Proseminar Narziss und Echo Dozent: Dr. Friedmann Harzer WS 2007 / 2008 Vergleich des Narzissmythos mit E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ Markus Kohle 3. Semester, Lehramt Gym. Deutsch / Geschichte 1 Inhalt 1. Einleitung: Aktualität mythologischer Themen 2. Vergleich der Figuren Echo und Olimpia 2.1. Aussehen 2.2. Interaktionsmöglichkeiten 3. Vergleich der Beziehungen zu anderen handelnden Figuren 3.1. Echo 3.2. Olimpia 4. Zusammenfassung des Figurenvergleichs 5. Weitere Parallelen der Texte zueinander 5.1. Spiegelmotiv 5.2. Unwissenheit als Voraussetzung für den tragischen Ausgang 6. Schluss: Die Automate Olimpia und das ELIZA-Programm von Weizenbaum Literaturverzeichnis 2 Einleitung: Aktualität mythologischer Themen Es gibt literarische Themen, deren Aktualität an einem ganz bestimmten geschichtlichen Punkt festzumachen ist. Sie behandeln den Menschen zu einem spezifischen Punkt in der Geschichte. Zwar mögen diese Texte einem Leser, der Hunderte von Jahren später lebt, immer noch durch ihre sprachliche Ausführung gefallen, oder ihm interessante Aussagen über die entsprechende Zeit, ihre Menschen und deren Lebensweisen machen. Doch wird sich das Interesse des Lesers auch nur an derartigen wissenschaftlichen Gesichtspunkten festmachen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch solche Texte, die den Leser unabhängig von seiner Beschäftigung mit vergangenen Kulturen bewegen. Derartige Texte sprechen zumeist jene Belange des menschlichen Lebens an, die noch nach Tausenden von Jahren nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben, da der Mensch immer noch – unabhängig von der Zeit, in der er lebt – die selben Wünsche und Ängste, Stärken und Schwächen, Gefühle und Denkweisen hat, wie jener Mensch, dessen Geschichte der Autor vor so langer Zeit erzählte. Diese Aktualität des Stoffes ist es auch, die mythologische Texte auszeichnet. Sie ist eine Erklärung für die Tatsache, dass es diese Erzählungen sind, die in der Geschichte der Literatur in beinahe jeder Epoche entweder gelesen oder auch erneut bearbeitet wurden. Vergleicht man aber nun verschiedene Mythen miteinander, so fällt auf, dass sich viele von ihnen durch bestimmte Muster und Motive ähneln, die in unterschiedlicher Ausführung in verschiedenen Texten immer wieder auftauchen. Wie die grundlegenden Handlungen und Aussagen mythologischer Texte, so haben auch vieler dieser Motive im Laufe der Jahrhunderte nichts von ihrer Faszination eingebüßt, und werden dementsprechend immer wieder aufs neue aufgegriffen. Diesem Gedankenschritt folgend soll es Ziel dieser Arbeit sein, einen mythologischen Text – die Erzählung von Narziss und Echo in der Ovidschen Fassung – mit einem Text zu vergleichen, der viele Jahrhunderte später geschrieben wurde – der Erzählung „Der Sandmann“ von E.T.A Hoffmann. Dabei soll das Hauptaugenmerk auf einem Vergleich der beiden der wichtigsten Nebenfiguren – der Nymphe Echo und der Automate Olimpia – liegen. Hierbei wird auf die äußerlichen Charakteristika ebenso eingegangen werden, wie auf besondere Merkmale der Figur was deren Interaktionsmöglichkeiten angeht, sowie die Beziehung zu anderen Personen, allen voran der Hauptfigur des entsprechenden Werkes, sowie auch eventuell dabei auftauchende literarische Motive. 3 Vergleich der Figuren Echo und Olimpia Aussehen Das Aussehen Echos wird im ovidschen Text an keiner Stelle explizit erwähnt. Da sie eine Nymphe ist, ist dies aber auch nicht nötig, denn da alle Nymphen per definitionem von übernatürlicher Schönheit gedacht sind, kann man davon ausgehen, dass auch Echo dieses Merkmal teilt. Olimpias äußere Erscheinung hingegen wird im „Sandmann“ ausführlich beschrieben. Sie wird des öfteren als ausgesprochen schlank dargestellt, ihr Körper scheint den Schönheitsidealen perfekt zu entsprechen, ihr Gesicht wird als „engelschön“ bezeichnet.1 Ihre Bewegung sind genau koordiniert, ihre musikalische Kunstfertigkeit vollkommen in Takt und Ton. Da dieses körperliche Ideal jedoch nicht gewachsen, sondern bewusst vom Mechanikus Spalanzani nach den Normen der Schönheit konstruiert wurde, ist dies wiederum nichts besonderes, sondern durch ihr Wesen als Automate gegeben. Als solches erscheint es dem Betrachter mitunter auch etwas unheimlich, da ihr Wuchs beinahe zu schlank ist und ihren genau im Takt liegenden Bewegungen etwas Steifes und Abgemessenes anhaftet.2 Ihr Körper strahlt nicht die Wärme eines lebenden Wesens aus, sondern ist eiskalt wie der einer Maschine.3 Auch erscheinen ihre Augen nicht lebendig, sondern starr und tot 4, als schliefe sie mit offenen Augen5. So können wir sagen, dass Olimpia von ihrer Gesellschaft zwar durchweg als schön, durch ihre mechanische Art jedoch in keinster Weise als anziehend betrachtet wird.6 Von Echos Eindruck auf ihre Umgebung können wir nichts genaues sagen. Zwar wird sie von Narziss abgelehnt, dies ist allerdings nicht repräsentativ, da sich der Jüngling grundsätzlich all seinen Mitmenschen gegenüber abweisend verhält. 1 E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, DIRECTMEDIA Publishing 2005, S. 269163 Das Werk wird im folgenden unter der Sigle SM zitiert. 2 Ebd., S. 269183 3 Ebd., S. 269184 4 Ebd., S. 269180 5 Ebd., S. 269163 6 Ebd., S. 269187 4 Interaktionsmöglichkeiten Echos treffendstes Merkmal ist ihre sprachliche Behinderung. Aufgrund des von Juno über sie verhängten Fluches ist sie nur mehr in der Lage, von einer gehörten Rede nur die letzten Worte zu wiederholen.7 Dies stellt zwar ein großes Hindernis dar, dennoch gelingt es ihr sich auszudrücken, indem sie geduldig wartet, bis ihr Gegenüber passende Worte spricht, die sie für eigene Aussagen nutzen kann.8 Da dieses Merkmal auch das einzige für den Mythos relevante ist, werden im Text keine weiteren erwähnt. Bei Olimpia von Charakterzügen zu sprechen, ist durchaus nicht unproblematisch, da sie nicht Mensch sondern Maschine ist. Sie besitzt nichts, was man als künstliche Intelligenz bezeichnen könnte, all ihre Reaktionen sind durch ihr mechanisches Inneres starr vorgeben, und die einzigen Laute, die sie in ihren Unterhaltungen mit Nathanael von sich geben kann, sind ein zum Abschied geäußertes »Gute Nacht, mein Lieber!«9 und ein immer wiederkehrendes „Ach!“10. Mit der Nutzung jenes Seufzers zeigt sich allerdings auch die Genialität Spalanzanis, des Erbauers der Automate, unabhängig von seinem mechanischen Geschick, sowie das ausgesprochen tiefgehende Verständnis des Autors vom menschlichen Kommunikationsverhalten. Denn dieser kurze Laut kann alles Bedeuten, „Ja!“, „Nein!“, „Vielleicht.“, „Ich liebe dich.“, „Lass mich in Ruhe!“, „Du hast Recht.“ und praktisch jede erdenkliche Reaktion auf eine Äußerung des Gesprächspartners. Dabei bleibt die Bedeutung des Seufzers einzig und allein dem Hörer überlassen. Im Grunde wird dieses „Ach!“ – wenn man eine neutrale Betonung, in der keine der möglichen Aussagen bevorzugt wird, voraussetzt – immer genau das bedeuten, was der Gesprächspartner in diesem Moment erwartet. Somit haben beide Gestalten, Echo und Olimpia eine Gemeinsamkeit in ihren Interaktionen mit Anderen. Sie sind beide auf ähnliche Arten in ihren Möglichkeiten zur Kommunikation stark beschränkt, können jedoch mithilfe eines Tricks eine sporadische Unterhaltung aufbauen. In der Art dieser Unterhaltung unterscheiden sie sich jedoch komplett voneinander. Denn Echos Aussagen mögen zwar ähnlich 7 P. Ovidius Naso: Metamorphosen, 3.Buch, übersetzt und hrsg. von Michael von Albrecht, Stuttgart 1994, Vers 366-369 Das Werk wird im folgenden unter der Sigle OV zitiert. 8 Ebd., Vers 376-378 9 SM, S. 269190 10 Ebd., S. 269185 5 spärlich wie die der Olimpia sein. Diese wenigen Worte jedoch sind mit einer ungeheueren Aussagekraft angefüllt. Als Narziss sie beispielsweise mit den Worten „Eher will ich sterben, als dir gehören.“ verstößt, antwortet sie nur mit einem kurzen „dir gehören“, mit dem der Leser die ganze Enttäuschung und Verzweiflung, die sie in jenem Moment erlebt, erfährt .11 Olimpias Äußerungen dagegen sind in sich leer. Da sie alles bedeuten können, bedeuten sie gleichzeitig nichts. Nur der Gesprächspartner füllt diese leeren Aussagen durch seine Interpretation mit Bedeutung – wenn er denn über deren völlige Bedeutungslosigkeit hinwegsieht. Denn obgleich Nathanael in Olimpias kurzen Seufzern ganze Romane zu lesen scheint, so attestieren ihr alle anderen, die nicht wie er völlig in die Automate vernarrt sind, Einfältigkeit bis hin zur geistigen Behinderung.12 Vergleich der Beziehungen zu anderen handelnden Figuren Echo Beginnen wir auch hier wieder bei Echo. Das Hauptaugenmerk des ersten Teils des Mythos von Narziss und Echo beschäftigt sich mit deren Beziehung zueinander. Echo ist unsterblich in Narziss verliebt, allerdings unglücklich, da jener ihre Liebe nicht erwidert. Vor Verzweiflung über diese unglückliche Liebe vergeht ihr Körper, bis nichts bleibt aus ihren Gebeinen und ihrer Stimme, die auch weiterhin, versteckt in Felsen und Klüften, als leerer Klang die letzten Worte einer jeden vernommenen Rede zurückgibt.13 Über die genauen Gründe zu diskutieren, warum Echo von Narziss zurückgewiesen wird, wäre müßig, da sich darüber nur spekulieren ließe. Eines allerdings können wir sicher ausschließen. Für Narziss stellt Echos sprachliche Behinderung kein Hindernis dar. Bei ihrer ersten Begegnung ist Echo zu Beginn noch im Wald versteckt, sie antwortet ihm nur aus dem Verborgenen heraus auf die einzige ihr mögliche Art. Erst als sie, seiner Bitte folgend, auf die Lichtung heraustritt um ihn zu grüßen, stößt er sie von sich. Bis zu diesem Zeitpunkt scheint Narziss keinerlei Anstoß daran zu nehmen, dass eine Unterhaltung mit ihr nur in äußerst begrenzten Bahnen möglich ist.14 11 12 13 14 OV, Vers 391-392 SM, S. 269187 OV, Vers 395-401 Ebd., Vers 380-391 6 Olimpia Olimpia hingegen kann keine Emotionen empfinden. Ihre Reaktionen sind vorprogrammiert, ihr Gebaren frei von eigenem Willen. Daher kann ihre Beziehung zu ihrer Umwelt auch nur aus der Reaktion der sie umgebenden Menschen heraus analysiert werden. Die grundsätzliche Haltung der meisten Menschen ihr gegenüber ist Ablehnung. Wie bereits erwähnt zeichnet sich ihr Wesen als Automate auch dadurch aus, dass ihre Bewegungen zu perfekt, ihre Aussagen jedoch völlig inhaltslos sind, was ihrer Umgebung nur negativ auffallen kann. Sie wird trotz ihrer Schönheit eher gemieden und spöttisch belächelt.15 Ebenso ist Nathanaels engen Freunden schon früh seine Vernarrtheit in die Automate unerklärlich – auch wenn selbstverständlich zu diesem Zeitpunkt noch niemand ihr wahres Wesen kennt.16 Nathanael selbst ist zu Beginn in dieser Reaktion keine Ausnahme. Ihm ist Olimpia zuerst ebenfalls völlig gleichgültig, was sich erst nach dem Blick durch Coppolas Taschenperspektiv drastisch ändern wird.17 Die wohl naheliegendste Erklärung für die spätere Besessenheit Nathanaels von Olimpia scheint jene Erklärung zu sein, die in Nathanael einen Narzissten sieht, der aufgrund seiner eigenen Unzulänglichkeiten die Bestätigung seiner Mitmenschen sucht. Tatsächlich zeigt Nathanael großes Verlangen nach Anerkennung, während er andererseits mit Gleichgültigkeit oder gut gemeinten Ratschlägen nicht umzugehen vermag. So liest er seiner Verlobten Klara voller Inbrunst seine mittelmäßigen Dichtungen vor. Als diese ihn dann aus Besorgnis um sein eigenes Wohl darum bittet, die düsteren Erzählungen aufzugeben, beschimpft er sie als „lebloses, verdammtes Automat“, bevor er entrüstet davon eilt.18 Dass sich Nathanael eine Frau wünscht, die statt kundige Kritik an seinen Werken zu üben und sein Betragen und seine Fantasien von einem realistischen Standpunkt aus zu betrachten, nur in tiefer Bewunderung seiner versinkt, lässt sich überdeutlich in jenem Brief lesen, den Nathanael an Lothar schickt. Darin drückt er sein Missfallen darüber aus, dass Klaras Verstand eben nicht, wie er eigentlich dachte, unschuldig und einfältig, sondern durchaus zu logischen Denken fähig sei. Schließlich fordert er den Freund sogar dazu auf, nichts zu unternehmen, was Klaras Geist noch weiter 15 16 17 18 SM, S. 269185 Ebd., S. 269187 Ebd., S. 269177 und S. 269180 Ebd., S. 269174 7 schärfen könnte.19 Diese kurzen Ausführungen über Nathanaels Verhältnis zu seiner Verlobten sind wichtig, um seine Beziehung zu Olimpia zu verstehen. Denn in der Automate findet er das, was er in Klara vergeblich gesucht hat: Eine Frau, die ihm – im wahrsten Sinne des Wortes – gedankenlos in allem zustimmt. Wie bereits erwähnt drücken Olimpias Seufzer immer das aus, was der Zuhörer sich wünscht, und so hört Nathanael nichts anderes aus ihnen heraus, als die kritiklose Bewunderung, die er sich von der verständigen Klara vergeblich ersehnt hat. Hier kommt dem Taschenperspektiv, das er von Coppola erstanden hat, eine entscheidende Bedeutung zu. Denn die „feuchten Mondesstrahlen“20, die ihm beim Blick durch das Perspektiv aus Olimpias Augen entgegen leuchten, sind mehr als nur die durch seinen eigenen Blick scheinbar plötzlich entzündete Sehkraft der Automate. Sie sind auch ein Zeichen dafür, dass Olimpia in seinen Augen nun nicht mehr starr und mechanisch wirkt, sondern plötzlich von Lebendigkeit erfüllt ist. Von diesem Moment an ist Nathanael blind für alle unnatürlichen Eigenschaften, die seinen Mitmenschen weiterhin an Olimpia auffallen. So kann man mit Recht sagen, dass der Blick durch das Perspektiv weniger die Automate sehend gemacht, sondern vielmehr Nathanael geblendet hat, da er nun jene Wesensarten der Automate, die verhindern, dass ein Mensch sich weiter für sie interessiert, nicht mehr sieht. Erst unter diesen Voraussetzungen ist es überhaupt möglich, dass Nathanael sich auf eine Kommunikation mit der Automate einlässt, denn nur indem er alle Künstlichkeit übersieht, kann er mit ihr wie mit einem Menschen reden, und nur so kann Olimpias Kommunikationsmethode funktionieren. Da aber Olimpia keinen Charakter besitzt, und nicht zu einer eigenständigen Unterhaltung fähig ist, füllt nun Nathanael diese Lücke aus. Er hört nur, was er hören will, und so ist die Automate wie ein leeres Gefäß, in das Nathanael seine Erwartungen hineingießt, und alles was sie seiner Meinung nach auf seine Ausführungen antwortet, ist ebenso nur ein Echo der Antworten, die er in seiner Einbildung von ihr erwartet. 19 SM, S. 269161 - 269162 20 Ebd., S. 269180 8 Zusammenfassung des Figurenvergleichs Die Charaktere Echo und Olimpia verbinden einige Parallelen, ebenso wie sie sich in einigen Punkten unterscheiden, mehr oder weniger offensichtlich. Das Äußere der beiden ist von ausgesprochener Schönheit. Bei der einen ist diese Schönheit übermenschlich, und damit nur um so attraktiver, bei der anderen ist sie, da sie vom Menschen so geschaffen wurde, ebenfalls übermenschlich, aber gerade dadurch eben nicht attraktiv sondern vielmehr durch ihr künstliches Wesen befremdlich. Beide tragen ein Hindernis in sich, das auf den ersten Blick sehr ähnlich ist, nämlich die Unfähigkeit zur normalen Sprache. Doch diese Ähnlichkeit ist nur oberflächlich, da sie im Falle Echos nur das Phonetische betrifft. Obwohl Echo die Befähigung zum Erschaffen neuer, ungehörter Laute fehlt, ist sie vom Semantischen her – zwar nicht in völlig freiem Umfang – dennoch in der Lage, eigenständige Bedeutungen in die reflektierten Laute zu legen. Olimpia hingegen ist in kommunikativer Hinsicht geradezu das Spiegelbild Echos, denn sie wiederum erschafft neue Laute – ihr „Ach!“ ertönt, ohne dass Nathanael es zuvor ausgesprochen hat – die allerdings keine eigene Bedeutung in sich tragen, sondern nur ein Spiegel der Bedeutungen sind, die der Hörer ihnen zuschreibt. Weitere Parallelen der Texte zueinander Spiegelmotiv An dieser Stelle lässt sich über das Spiegelmotiv wiederum eine Parallele zwischen den beiden Texten ziehen, da die Gemeinsamkeit dieser beiden Figuren wie soeben gezeigt in ihrer Eigenschaft als Spiegel liegt. So wie sowohl ein konkaver als auch ein konvexer Spiegel beide, trotz der gegensätzlichen Bilder die sie liefern, dennoch das Licht reflektieren, so sind auch Echo und Olimpia Spiegel ihrer Partner. Echo als akustischer Spiegel, der das Gesagte mit neuer Bedeutung bereichtert, aber dennoch völlig gleichlautend zurückwirft, und Olimpia als semantischer Spiegel, der mithilfe des immer gleichen Seufzers die Bedeutung des von ihrem Gegenüber Gesagten identisch zu ihm zurückwirft. Die Idee der Spiegelung wiederum ist auch grundlegend für den Narzissmythos, am deutlichsten zu sehen in jener Szene, in der sich der Jüngling Narziss in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Somit lässt sich in den Figuren der Echo und der Olimpia eine Variation eben dieses Spiegelmotivs sehen, die das Wesen der optischen Spiegelung des Narziss auf andere Bereiche, die eben erwähnte Akustik beziehungsweise Semantik, überträgt. 9 Unwissenheit als Voraussetzung für den tragischen Ausgang Eine weitere Parallele zwischen der Hoffmannschen Erzählung und dem Mythos von Narziss und Echo betrifft nicht Narziss' Verhältnis zu Echo, sondern das zu seinem Spiegelbild, in das sich der Jüngling einige Zeit nachdem er Echo abgewiesen hat, verliebt. Dieses Ereignis, das schließlich zur Narziss' tragischem Ende führt, konnte nur unter der Voraussetzung geschehen, dass Narziss sich nicht bewusst war, sein eigenes Spiegelbild zu sehen. Im Mythos ebenso wie im „Sandmann“ ist eine solche Unwissenheit die Voraussetzung für das Unglück. Denn hätte Narziss von vornherein gewusst, dass er nur sein Spiegelbild vor sich hat, so hätte er wahrscheinlich nur seine Schönheit bewundert, verliebt hätte er sich jedoch nicht. Und ebenso wäre Nathanael nie in so tragischer Liebe zur Automate Olimpia entbrannt, wenn er weiterhin Augen für ihre mechanischen Züge gehabt hätte. Einen Schritt, den Narziss vollzogen hat, der für ihn letztendlich unvermeidlich war, vollzieht Nathanael allerdings nicht. Narziss erkennt die Natur des Spiegelbilds. Diese Erkenntnis, die für ihn der Auftakt zu seinem tragischen Ende war, hätte Nathanael vor seinem Schicksal bewahren können. Denn zwar wird Nathanael im Handgemenge der beiden Erbauer Olimpias, Coppola und Spalanzani, deren Natur auf schockierende Weise offenbart. Doch das eigentliche Spiegelbild, nämlich die Tatsache, in der seine Liebe zu Olimpia begründet war, sieht er nicht. Er erkennt ebensowenig, dass seine Faszination von ihr nur in der Einbildung jener Eigenschaften, die er sich selbst ersehnt hatte, bestand, wie den damit verbundenen grundlegenden Umstand, dass er in einer Partnerin nur ein gedankenloses Spiegelbild seiner selbst suchte. Hätte er diese Erkenntnis erreicht, so hätte er auch eine Chance gehabt, über sein eigenes Herangehen an Beziehungen zu reflektieren, und sich somit von dem schlechten Einfluss, den Coppola/Coppelius über die geliebte Automate auf ihn ausübte, zu befreien, da sich dieser ja zu einem großen Teil auch in seinem problematischen Verständnis seiner Beziehung zu seiner Verlobten Klara begründete.21 21 Vgl. Peter von Matt: Die Augen der Automaten, Tübingen 1971, S. 76-116 (von Matt betont die Tragik der nicht vollendeten Erkenntnis des Protagonisten, stellt dabei aber weniger die Beziehungsunfähigkeit Nathanaels ins Licht, sondern konzentriert sich auf einen Vergleich verschiedener Figuren aus Hoffmanns Gesamtwerk im Zusammenhang mit dessen Ideal einer künstlerischen Person und den in Figuren wie Nathanael gezeigten tragischen Schwierigkeiten im Umgang mit ihrer unbeherrschbaren Kreativität) 10 Schluss: Die Automate Olimpia und das ELIZA-Programm von Weizenbaum Betrachtet man die Lösung, die der Mechanikus Spalanzani in Hoffmanns Erzählung gefunden hatte, um eine Kommunikation mit der Automate Olimpia zu ermöglichen, so steht man vor einem Phänomen, das es sicher wert wäre, genauer untersucht zu werden. Denn über die Nutzung eines einzigen Lauts zum Aufbau eines ganzen Gesprächs, wie sie in der Kommunikationsmethode der Automate Olimpia gegeben ist, lässt sich eine Brücke in die moderne Zeit schlagen, zu einer Erfindung, die der Informatiker Weizenbaum 1965 machte. Das von Weizenbaum enwickelte Sprachprogramm ELIZA wandelte die Aussagen eines Gesprächspartners in Fragen um, und gaukelte ihm / ihr so ein interessiertes Gegenüber vor. Dadurch erhält der an der Unterhaltung beteiligte Mensch den Eindruck, mit einem intelligenten Wesen zu kommunizieren. Diese auch heute noch als Grundlage für die im Internet so weit verbreiteten automatischen Kommunikationsprogramme, die sogenannten Chatbots, benutzte Methode erschafft wie die Seufzer der Automate Olimpia den Eindruck intelligenter Kommunikation, obwohl das Programm selbst über keinerlei künstliche Intelligenz verfügt. Dass dies zur Täuschung eines denkenden Menschen benutzt werden kann, zeigt schon die Tatsache, dass das ELIZA-Programm als eines der ersten den sogenannten Turing-Test bestand. Bei diesem Test wird nämlich genau die Fähigkeit eines Programmes getestet, einen Testteilnehmer über die künstliche Natur des Gesprächspartners hinwegzutäuschen.22 Somit kann man durchaus behaupten, dass Hoffmann mit seiner Schilderung der Unterhaltungen zwischen Nathanael und Olimpia rein prinzipiell eine kommunikationstechnische Möglichkeit vorwegnahm, die erst 150 Jahre später ihre technische Umsetzung fand. 22 Für einen kurzen Überblick über das ELIZA-Programm und den Turing-Test siehe: Roland Hausser, Grundlagen der Computerlinguistik: Mensch-Machine-Kommunikation in natürlicher Sprache, Berlin, Heidelberg, 2000, S.1-2 11 Literaturverzeichnis Quellen E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, DIRECTMEDIA Publishing 2005 P. Ovidius Naso: Metamorphosen, 3.Buch, übersetzt und hrsg. von Michael von Albrecht, Stuttgart 1994 Literatur Roland Hausser, Grundlagen der Computerlinguistik: Mensch-MachineKommunikation in natürlicher Sprache, Berlin, Heidelberg, 2000 Detlef Kremer: Romantische Metamorphosen. E.T.A Hoffmanns Erzählungen, Stuttgart 1993 Peter von Matt: Die Augen der Automaten, Tübingen 1971 12
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