aber
nicht dick, sondern sportlich, elegant, witzig, klug, fröhlich und
herrlich unkompliziert. Ach, ich gerate wieder ins Schwärmen.
Bevor ich sie kennenlernte, war ich mit einer Lehrerin zusammen, zum Glück lebten wir in zwei Wohnungen. Sie war durchaus
hübsch und nett, doch hatte sie nie kapiert, dass ein Sportredakteur nun einmal samstags und sonntags intensiv arbeiten muss.
Ist ja auch nicht einfach zu verstehen. Jedesmal, wenn ich mich
am Samstag nach dem Frühstück von ihr verabschiedete, maulte
sie und ich bekam ein schlechtes Gewissen. Am Ende war die Liebe zu meinem Job größer als zu ihr. Journalist ist wahrhatig kein
familienfreundlicher Beruf.
Als ich Eva kennenlernte war ich in einer ziemlichen Depri-Phase. Ich war nicht Ressortleiter geworden. Stattdessen wurde mir
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ein Kollege vorgezogen, der erstens faul und zweitens auch noch
ziemlich unfähig war. Aber sein Vater saß im Stadtrat und war bei
den Rotariern wie der Herr Chefredakteur, meiner war nur in der
Arbeiterwohlfahrt und der SPD.
Ziemlich widerwillig war ich mit zwei Kollegen zum alljährlichen
großen Jahrmarkt gegangen. Die hatten sich schnell verabschiedet,
nachdem sie die Freikarten der Schausteller für die Presse verfahren hatten. Auch ich wollte mich in meine triste Junggesellenwohnung auf ein Date mit Johnnie Walker begeben, als ich Sebastian
traf. Ihm gehört das Reisebüro, das die Flüge unserer Bundesligamannschat und der Redaktion organisiert, soweit wir jedenfalls
trotz Sparmaßnahmen noch liegen dürfen. Ich kannte Sebastian
vom Job her. Wenn ein Platz in der Mannschatsmaschine frei war,
schanzte er ihn mir für wenig Geld zu. Er verstand eine Menge vom
Fußball, jedenfalls mehr als mein Ressortleiter, der nicht einmal
die Abseitsregel erklären kann.
Sebastian war in Begleitung einer atemberaubend gut aussehenden Frau. Dabei hatte ich ihn bislang für schwul gehalten, was mich
nicht weiter gestört hätte, solange er mir nicht ans Gemächte grif.
„Meine schöne Schwester“, stellte er mir die Atemberaubende
vor. Sie zeigte bereitwillig ihre ebenmäßigen Zähne, reichte mir
ihre überraschend krätige Hand und nannte mit rauchiger Stimme ihren Vornamen: „Eva.“ Mir iel nichts Dämlicheres ein als zu
erwidern: „Ach, die mit dem Apfel.“ Immer noch lächelnd, doch
nun leicht von oben herab, sagte sie: „Sowas hab’ ich schon öter
gehört.“
Sebastian schlug vor, wir sollten zur Schießbude gehen. Eva schoss
besser als ihr Bruder. Auch besser als ich, obwohl ich beim Bund
die Schützenschnur bekommen hatte. Dann war Autoscooter dran.
Eva und ich. Jedes Mal, wenn es bumste, kreischte sie auf, lauter als
nötig. Ich spendierte ihr einen mit rotem Zuckerguss überzogenen
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Apfel, in unserer Gegend auch „Paradiesapfel“ genannt. Den Satz,
den ich mir für die Apfel-Übergabe ausgedacht hatte, kommentierte
sie nicht: „Mit einem Apfel ing das Elend der Menschheit an“.
Während Eva den Zuckerapfel genussvoll verputzte, verliebte ich
mich in sie.
Sie spazierte zwischen uns Männern, hakte sich unter, uns beide
überragend. „Wie Bastian mir gelüstert hat, bist du bei der Zeitung. Welche Abteilung?“ Ich klärte sie auf, ich sei Sportredakteur.
Das interessierte sie. Früher habe sie Judo gemacht, sogar ziemlich
intensiv, jetzt reiche es nur noch zum gelegentlichen Joggen. Ihr Job
bei der Luthansa sei nämlich sehr arbeitsintensiv.
Ah, dachte ich machohat, eine Stewardess, Flugbegleiterin, Satschubse, erheben sich in die Lüte, Vögeln gleich. Uralter Spruch.
Auch egal. Diese Frau oder keine.
Ich überlegte, wie ich sie zu einem Wiedersehen überreden
könnte, doch mir iel nichts, aber auch gar nichts Passendes ein,
obwohl ich mich keineswegs für schüchtern halte und – auch wenn
ich nicht aussehe wie George Clooney – niemals Probleme hatte, eine Frau kennenzulernen, auch näher. Ihr iel was ein. Beim
Tschüs-Sagen lud sie mich zum Frühstück ins „Café Am Markt“
ein, sie müsse erst am Mittag wieder zum Dienst und würde sich
freuen, wenn wir uns wiedersähen. Dann küsste sie mich sant
auf die Wangen, etwas intensiver als normal, bildete ich mir zumindest ein. Beschwingt, wie seit langer Zeit nicht mehr, ging ich
nach Hause. So eine Superfrau und lädt mich zum Frühstück ein.
Darauf einen Johnnie Walker oder zwei. Für einen Whisky indet
ein Mann immer einen Grund. Könnte von Hemingway sein, ist
aber von mir. Am nächsten Morgen sang ich unter der Dusche, was
ich sehr selten tue. Irgendeinen Schlager aus den 60ern oder 70ern.
„Wir wollen niemals auseinandergehen …“ Von Heidi Brühl. Meine Eltern besitzen noch Schallplatten.
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Sie kam zehn Minuten zu spät. Ich hätte Stunden auf sie gewartet. Als ich sie sah, muss ich wohl ziemlich blöde aus der Wäsche
geguckt haben. Nix mit Flugbegleiterin. Sie trug einen Hosenanzug, drei goldene Streifen an den Ärmeln der dunkelblauen Uniform und die markante Pilotenmütze. Ich tat so, als sei ich nicht
im Geringsten überrascht, begrüßte sie mit Wangenküsschen und
sagte einfach: „Schön, dass du da bist, Frau Kapitän.“
Sie klärte mich auf, die meisten Menschen, die sie trefe und denen sie sage, sie sei bei der Luthansa beschätigt, würden ohne
nachzufragen annehmen, sie sei Flugbegleiterin. „Aber Kapitän
bin ich noch nicht, Erster Oizier vorerst.“ Nach dem Abitur habe
sie nicht recht gewusst, was sie machen solle, und dann als Flugbegleiterin gejobbt. Erst an Bord habe sie der Ehrgeiz gepackt, und sie
habe sich an der Bremer Verkehrsliegerschule beworben. Jetzt sei
sie dabei, die 70 000 Euro, die die Ausbildung kostet, mit 300 Euro
im Monat abzustottern.
„Na, dann kann ich dich ja einladen“, säuselte ich und freute
mich, dass sie ein opulentes Frühstück mit Speck, Spiegeleiern und
Bratkartofeln bestellte. Beim Abschied verabredeten wir uns fürs
nächste Wochenende zum Joggen.
Von der Begegnung mit der Traumfrau erzählte ich so beiläuig, wie es mir gelang, Heinrich Weinrich, der damals noch nicht
seinen Reimtick hatte. Ich bat ihn um Rat, weil ich mir nicht erklären konnte, wieso so ein Superweib nicht auch einen Superkerl
abbekommen hatte. Denn dass sie Single sei und keinesfalls auf der
Suche nach einem Traummann, das hatte sie mir beim Frühstück
ganz ofen erklärt.
Heinrich Weinrich, der Weitgereiste, Welterfahrene, Weiberkenner, durchschaute mich schnell, obwohl ich mich bemüht hatte,
nicht zu sehr von Eva zu schwärmen. Nüchtern riet er mir: „Halt sie
fest, die Luthanseatin. Nach deinen Schilderungen ist sie der Typ
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Frau, an den sich viele Männer nicht herantrauen, weil sie ihn für
zu stark halten. Die meisten Kerle haben Angst vor Vorzeigefrauen,
die dazu noch klug sind und ihr eigenes Geld verdienen.“
Ich tat mein Bestes. Mit Erfolg. Nach dem Joggen hatten die Superfrau und ich Super-Sex noch unter der Dusche in ihrem Appartement.
Ich hatte zunächst unschlüssig in einem ihrer Ohrensessel herumgelungert, als sie aus dem Bad rief: „Komm ins Bad. Wenn wir
zusammen duschen, sparen wir Wasser. Oder stehst du nicht auf
nackte Frauen?“
Wie ich stand.
Nun wohnen wir also schon ein gutes Jahr zusammen, in einer
noblen Wohnung mit großer Terrasse. Jeden Tag, den wir miteinander verbringen, was aufgrund unserer extrem verschiedenen
Jobs leider nicht all zu viele sind, haben wir Spaß miteinander, aneinander, ineinander.
Als ich an dem Abend nach der Sause in der Adlerklause die Wohnungstür aufschloss, roch ich ihr Parfum. Mitsouko von Guerlain.
Eigentlich zu schwer für eine junge, noch dazu blonde Frau. Doch
schon ihre Mutter liebte es. Eva kam mir im Bademantel entgegen,
umschlang mich mit den Armen und wich dann ein wenig zurück:
„Du stinkst ja wie in einer Räucherkammer für Schwarzwälder
Schinken. In welchem Puf hast du dich denn herumgetrieben?“
Ich qualme nicht, oder nur ganz selten, wenn unser Club mal
gewonnen hat, und sie raucht gar nicht. Ich zog meine stinkigen
Klamotten aus, duschte schnell, zog mir meinen Bademantel betont nachlässig über und erzählte Eva die Geschichte von Heinrich
Weinrich, von Anfang an. Wie er, der hoch angesehene und mit
Preisen überhäute Chefreporter, vor ein paar Wochen auf einmal
ohne erkennbaren Grund aning, nur noch reimend zu schreiben
und zu reden, wie er deshalb zunächst freigestellt wurde, beinahe
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rausgeschmissen worden wäre, nun aber von der Zeitungseignerin
begnadigt wurde und als Schlussredakteur seine letzten Jahre bis
zur Rente in der Redaktion verbringen dürfe. Zum Schluss berichtete ich Eva von dem hekengespräch mit Heini und dem Talkshow-Produzenten hilo, der nach vielen Pils bereit war, 10 000
Euro für einen einzigen Autritt des schlichten Dichters zu zahlen.
Eva dachte nach, das bemerkte ich an der steilen Falte auf ihrer
Stirn. „Lass mich mal überlegen, ob ich das noch zusammenkriege, das Gedicht von Robert Gernhardt. Den habe ich mal betreut,
als ich noch Flugbegleiterin war, und er von Frankfurt in die Toskana gelogen ist, wo er wohl ein Haus hatte. Wir haben uns sehr
nett unterhalten. Am Ende des Flugs hat er mir eins von seinen
Büchern mit lustigen Gedichten geschenkt. Ich habe ot darin gelesen und deshalb manches behalten. Das, das jetzt in meinem Kopf
herumspukt, geht etwa so: ‚Seht ihn an, den Dichter. Trinkt er, wird
er schlichter. Ach, schon fällt ihm gar kein Reim auf das Reimwort
‚Reim‘ mehr eim.‘ Nicht ‚ein‘ sondern ‚eim‘, falls du das wegen deines Promillepegels nicht sofort verstanden hast. Das ist eben Reimzwang.“
Auf meine Erwiderung war ich stolz: „Auf Reim reimt sich
Schleim.“ Doch Eva setzte noch einen drauf: „Lass uns jetzt den
Reimweg gehen. In die Heia. Da kraul ich deine Eia.“
Wir prusteten und legten los.
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Anschiss
Am nächsten Morgen begegnete ich Heinrich Weinrich, als er –
leicht verkatert – die Redaktion betrat. „Das mit der dicken Kohle
hast du gut gemacht. Charlo und ich, wir haben uns über den hilo
kaputtgelacht“, trompetete er fröhlich in Gegenwart des Oberfeuilletonisten, der ungeniert zuhörte. Als Heini die Treppe zu seinem
Exil hinaufgeklettert und außer Hörweite war, fragte mich der Kulturredakteur, der aus Bequemlichkeit und wegen allseits bekannter Konliktscheu die Darbietungen des Stadttheaters zu bejubeln
plegte, was denn mit „dicker Kohle“ gemeint sei.
Ich kann mich im Nachhinein noch in den Arsch treten, dass ich
dem Kerl, der mir mit seinem Opportunismus und seiner Chehörigkeit zutiefst zuwider war, ernsthat geantwortet habe, dass unser
Ex-Starschreiber demnächst wegen seines Reimticks in Karolins
bekannter Talkshow autreten werde. „Hm“, seufzte der heater-Bejubler scheinbar besorgt, „darf der das denn ohne Genehmigung
des Chefredakteurs? Da wäre ich an seiner Stelle aber sehr vorsichtig. Schließlich ist er ja nach wie vor Redakteur und beim Verlag
angestellt.“
„Das sollten Sie ihm selber sagen“, schlug ich ihm, den ich im
Gegensatz zu den meisten Kollegen penetrant siezte, vor, „ich bin
überzeugt, dass Heini weiß, was er tut, und was er lässt. Er ist ja
erwachsen, und das schon ziemlich lange.“
„Vielleicht sollten Sie selbst den Chefredakteur informieren“,
erwiderte der Kulturmensch, „damit Sie nicht in Schwierigkeiten
kommen. Eine gewisse Loyalität gegenüber dem Haus kann man
ja wohl verlangen.“ Mir iel ein Reim ein, den nicht der schlichte
Dichter von unterm Dach erfunden hatte, der mir aber in dieser
Situation passend erschien: „Der größte Lump in diesem Land,
das ist und bleibt der Denunziant.“ – „Reimen scheint wohl anste38
ckend zu sein“, sagte der Kulturschafende dünnlippig und wandte sich ab.
Zwei Stunden später wurde ich zum Chefredakteur zitiert. Ich
konnte mir denken, worum es ging. Sicher nicht um den Vorbericht
zum Bayern-Spiel, da hatte ich ja seine als Anregung getarnte Weisung befolgt, gar nicht einmal ungern.
Buddha thronte hinter seinem Schreibtisch, telefonierte noch
mit seiner Frau. Ich hörte ihn gerade noch den Schlusssatz löten:
„Sicher mein Schatz, bis heute Abend, ich freu’ mich drauf.“
Er legte auf und schaute mich an, ohne etwas zu sagen, ein alter
Trick, auf den nur Jungredakteure hereinielen. Ich setzte mich auf
den Stuhl vor seinem Schreibtisch, schaute auf das opulente Bücherregal hinter seinem Rücken und schwieg ebenfalls.
Nun musste er beginnen. Er fragte mich: „Haben Sie mir nichts
zu sagen?“
„Doch, die Aufstellung unserer Elf für das Spiel am Samstag
haben wir gerade exklusiv bekommen. Diese Meldung sollten wir
gleich online stellen. Ich fürchte, sonst ist die Konkurrenz schneller“, antwortete ich und war stolz auf meine List.
„Ja, mach’ das!“, duzte mich Buddha, „aber mich interessieren
mehr die Fernsehpläne unseres Rilke für Arme. Wie ich hörte,
will er sich jetzt in einer Talkshow wichtigmachen. Das berührt
die Interessen der Zeitung unmittelbar, unseren guten Ruf als seriöses Blatt. Dabei habe ich ihm doch gerade erst eine goldene
Brücke gebaut und hatte gehot, er werde darüber gehen. Dieser
Dickkopf!“
Eine Scheiß-Situation, in die mich die Kultur-Petze gebracht
hatte. Ich mochte Buddha zwar nicht besonders, aber ich hatte
auch nichts gegen ihn. Doch konnte ich auch Heini, dem ich viel
zu verdanken hatte, nicht in die Pfanne hauen. Also wich ich aus:
„Ach, gestern Abend das war so ein hekengespräch in der Adler39
klause…“ – „Die Kneipe von Weinrichs Bettschatz“, warf Buddha
ein. „Ja, also da war ein Fernsehmensch, der wohl von Heinrichs
ständiger Reimerei gehört hatte, von wem auch immer“, stellte ich
mich dumm, „und der hat ihn in eine Talkshow eingeladen. Wie
die beiden verblieben sind, das weiß ich nicht, ich bin früher gegangen. Am besten fragen Sie Herrn Weinrich selbst.“
„Habe ich ja“, zog mich der Chefredakteur ins Vertrauen, „und
wissen Sie, Sie Klugscheißer“, – jetzt siezte mich Buddha – „was er
mir geantwortet hat? ‚Wenn mich das Fernsehen zum Reimen haben will, dann bleibe ich nicht still.‘ So ein hirnverbrannter Stuss.
Und dann hat er noch hinzugefügt: ‚Trau! Schau! Talkshow.‘ Ah,
wie mir diese Reimerei auf den Wecker geht. Versuch doch“, jetzt
wieder vertrauliches Duzen, „ihm die Talkshow auszureden. Sie
sind doch“, siezte er mich wieder, „mit ihm befreundet. Soll Ihr
Schaden nicht sein.“ – „I will do my best“, verabschiedete ich mich
und wusste genau, dass ich dies nicht tun würde.
Der Chefredakteur seufzte tief. Durch die geschlossene Tür rief
er seiner Sekretärin zu, er brauche jetzt einen Espresso, einen doppelten, und die Personalakte Weinrich aus dem Tresor. Was danach geschah, habe ich mir später so zusammengereimt: Buddha
stemmte sich aus seinem Ledersessel mit der hohen Rückenlehne,
schaute aus dem Fenster, tat sich leid und dachte nach.
Wenn dieser Weinrich doch nur ein Interview vergeigt oder
Spesenquittungen gefälscht oder eine Schlägerei angezettelt hätte,
ja, das alles wäre handhabbar gewesen, und hätte kein Aufsehen
erregt. Aber so etwas wie ein Immer-Reimer, dagegen gab es kein
Handlungsmuster. Und das psychiatrische Gutachten, das vermaledeit gereimte, bescheinigte dem auch noch, dass er keinen Ratsch
im Kappes hatte. Dazu die Leserbriefe, die monierten, dass Artikel
von Heinrich Weinrich schon länger nicht erschienen waren. Was
sollte man den Lesern denn darauf antworten?
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Die Sekretärin kam mit Espresso und Personalakte, bemerkte
gleich, dass ihr Chef verstimmt war und fragte teilnahmsvoll: „Ärger?“ Buddha antwortete nur leicht genervt: „Immer wieder dieser
Weinrich!“
Die Erwiderung seiner Vorzimmerfrau: „Ich könnt’ dem Heini
stundenlang zuhören. Seine Reime ind ich cool“, erzürnte den
Boss, doch unterdrückte er seine Verstimmung, ließ sich in den
Sessel plumpsen, setzte die Tasse an seine Lippen. Zu heiß. Er
schlug die Personalakte auf. Doch was er las, machte ihn auch nicht
klüger.
„Heinrich Weinrich“, las er, „geboren am 29. Februar 1960 als
Sohn des Einzelhandelskaufmanns Walter Weinrich und seiner
Ehefrau Louise, geb. Wiese, in Siegburg, Besuch der Grundschule, Abitur an einem humanistischen Gymnasium, Wehrdienst bei
den Fallschirmjägern in Bruchsal, Studium der Germanistik in
Bonn ohne Abschluss, Volontariat beim Bonner General-Anzeiger,
dort auch Redakteur in verschiedenen Ressorts, einige Jahre freier
Journalist, seit 1998 hier Chefreporter, mehrere hoch angesehene
Preise.“ Lustlos blätterte Buddha in den Zeugnissen, die ehemalige
Arbeitgeber geschrieben hatten. Er versuchte, zwischen den Zeilen
etwas Negatives zu inden. Doch er entdeckte nur positive Formulierungen wie „extrem belastbar“, „stressresistent“, „brillanter Formulierer“, „allseits geschätzt“, „von beispielhatem Fleiß“, „auch in
Kriegs- und Krisengebieten einsetzbar“, „beherrscht alle journalistischen Stilformen“, „ … bedauern seinen Abschied und wünschen
ihm viel Glück für seine küntige Tätigkeit.“
Das wünsch’ ich ihm auch, entfuhr es dem Chefredakteur laut.
Er fuhr sich mit der Hand über die Lippen, obwohl er allein im
Raum saß.
Mach das Beste draus, ermunterte er sich, diesmal stumm, und
hatte plötzlich eine Idee, ein supergeniale, wie er fand. Üblicher41
weise ließ er sich zur Wahrung der Hierarchie von seiner Sekretärin mit einem Redakteur verbinden, wenn er keine E-Mail schrieb,
doch nun wählte er persönlich die Nummer des neu bestallten
Schlussredakteurs.
Buddha säuselte: „Morgen Heini, na ja, eigentlich schon Mahlzeit. Ich habe noch einmal über deinen TV-Autritt nachgedacht.
Mach es in Gottes Namen. Und erwähne ein paar Mal unsere Zeitung und wie zufrieden du jetzt mit deiner neuen Aufgabe bist. Außerdem bitte ich dich, küntig fürs Wochenendjournal eine gereimte Kolumne zu verfassen, die hemen kannst du selbst auswählen,
halbwegs aktuell sollten sie sein. Ich habe auch schon einen Titel
für die neue Rubrik, kannst du gleich in der Talkshow ankündigen:
‚Weinrich engagiert sich.‘ Wie indest du die Idee?“
Weinrich zögerte, vermutete eine Hinterlist, tat kurz so, als müsse er husten, antwortete dann versöhnlich: „Hat der Chef eine Idee,
ist er eine gute Fee. Kolumnen schreib’ ich mit Vergnügen, da hab’
ich nichts zu rügen. Ich beginne noch heute mit dem Reimen für
die Leute.“
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Es grünt so grün
Am Samstag vor Weinrichs Talkshowautritt erschien seine erste
gereimte Kolumne im Wochenendjournal, einer beliebten Beilage
zur Zeitung mit vielen Anzeigen. Er hatte sich mit dem Chefredakteur auf wechselnde Überschriten geeinigt. Mal „Weinrich engagiert sich“, mal „Weinrich empört sich“, mal „Weinrich freut sich“,
je nach Inhalt und Tendenz seiner Texte.
In seiner ersten Kolumne empörte er sich über die Grünen im
Stadtrat und deren Forderungen, in der Rathauskantine nur noch
vegetarisches Essen anzubieten, auf allen städtischen Straßen zwischen 22 und 8 Uhr das Höchsttempo auf 30 Stundenkilometer zu
beschränken und jedem Zirkus Auführungen in der Stadt zu verbieten, der wilde Tiere mit sich führt.
Ich war ja, zugegeben, ziemlich skeptisch, als Buddha in der
Redaktionskonferenz am Freitag – sich wie üblich selbst lobend –
erklärte, es sei ihm gelungen, „den nach wie vor hochgeschätzten
Kollegen Weinrich als wöchentlichen Verseschmied zu gewinnen“,
nun möge er „seine möglichst kurzen Verse schmieden, solange sie
noch heiß sind“. Bei dieser Formulierung lächelte Buddha fein, der
Feuilleton-Chef wieherte vor Lachen. Ich hätte kotzen können, tat
dies natürlich nicht.
Als ich am Samstagmorgen kurz vor Arbeitsbeginn die Zeitung
aufschlug und Heinis geschmiedete Verse las, war ich angenehm
überrascht, nicht unbedingt, was seine Reimkunst betrit, da bin
ich wahrlich kein Experte. Doch sein Mut, mit klaren Worten und
anders als viele Kommentatoren mit ihrem langweiligen Einerseits-Andererseits-Blabla eine Stadtratsfraktion frontal anzugreifen, der nötigte mir Respekt ab. Gleichzeitig bekam ich ein mulmiges Gefühl, weil ich beim Bundesligaspiel heute Nachmittag sicher
den Sportdezernenten trefen würde, und der ist bekennender Grü43
ner. Aber er mag auch Steaks, möglichst blutig. Zum Autakt hatte
unser schlichter Dichter unter der Überschrit „Weinrich empört
sich“ gereimt:
„Es grünt so grün, wenn unsere Grünen vor Ideen sprüh’n.
Im Rathaus ist ihnen Fleisch ein Graus.
Ihr nächster Hit, ein nächtliches Tempo-30-Limit.
Tigern, Löwen und auch Bären wollen sie den Zutritt zu unserer
Stadt verwehren.
Einst war die Hofnung grün, doch dieser Partei wird was blühn.
Wer die Menschen mit immer neuen Regeln traktiert, der gehört
abserviert.
Deshalb rate ich allen Zirkus-Enthusiasten, und denen, die ungern
vegetarisch fasten, ich rate allen, die auch nachts gerne Auto fahren, ihr sollt nicht mit Protesten sparen.
Wählt sie einfach ab, die Vormund-Partei mit ihren Verboten.
Wir Bürger sind doch keine Idioten.“
Es war ein ungewöhnlich spannendes Spiel gegen die Bayern, obwohl es am Ende null zu null stand. Innerlich tat ich Buddha Abbitte. Vielleicht war er trotz seiner peinlichen Selbstgefälligkeit ein
guter Chefredakteur. Wir auf dem letzten Tabellenplatz schafen
gegen die Weltfußballer aus dem Freistaat ein Unentschieden.
Beim Verlassen des Stadions formulierte ich im Kopf bereits
die Hymne auf unsere Elf, als mich der grüne Sportdezernent
anquatschte: „Bestellen Sie bitte Ihrem Kollegen Weinrich meine
empörten Grüße. Was ich da heute in Ihrem Blatt gelesen habe,
ist nicht nur schlecht gereimt, sondern inhaltlich eine bodenlose
Unverschämtheit. Was maßt der sich an in seiner rotzigen Art? Ich
habe mit einigen meiner Parteifreunde gesprochen, bis auf Weiteres stehen wir nicht mehr für Interviews oder dergleichen zur Verfügung. Teilen Sie das auch Ihrem Herrn Chefredakteur mit, dessen ausgewogene Kommentare wir bisher sehr geschätzt haben.“
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Meine Erwiderung erschien mir selbst etwas matt; ich faselte
von „innerredaktioneller Meinungsfreiheit“ und „legitimer Zuspitzung“ und dergleichen. Doch die Empörung des Politikers
wegen eines Kommentars machte mich gleichzeitig stolz.
Beim Einsteigen in seinen Hybrid-Mercedes murmelte der Dezernent laut hörbar in meine Richtung, als ob ich der Schuldige
wäre: „schlichter Dichter.“
Früher hatte er mir häuig angeboten, mich in seinem Dienstwagen mitzunehmen auf dem Weg vom Stadion zur Innenstadt, doch
nun ließ er mich stehen und ich ging nachdenklich zur Bushaltestelle.
In der Redaktion arbeiteten heute am Samstag nur die Kollegen
vom Nachrichtenressort und wir Sportmenschen. Ich setzte mich
an meinen Apple und begann meinen Spielbericht mit den Worten:
„So ein tolles Unentschieden, das war uns noch nie beschieden.“
Nein, das war nun doch etwas zu dick aufgetragen, ein schlichter
Dichter in der Zeitung reichte. Ich löschte den Reim und begann
neu mit einem Satz Buddha zu Ehren: „Wie wahr ist doch die Erkenntnis: Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist“, und
fügte dann noch bildungsstolz hinzu, diese Weisheit stamme von
dem israelischen Politiker David Ben-Gurion.
Kaum hatte ich meine Laudatio fürs Blatt beendet und auch noch
eine Kurzform fürs Internet verfasst, schickte mir meine irgendwo
zwischengelandete Lusthansa-Pilotin eine SMS mit mittelschwer
erotischem Inhalt, sie komme am Sonntagmittag heim und ich solle heute Abend ein Dutzend Austern essen, denn nur jede zweite
wirke. Ich lächelte versonnen, aber so ofensichtlich, dass mich der
Ressortchef fragte, ob ein Unentschieden gegen den FC Bayern einen Mann wirklich glücklich machen könne.
Am Sonntagmorgen rief mich Heinrich Weinrich an. Ich war in
der Redaktion, um mit der Fotoredaktion und dem Layout die Auf45
machung für den Spielbericht, die Stimmen zum Spiel und die Fotos zu besprechen. Er meldete sich, ohne seinen Namen zu nennen,
doch ich erkannte seine markante Stimme sofort: „Denen werd ich
was geigen wegen dieser dämlichen Anzeigen!“ Ich wusste nicht,
wovon er sprach. „Lies doch BamS und WamS und FAZ. Das macht
mir keinen Spaß!“
Ich gab zu, außer den Sportteilen noch nichts in den überregionalen Sonntagszeitungen gelesen zu haben. Weinrich war außer
sich: „Verdammt viel Geld hat der Sender für Anzeigen zur Talkshow heute Abend ausgegeben. Dabei geht es doch um mein Leben. ‚Verrückt oder entzückt?‘, so haben die es formuliert, und ich
bin jetzt schon blamiert. Ob ich irre sei, fragen sie so nebenbei. Ich
werfe diesem hilo und seiner Karolin die Brocken hin. Brecht hatte recht und der Reim ist nicht schlecht: ‚Nur die dümmsten Kälber
wählen ihre Schlachter selber.‘ “
Gemach, gemach, beruhigte ich Heini Weini, während ich hektisch blätterte, um die Anzeigen des Senders zu inden. In jeder der
drei überregionalen Sonntagszeitungen fand ich eine halbe Seite mit
der Anzeige für Karolins Talkshow mit Heinrich Weinrich. Musste ziemlich viel gekostet haben. Ich war beeindruckt. Der reimende
Schlussredakteur war auf dem besten Weg, berühmt zu werden.
„Welch ein Schicksal!“, las ich. „Ein Mensch, der nur noch in
Reimen spricht und schreibt. Fluch oder Segen? Verrückt oder entzückt? Vom Chef degradiert und zur Psychiatrie marschiert.“
Starker Tobak. Ich konnte Heinrichs Ärger verstehen. Aber jetzt
noch absagen, das ging gar nicht. Nicht wegen des protzigen hilo.
Wenn der in Schwierigkeiten käme, mich hätt’s mit klammheimlicher Schadenfreude erfüllt. Doch Heinrich Weinrich wäre als Feigling in der gesamten Branche unten durch gewesen, er, der immer
für Mut und Aufrichtigkeit gestanden hatte, ein Vorbild, nicht nur
für mich.
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Ich fragte ihn, wo er denn jetzt sei. Er antwortete: „In Köln am
Rhein, in einem Hotel extrafein. Der Sender bezahlt mir eine Suite,
teurer als meine Monatsmiete. In einer Stunde kommt des Senders
Wagen, dann red‘ ich mich im Studio um Kopf und Kragen. Oder
eben nicht, verdammte Plicht.“
Es schmeichelte mir, dass Heinrich Weinrich ausgerechnet mich
um Rat fragte. Ich war mir allerdings unsicher, wie ich ihn überzeugen könnte, sich trotz aller Bedenken ausfragen zu lassen nach
seiner Reimsucht. Deshalb zögerte ich. Dann iel mir ein, ihm von
der Verärgerung des Sportdezernenten wegen seines Anti-Grünen-Gedichts von gestern zu berichten. Er hörte sich das kommentarlos an, unterbrach mich nur kurz mit dem lapsigen Satz: „Wer
zweimal mit der Bürgermeisterin pennt, wird in jedem Falle Dezernent“, und sagte nach meinem indirekten Plädoyer für die Macht
der Lyrik und damit für die Talkshow-Teilnahme: „Du Hundsfott,
schickst mich aufs Schafott. Gnade dir Gott!“
Seit diesem Telefongespräch betrachtete ich mich als Freund von
Heinrich Weinrich.
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Talk mit Schalk
Da ich mein Hauptwerk fürs Blatt, die Berichterstattung über das
sensationelle Unentschieden gegen die Bayern, ja bereits fertig hatte, gönnte ich mir einen freien Sonntagnachmittag mit Eva.
Sie lümmelte sich neben mir auf der großen Couch in einem
pinkfarbenen Nicki-Anzug, den ich keiner anderen Frau verziehen
hätte. Doch Eva, die Tüchtige, Handfeste, Bodenständige, hat eine
Vorliebe für alles, was barbiefarbig ist. Vielleicht, so hat sie mir das
mal erklärt, liegt das an ihren 68er Eltern, die ihr als Kind häuig
Modellautos und Technikspielzeug schenkten, jedoch nie eine Barbiepuppe, obwohl sie sich sehnlichst eine gewünscht hatte. Sie sollte keinesfalls in den Jungs-Mädchen-Rollenklischees aufwachsen.
Kein Wunder, dass sie alle Freundinnen beneidete, die Barbie-Puppenhäuser bekamen und Plüschtiere.
Obwohl wir nach dem traditionellen Joggen schon viel Spaß
miteinander hatten, stand der Reißverschluss ihrer Nicki-Jacke bis
zum Bauchnabel ofen. Einen BH trug sie nicht. Sant streichelte
ich ihre sehens- und berührungswerten Brüste, was sie schnurrend
genoss. Doch in Gedanken war ich bei Heinrich Weinrich und der
Frage, ob ich ihn klug beraten hatte.
Das Handy surrte sant. Ich zog meine Hand aus Evas Jacke,
was sie leise schmollend akzeptierte. Eine E-Mail von hilo. „Der
hat mir gerade noch gefehlt“, seufzte ich und las den im Telegrammstil und ohne Anrede verfassten Text: „Autritt H. W. gut.
Publikum im Studio begeistert. Vorher Karolin wg. der Anzeigen beschimpt. O-Ton H. W.: ‚Karolin gibt sich als Quoten-Nutte
hin.‘ Heute nicht Jauch gucken, sondern 21.45 Uhr Talk-TV. hilo
dankt.“
Eva wunderte sich, wieso hilo eine Sendung beurteilte, die doch
erst am Abend ausgestrahlt werden sollte: „Ist der Hellseher? Ich
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dachte, das sei live.“ Nun konnte ich mein Insiderwissen anbringen und sie auklären: „Das nennt sich ‚Live on tape‘. Das Gespräch
wird zu einer für die Gäste zumutbaren Uhrzeit aufgezeichnet,
manchmal sogar Tage vorher, und dann später ohne jede Änderung, also exakt wie live, gesendet. Machen fast alle Sender so.“
Ich sah ihr an, wie sie nachdachte: „Und was passiert, wenn einer
der Talkshowteilnehmer zwischen der Aufnahme und der Ausstrahlung der Sendung plötzlich stirbt, Herzinfarkt oder so, oder
sein Flieger stürzt ab?“
Jetzt war ich als Print-Mensch überfragt. Ich zuckte die Achseln
und sagte ins Blaue hinein, in diesem Fall müssten die TV-Menschen wohl die Hosen runterlassen, und den Trauerfall ehrlich
ankündigen, immerhin hätten sie ja dann das letzte Interview
mit dem Verblichenen, was ja auch ein Wert an sich sei. Oder die
Sendung müsste komplett ausfallen, was aber verdammt viel Geld
kosten würde.
Eigentlich wollten wir an diesem Sonntag in die Lichtburg gehen, ein schön altmodisch-plüschiges Kino. Dort wurde an diesem
Abend der „Schreckenslug der Boeing 767“ gezeigt, ein US-Katastrophenilm aus dem vergangenen Jahrhundert. Eva liebte Filme
über Flugzeugunglücke und Lutzwischenfälle. Sachverständig
und genussvoll kommentierte sie, wenn ein Piloten-Darsteller im
Cockpit etwas falsch machte. Mich erinnerte das an meinen Opa,
der es in der deutschen Wehrmacht zum Obergefreiten gebracht
hatte, und Kriegsilme deshalb schätzte, weil er sich über die mangelnde Sachkenntnis von Regisseuren und Darstellern ereifern
konnte. Ich kann Eva bis heute keinen Wunsch abschlagen, muss
ich auch nicht, aber an dem Tag war „schlichter Dichter“ im Programm. Vielleicht ja auch ein Katastrophenilm?
Gerne hätte ich vorm Fernseher eine Flasche Chianti aufgemacht. Doch aus Solidarität mit Eva, die die 24 Stunden vor ihrem
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nächsten Einsatz keinen Tropfen Alkohol trinken darf, und das
gewissenhat auch niemals tut, übte auch ich Verzicht. Wir tranken Johannisbeersat, der wenigstens optisch an Rotwein erinnert. Was macht man nicht alles aus Liebe zur leischgewordenen
Traumfrau!
Eine aufregende Musik, so wie beim „Tatort“-Vorspann, kündigte Karolins Talkshow an. „Könnte von Ravel sein“, merkte Eva
an. Dann stellte die Moderatorin ihre Gäste vor. Ein unbekannter
Musiker, dessen Namen ich sogleich vergaß und der Dieter Bohlen
vorwarf, dieser habe ihm zwei Songs geklaut. Dann eine Nonne, die
vor vielen Jahren von ihrem Beichtvater geschwängert worden war
und das Kind abgetrieben hatte. Und Heinrich Weinrich. Er wurde
den Zuschauern als „vielfach ausgezeichneter Reporter“ präsentiert, der unter einer rätselhaten, bisher unbekannten psychischen
Erkrankung leide, weil er nur noch in Reimform kommunizieren
könne. Während der Vorstellung schwenkte die Kamera auf Heinrich Weinrich. Der richtete sich im Sessel auf und zeigte seine auch
im Sitzen imponierende, durchtrainierte Gestalt. Seine Gesichtsmuskeln waren angespannt. Doch er sagte nichts, sondern zeigte
der Moderatorin einen Vogel. Ganz ungereimt.
Während der Musiker über Kunstdiebstahl „seitens von Herrn
Bohlen“ lamentierte, kommentierte Eva die kurze Szene mit meinem
Kollegen, den sie zuvor noch nie gesehen hatte: „Mit dem möchte
man aber auch keinen Streit kriegen. Ein richtiges Mannsbild ist
das ja. Ich hatte mir einen, der ständig reimt, als ein schmächtiges
Hemd mit dicker Brille vorgestellt, als einen, der ständig auf den
Boden guckt und in der Sauna die Badehose anbehält, weil er so
einen winzigen Schniedel hat.“
Ihre Lobpreisung von Heinis Phänotyp ärgerte mich ein wenig,
und ich teilte ihr mit, über seinen Schniedel könne ich keine Auskunt geben, da ich ihn noch nie gesehen habe.
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Nachdem der angeblich seines geistigen Eigentums beraubte Musiker fertig befragt war und noch schnell unterbringen konnte, dass
er wohl, wenn er in Deutschland kein Recht bekäme, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagen werde, kam die
verführte Nonne an die Reihe. Sie schilderte, wie sie als junge Novizin dem Charme ihres Beichtvaters erlegen sei und sich, so sagte
sie wörtlich, „ihm hingegeben habe“. Auf sein Drängen hin habe sie
dann die Leibesfrucht abgetrieben, wofür der Priester die Kosten
übernommen habe. Nun leide sie unter der Schuld, wohl bis ans
Ende ihres Lebens. Sie habe nie zuvor über ihr Schicksal gesprochen, doch nun breche sie ihr Schweigen, um Frauen in ähnlicher
Lebenslage zu ermutigen. Zu was, das blieb ofen.
Eva wunderte sich über die Moderatorin: „Die ist zwar ein bisschen zu stark geschminkt und gebotoxt, das sieht ja jeder, aber sie
fragt wirklich ganz sensibel. Hätte ich ihr gar nicht zugetraut.“
Heinis Verhör hatte sich die Regie als drittes und letztes der heutigen Sendung aufgespart. Aber zuvor kam noch Werbung für ein
Abführmittel, einen Baumarkt, ein Auto aus Korea, ein Treppenlit, eine Hautcreme und eine Mettwurst. Eva gähnte: „Der Film in
der Lichtburg ist bestimmt spannender.“
Die Moderatorin beugte sich so weit vor, wie es im Sessel eben
ging, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und ging zur Attacke über: „Herr Heinrich Weinrich, wenn ich es richtig beobachtet
habe, zeigten Sie mir bei der Vorstellung der Gäste einen Vogel.
Womit habe ich das verdient?“ Weinrich lehnte sich Entspannung
demonstrierend zurück, streckte seine langen Beine von sich, antwortete langsam aber ohne erkennbares Zögern: „Verehrte Frau
Karolin, für Ihre verdammte Quote biegen Sie wohl alles hin in
Ihrem Sinn. Es ist mir eine Qual, wenn Sie behaupten, ich sei nicht
normal. Ein Psychiater hat mir bescheinigt, in meinem Kopf sei alles bestens bereinigt. Ich bin nicht krank, Gott sei Dank.“
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Die Moderatorin stellte die Frage, die sich wohl alle Zuschauer
stellten: „Warum, in drei Teufels Namen, reden Sie denn nicht wie
alle Menschen ganz normal ohne Reime, sondern riskieren sogar
Ihren Job als Chefreporter einer renommierten deutschen Tageszeitung?“
Mir schien, auf diese Frage hatte sich Heinrich vorbereitet, da
er schnell antwortete: „Ausschließlich in Reimen zu reden und zu
schreiben, daran wird sich so mancher reiben. Doch bei mir ist dies
kein innerer Zwang, sondern entspringt poetischem Drang. Per
Reim zu kommunizieren, bedeutet Lust zu generieren.“ Bei diesem
Satz lächelte er. Eva fand, diabolisch.
Nun erst stellte die Talkshow-Domina ihren letzten Gast ausführlich vor, schilderte seinen beeindruckenden Lebenslauf als
Kriegs- und Krisenreporter, zeigte ihn auf Fotos aus dem Archiv
im Interview mit prominenten Politikern, Managern, Schritstellern, zitierte aus den Lobreden während diverser Preisübergaben
und schloss mit der Frage: „Herr Weinrich, kennen Sie diesen
Sponti-Spruch: ‚Erst kommt der Reim, dann kommt der Sinn.
Sinnverlust ist Lustgewinn.‘ Kann man überhaupt sinnvoll ausschließlich gereimt reden, oder wird der Sinn eines Satzes strapaziert, vielleicht so lange, bis der Sinn dem Reim zum Opfer fällt?“
Heinrich zupte sich am rechten Ohrläppchen, eine typische
Verlegenheitsgeste. In mir wuchs die Anspannung wie vor einem
Eckstoß. Doch ihm iel auch darauf eine Antwort ein: „Ein Sponti-Spruch ist nie genuch. Denn die Lust am Reim sucht mich immer wieder heim. Wollen Sie mich aufs Glatteis führen, werden Sie
schnell verlieren. Denn im Reimen bin ich große Klasse, da rag’ ich
aus der Masse.“
Jetzt spendierte das Publikum Heinrich Weinrich erstmals Beifall. Er nutzte sofort die Vorlage und schleimte sich mit triumphierend erhobenen Armen ein: „Das Publikum ist gar nicht dumm.“
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Karolin leicht säuerlich: „Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet: Dehnen Sie den Sinn, bis es mit dem Reim hinhaut?“
Weinrich: „Jeder Reim macht Sinn. Ganz ehrlich, liebe Karolin.“
Sie gitete: „Duzen wir uns?“
Weinrich: „Wenn’s dient der Poesie, dann duze ich Sie.“
Jetzt lachten die Zuhörer.
Ernsthat fragte sie nun nach, ob er eines Tages plötzlich von der
ständigen Lust am Reim erfasst worden, oder ob dies ein allmählicher Prozess gewesen sei.
Genauso ernsthat antwortete er, obgleich es lustig klang: „Gern
habe ich gereimte Überschriten formuliert, das hat mich nie geniert. Beispiele gibt es viele: ‚Ist der Bundespräsident in seinem
Schlosse eingepennt?‘, oder: ‚Die Bundeswehr ist ungeheuer, erstens Mist und zweitens teuer‘, oder: ‚Die Bundesbank macht uns
alle krank.‘ Erst kürzlich fasste ich dann den Entschluss, dass ich
küntig immer lustvoll reimen muss.“
Nun schlug sie ein Spiel vor: „Ich nenne Ihnen einen Begrif und
Sie reimen oder du reimst einen halbwegs sinnvollen Satz dazu.
Okay?“
Weinrich: „Okay, denn es tut nicht weh!“ – „Liebe!“ – „Ich liebe
deine Triebe.“ – „Hass!“ – „Ich empinde Hass, sehe ich ein leeres Whisky-Fass.“ – „Sofa!“ – „Ein Mofa gehört nicht aufs Sofa.“
– „Honorar!“ – „Eines ist klar, am Ende der Sendung krieg’ ich ein
fettes Honorar.“
Lautes Lachen. Beifall. Die Moderatorin ließ sich nichts anmerken, guckte wertneutral.
Sie: „Bett!“ – „Sex ist eine Himmelsmacht, selbst wenn das Bett
zusammenkracht.“ – „Politik!“
Er dachte etwas länger nach: „Politik ist in Deutschland alles
andere als chic. Wer in diesem Land will was gelten, übt sich im
Politiker-Schelten.“
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Sie: „Migräne!“ – „Ich wähne, du hast wieder mal Migräne.“
Kurzes Zögern, Blick ins Publikum, Fortsetzung: „Dein Unpässliches hat so etwas Verlässliches. Was mach’ ich jetzt mit meinem
Ständer? I love me tender.“
Die Gäste im Studio grölten. Eva neben mit klatschte in die Hände, rief: „Toll! Toll! Ein Genie!“
Ihre Euphorie ging mir auf den Keks. Ich fand ja auch, dass Heini
sich ganz gut schlug, denn das Spiel ging noch ein wenig weiter, heiter weiter, bis Karolin es abmoderierte: „Meine Damen und Herren,
Sie haben heute Abend eine weltexklusive Premiere erlebt. Noch
niemals zuvor wurde in der Geschichte der Fall eines Menschen, sei
er nun psychisch krank oder nicht, dokumentiert, der von einem
auf den anderen Tag nur noch reimend redet und schreibt.“
Deutlich hörbar, wenn auch nicht im Bild, quatschte Heinrich
Weinrich in die Abmoderation hinein: „Talkshow am Abend – erquickend und labend.“
Eva hatte sich während der letzten Sendeminuten eng an mich
geschmiegt. Ich solle, so riet sie mir, Heini Weini unbedingt noch
ein paar Zeilen schreiben. Sie hatte auch schon einen Textvorschlag, den sie mir prustend vortrug: „Wer niemals sinnlos reimen
tut, vor dem sei auf der Hut.“
Ich fragte mich, ob man auch von Johannisbeersat besofen werden kann.
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S-Klasse
Am Morgen nach der Reim-Show brachte ich Eva zum Flughafen. Da ich am Wochenende gearbeitet hatte, wenn auch am Sonntag nur wenige Stunden, gerade lange genug, um die steuerfreie
75-Euro-Pauschale dafür abzugreifen, hatte ich frei.
Im Briekasten fand ich verabredungsgemäß Wagenschlüssel
und Dokumente des Testwagens, den ich heute für unseren Autoredakteur fahren und beurteilen durte. Ich mache mir eigentlich
nicht viel aus Kratfahrzeugen. Denn die, die ich mir leisten kann,
interessieren mich nicht, und die, die mich interessieren, kann ich
mir nicht leisten. Doch unser Autoredakteur war – wieder mal –
ohne Führerschein. Er hatte mir anvertraut, er sei seinen Lappen
losgeworden, weil er erneut zu schnell gefahren sei. Ich glaubte
ihm das nicht, sondern war mir sicher, er hatte zu viele Promille
im Blut und wurde dabei erwischt. Selbstverständlich verpetzte ich
den verzweifelten Kollegen nicht. Wir trafen eine Verabredung, die
für uns beide von Vorteil war. Solange er lappenlos zu Fuß gehen
musste, fuhr ich die Testwagen, sagte ihm, was ich gut und was
schlecht fand und er schrieb alles brav auf und veröfentlichte es
unter seinem Namen. Win win.
Heute erwartete mich eine mattsilberne Mercedes-S-Klasse. Eva,
schon in ihrer schmucken Luthansauniform, entfuhr ein: „Wow!
Hast du heimlich Lotto gespielt und gewonnen?“ Während ich ihren
Rollkofer verstaute, klärte ich sie kurz auf; gestern hatte ich vergessen, ihr von dem Deal mit dem PS-Kollegen zu erzählen. Sie stieg
ein, die Tür machte ein sattes „Plopp“, Eva schnupperte den Geruch
des feinen Leders und fühlte sich „wie die Queen“. Da iel mir natürlich sofort der Schmeichelsatz ein: „Du bist ja auch meine Queen.“
Anfangs hatten wir noch das Lokalradio an. Dort wurde die Vorsitzende der Grünen im Stadtrat interviewt. Sie regte sich gerade
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über die gereimte Kolumne von Heinrich Weinrich vom Samstag
auf. Das tat sie so ungeschickt und tief betrofen, dass Eva wenig
damenhat meinte: „Wenn ich Heinrich Weinrich wäre und würde
jetzt hören, was für einen Scheiß die grüne Tussi da von sich gibt,
da würd‘ ich mir glatt einen runterholen.“
Nur auf einem kurzen Teil der Autobahn von der City bis zum
Airport gibt es keine Geschwindigkeitsbeschränkung. Ich gab Gas,
so etwa 220 zeigte der Tacho. Die Frau neben mir merkte an: „Der
könnte aber schneller!“ Ich erwiderte: „Ist aber kein Airbus. Außerdem will ich, dass die Fahrt mit dir nicht so schnell zu Ende geht.“
Sie schaute scheel.
Der Motor summte und surrte sant. Ich hote heimlich, der
Führerscheinentzug des Auto-Kollegen würde verlängert.
Am Flughafen verabschiedete Eva mich relativ kühl mit Wangenküssen. Obwohl sie sehr gefühlvoll sein kann, mag sie keine
öfentlichen Zärtlichkeiten. Ich wünschte ihr ein „Glückauf!“ Ich
liebe diesen alten Bergmannsgruß.
Kaum saß ich wieder hinterm Lenkrad, rief mich Susi an, die eigentlich Susanne heißt. Sie war wohl, so wird gemunkelt, die letzte Geliebte des Zeitungsgründers. Jedenfalls brachte er sie kurz vor
seinem Tod als Redakteurin im Ressort von Rosi Heckmann unter.
Dort bearbeitete sie unter anderem die Leserbriefe und, da sie vor
Urzeiten mal Konditorin gelernt hatte, war sie verantwortlich für das
tägliche Koch- bzw. Backrezept. Susis Torten sind legendär. Wann
immer ein Kollege was zu feiern hat, Geburtstag oder Beförderung,
Hochzeit oder Scheidung, Taufe oder Konirmation, bestellt er bei
Susi „was Süßes“. Für kleines Geld gibt es großen Genuss. Niemals
verbirgt sie ihre Leidenschat für kreatives Torten-Design und teilt
jedem mit, das sei ihre wahre Berufung, nicht das öde Arbeiten unter der Zicke Rosi Heckmann. Doch leider verdiene der beste Bäcker
weniger als der dümmste Redakteur. Wahrscheinlich hat sie recht.
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Susi klang verzweifelt. „Ich stör’ dich nicht gern an deinem freien
Tag. Aber du musst mir helfen, ich weiß einfach nicht, was ich tun
soll.“
Dass ich nun auch von ihr als Kummerkasten missbraucht wurde, störte mich, ich war doch nicht der Betriebsrat. Aber ich dachte
an die Torte, die ich zu Evas Geburtstag bei Susi in Autrag gegeben
hatte, und zwang mich zuzuhören.
„Also“, erklärte Susi, „du bist doch mit Heini Weini … also ihr
seid doch gute Kollegen. Und um den geht es. Wir haben 46 Leserbriefe bzw. E-Mails zu seinem Gedicht über die Grünen bekommen, so viele wie noch nie zu einem politischen Kommentar …“
Das sei doch sehr erfreulich, unterbrach ich sie. Ja, aber darum
gehe es nicht. „32 Leser stimmen ihm zu, elf sind empört und der
Rest, also drei, da weiß man nicht genau, was die meinen. Aber jetzt
kommt das, weshalb ich dich störe. Die Heckmannsche will, dass
ich die elf, die Heinis Gedicht ablehnen, alle abdrucke aber nur vier
von den positiven Zuschriten, darunter übrigens eine von einem
Bonner Germanistikprofessor, der mal über Robert Gernhardt promoviert hat, und die Tendenz von Heinis Werk lobt, aber die Form
schlicht katastrophal indet.“
Ich warf ein, es sei Usus beim Blatt, alle Leserbriefe dem Redakteur zukommen zu lassen, der den Artikel verfasst hat, auf den sie
sich beziehen.
„Ja, das wollt’ ich ja“, erklärte Susi, „aber Heini ist heute nicht
in der Redaktion erschienen. Seine Freundin, die Wirtin von der
Adlerklause, hat, wie ich aus der Morgenkonferenz erfahren habe,
Buddha eine SMS geschickt, die er laut vorgelesen hat: ‚Seid nicht
zu sehr betrofen, Heini hat diese Nacht zu viel gesofen. Jetzt hat
der Vater erstmal einen Kater.‘ Also, was soll ich tun?“
Ich strengte mein Hirn an. Susi fragte ungeduldig: „Bist du noch
dran?“
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Dann kam mir die Lösung in den Sinn. „Susi, schick mir Kopien
aller Briefe und E-Mails an meine private E-Mail-Anschrit, also
nach Hause, und schreib mir dazu, dass ich sie ausdrucken und
dem Dichter geben soll. Dass er zu Hause kein eigenes Notebook
hat, dürte ja allgemein bekannt sein. Ich meinerseits werde alle
Briefe mit entsprechendem Kommentar an Buddha weiterleiten.
Du wärst aus dem Schneider und die Heckmannsche Intrige im
Eimer.“
Susi grunzte: „Das reimt sich ja, ein wenig. Doch so machen wir’s.
Übrigens scheint heute in der Redaktion Weltreimtag zu sein. Alle
möglichen Kollegen imitieren unseren Fernseh-Dichter, mal nett,
mal bösartig. Sogar unser Bote wünschte mir einen ‚Guten Morgen,
ohne Sorgen‘ und Lene hat bei mir vorhin eine Torte bestellt und
gesagt: ‚Lieber eine leckere Torte als süße Worte.‘ Vielleicht ist Reimen ja doch ansteckend.“
Diesmal war ich uneingeschränkt stolz auf meinen Rat. Die Vorbehalte Buddhas gegen Heinis Reimerei, auch seinen nur mühsam
unterdrückten Neid auf dessen Nimbus als Reporter und die Preise, die er eingeheimst hatte, ja, die waren mir wohl bewusst. Doch
stand bei Buddha bisher immer das Wohlergehen des Blattes an
vorderster Stelle, sogar als er kürzlich Heinis Entlassung forciert
hatte. Das Blatt, das ist sein Leben. Ein anderes hat er nicht. Deshalb würde er es niemals durchgehen lassen, Leserbriefe so zu manipulieren, dass eindeutige Trends umgekehrt werden.
Ich gab Gas und fuhr auf einem großen Umweg zurück in die
City, schließlich musste ich den Wagen ja gewissenhat testen. Das
war ich meinen Lesern schuldig, also den Lesern meines PS-Kollegen.
Mir iel ein, dass unsere Bundesligisten heute Training hatten.
Ich fuhr zum Stadion und stellte meinen Test-Mercedes frech neben die vielen Fords, die auf dem Mannschatsparkplatz standen.
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Ford war zu jener Zeit Hauptsponsor und die Jungs mit den goldenen Füßen mussten Fords Plaume bewegen, so stand es in ihren
Verträgen.
Als ich mich aus dem Ledersessel der Luxuslimousine erhob, sah
ich Pierre Verlaine aus seinem Focus aussteigen. Verlaine war erst
in der vergangenen Saison dank des großzügigen Sponsors als große Torjäger-Hofnung vom FC Toulouse eingekaut worden. Bislang war es bei der Hofnung geblieben. Er sah mich staunend an
und fragte in seinem drolligen Deutsch: „At disch adoptiert deine
Schein? Oder hast du gemacht Überbankfall?“ Ein wenig Neid
glomm in den Augen des Focus-Muss-Fahrers, der mit seinen 23
Jahren mehrfacher Millionär sein dürte.
Beschwichtigend erklärte ich ihm, dieser Mercedes sei leider
nicht meiner sondern ein Testwagen. Der schwarzgelockte Hofnungstreter grinste: „Passt auch nischt für disch. Mehr was für
grandpères. Isch habe mir eine Maserati bestellt, also privat. Aber
verrat misch nicht bei Trainer. Hast du,“ wechselte er unvermittelt
das hema, „nischt meine Fallrückzieher bemerkt? Ein bisschen
mehr in rechte Winkel, und wir hätten besiegt Bayern. Merde!“
Klar, ich hatte den bemerkt, aber in meinem Bericht nicht erwähnt.
Ich entschuldigte mich lahm: „Wenn er drin gewesen wäre, wäre
mir das nicht entgangen.“ Monsieur Verlaine lächelte dünnlippig
und verschwand in der Umkleidekabine.
Etwa eine halbe Stunde schaute ich dem leichten Training zu, von
Spielern und Trainer freundlich mit Kopfnicken oder Handzeichen
begrüßt. War vielleicht doch ganz nützlich, einen halbwegs freundlichen Vorbericht zu schreiben, und so eine Art Laudatio nach dem
Null zu Null am Samstag. Das Unentschieden gegen die Bayern
wirkte wie Bein-Viagra auf unsere Mannschat. Sie kickte lustvoll,
konzentriert, präzise. Vielleicht hat sie ja doch noch eine Chance
auf den Klassenerhalt. Ich würde es den Jungs und mir gönnen.
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Zu Hause leitete ich als Erstes alle Leserbriefe, die mir Susi zugemailt hatte, weiter an den Chefredakteur, merkte noch betont
harmlos an, die Tendenz sei ja wohl eindeutig positiv, das werde
sich bestimmt auch im Blatt niederschlagen. Ich werde, schrieb ich
weiter, alle Zuschriten ausdrucken und Heinrich Weinrich, verbunden mit den besten Genesungswünschen der Kollegen, in seinen Briekasten werfen.
Das Ausdrucken war eine ziemlich öde Arbeit. Kurz bevor ich
damit fertig war, erhielt ich eine SMS von Buddha, nur ein Wort, es
ließ mich rätseln, wie es gemeint war: „Weinrich-Versteher.“
Mit dem Packen Papier unterm Arm bestieg ich den Testwagen.
Direkt vor der Adlerklause fand sich, oh Wunder, ein Parkplatz.
Heini hatte vor Jahren mal beiläuig erwähnt, er wohne über seiner
Stammkneipe, der Gastraum sei sein eigentliches Wohnzimmer. Ich
schaute auf die Klingel- und Briekastenschilder neben der Haustür,
doch den Namen „Weinrich“ fand ich nicht. Stattdessen „Charlo“.
Etwas ratlos stand ich herum und überlegte, ob ich klingeln sollte, als ich ihre Stimme hörte. Sie kam aus der Wirtshaustür nebenan und stellte sachlich fest: „Du willst sicher zu Heini. Doch komm’
erstmal rin in die gute Stube. Ich öfne erst am Abend, aber für seine Kollegen mach’ ich gern eine Ausnahme.“ Das leere Lokal roch
überraschend gut, nicht wie erwartet nach abgestandenem Bier
oder kaltem Zigarettenrauch. Das sagte ich der Wirtin, es freute sie.
„Lüten ist alles“, erklärte sie sachlich, „und ein bisschen Raumdut.
Ein Pils wie immer?“
Wie immer, ein alter Wirtstrick, so ot war ich ja noch nicht in
ihrer Kneipe gewesen, doch ich antwortete: „Wie immer, aber nur
eins, muss noch fahren.“ Dabei deutete ich auf die Luxuslimousine
mit dem Stern am Kühler, was Charlo ignorierte.
Während sie sich ans Zapfen machte, fragte sie mich: „Hast du
gestern die Sendung mit Heini gesehen?“ Ich nickte, schwieg aber.
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Sie fragte weiter: „Und, wie fandest du ihn?“ – „Na ja“, zögerte ich
mit der Antwort, „es war ganz amüsant, er hat sich gut geschlagen. Meine Freundin war ganz begeistert. Aber, ehrlich, wenn ich
tagtäglich mit einem Menschen zusammensein müsste, der ständig
reimt, also in jeder Situation, das fänd’ ich ganz schön nervig. Ich
wüsste nicht, wie lange ich das aushalten könnte.“
Sie schaute mich aus ausdrucksstarken, dunklen Augen an, strich
sich eine kleine Locke ihrer roten Haare aus der Schläfe und nickte: „Darauf kannst du einen lassen. Vielleicht sind Heini und ich
nur deshalb noch zusammen, weil wir zwar im selben Haus auf
derselben Etage wohnen, aber unsere Wohnungen durch den Flur
getrennt sind. Nee, der Heini, so gern ich ihn ja hab’, der ist schon
was Besonderes. Hier in der Adlerklause hat er ja seinen Fanclub,
ich nenn’ den immer den ‚Club der Proll-Poeten‘ …“
Ich prustete laut los, das freute Frau Wirtin, und sie zeigte hinter ihren wieder knallrot geschminkten Lippen etwas schiefe, aber
strahlend weiße Zähne, „… also die Proll-Poeten, alles Stammgäste
mit Niveau, ein Arzt, zwei Studienräte, eine kesse Pfarrerin und der
Direktor der Volkshochschule, alles Leute mit Abitur, mindestens,
die waren gestern Abend vollzählig versammelt und kriegten sich
kaum noch ein vor Spaß. Besonders der Reim von ‚tender‘ auf ‚Ständer‘, der hat ihnen gefallen. Aber, wenn einer immer nur reimt, also
auch im Bett, dann kann man schon mal die Lust verlieren.“
Bei diesem Bekenntnis erwachte der Reporter-Instinkt in mir.
Ich versuchte, meine Frage harmlos klingen zu lassen: „Ach, also
auch beim Sex reimt er?“ Ich trank einen Schluck Pils, sie schaute
mich nachsichtig lächelnd an, dann brach es aus ihr heraus: „Dir
kann ich’s ja sagen, bist ja sein Freund und auch nicht prüde, glaub’
ich. Wenn Heini mir zu Anfang unserer Beziehung, ist schon einige
Jahre her, mal gelüstert hat: ‚Deine Titten sind wahre Sahneschnitten‘ oder: ‚An deinem Busen möcht‘ ich schmusen‘, oder: ‚deine
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Muschi schmeckt besser als jedes Sushi‘, fand ich das ja ganz lustig.
Aber wenn er sagt ‚Charlo, mach die Beine breit, jetzt kommt der
Herr der Herrlichkeit‘, dann geht mir das ziemlich aufn Keks. Dabei bin ich als Wirtin einiges gewöhnt. Inzwischen bitte ich Heini
immer häuiger, wenn wir allein sind bei ihm oder bei mir, einfach
den Mund zu halten. Was er auch brav tut, wenn auch leider nur
kurz.“
Schwer fasziniert und zugleich leicht angewidert hörte ich ihr zu,
unterbrach sie aber nicht bei ihrem Geständnis: „Dabei lieb’ ich
ihn. Er ist nämlich ein verdammt toller Liebhaber, der beste, den
ich je hatte. Und ich hatte einige, das kannst du mir glauben. Und
Mumm hat er auch. Kürzlich, er kam gerade aus der Klapse, wo
er wegen der Rumreimerei von eurem Chefredakteur hingeschickt
worden war, machten hier zwei Skins Stunk. Einem hat er beim
Rausschmeißen das Nasenbein zertrümmert und dessen Kumpel
so gewaltig in den Arsch getreten, dass er jaulend abgehauen ist.
Tja, und jetzt ist der Heini berühmt. Was willst du eigentlich von
ihm? Er hat wirklich einen ziemlichen Kater. Als ich ihn heute
Morgen durch die Wohnungstür laut schnarchen hörte, da war mir
sofort klar, dass mit ihm heute nichts anzufangen ist. Ich habe ihn
dann kurz geweckt. Er hat mir gesagt, dass er nach der Aufzeichnung der Talkshow mit der Moderatorin und dem Produzenten,
diesem hilo, den du ja auch kennst, total versackt ist. Ich hofe
jedenfalls, dass der hilo dabei war. Denn diese Karolin entspricht
ziemlich genau Heinis Beuteschema.“
Ich fragte Charlo: „Hast du die E-Mail an den Chef geschrieben?“
Sie bejahte stolz: „Sogar ganz allein gereimt.“ Ich riet ihr, auf Nachfragen – von wem auch immer – diese Version beizubehalten.
Während wir plauderten, bemerkte ich, wie mir Charlos lässig-erotische Ausstrahlung von Wort zu Wort besser geiel, obwohl
sie sicher zehn Jahre älter ist als ich, und sie – verglichen mit mei62
ner Super-Eva – natürlich nur zweite Wahl wäre, wenn denn was
wäre. Ich teilte ihr sachlich mit, ich hätte für Heini die auf seine
Grünen-Schelte bezogenen Leserbriefe ausgedruckt, sie möge sie
ihm doch, wenn er wieder vernehmungsfähig sei, aushändigen. Die
meisten Zuschriten seien positiv, was zu seiner Genesung beitragen könne.
Sie bot sich an, ihren Geliebten anzurufen und ihn zu fragen, ob
es ihm recht sei, wenn ich ihm die Briefe selbst übergebe. Einfühlsam sagte sie mir, ich solle nicht böse sein, wenn er das nicht wolle,
denn er hüte seine Wohnung wie eine Festung. Nach ihrer Kenntnis habe Heini noch nie einen Kollegen zu sich eingeladen. Nur sie,
als seine Quasi-Frau, habe uneingeschränkten Zutritt zu seinem
Reich und seine Tochter.
Jetzt war ich bass erstaunt: „Heini Weini hat eine Tochter? Das
hab’ ich ja gar nicht gewusst, hat er nie von erzählt. Ich dachte bisher immer, er sei ewiger Junggeselle.“
„Psst!“, lüsterte Charlo und legte den rechten Zeigeinger vor die
Lippen, „verrat ihm nicht, dass ich dir das gesagt habe. Ich nahm
an, wenigstens du wüsstest es. Tatsache ist: Heini war nie verheiratet. Seine Tochter, die dürte jetzt Ende zwanzig, Anfang dreißig
sein, war das Ergebnis eines One-Night-Stands mit einer verheirateten Frau, als Heini noch bei den Fallschirmjägern war. Erst nach
dem Tod ihres Gatten, ein Multimillionär, hat Heini erfahren, dass
er seit Jahren Papa ist. Da war seine Tochter aber schon erwachsen.
Die Ähnlichkeit zwischen den beiden ist verblüfend, besonders
das markante Kinn mit dem Grübchen. Seit Heini weiß, dass er der
Vater von Dorothée ist, so heißt sie nämlich, den Nachnamen habe
ich vergessen, irgendwas mit ‚von‘, also seitdem haben die beiden
ein ganz tolles Verhältnis zueinander. Zweimal im Jahr kommt sie
rüber aus den USA, wo sie lebt, und bleibt dann immer für ein paar
Tage. Sie ist vom Wesen her wie Heini, gar nicht hochnäsig oder
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Ende der Leseprobe von:
Schlichter Dichter - Das Projekt Pegasus
Helmut Böger
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