Praxisbeispiele Rafael Herlich VII.4 Richtige Zusammensetzung: Wie beim Kuchen backen kommt es auch bei der Zusammenstellung von Betreuungsangeboten auf die richtige Mischung an. Wie zusätzliche Betreuungskräfte qualifiziert und in das Team eingebunden werden Strategien zur interdisziplinären Zusammenarbeit des Altenzentrums der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main I m Altenzentrum der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main gehen Pflege und Betreuung Hand in Hand. Die Pflegeeinrich tung konnte in diesem Jahr zwei neue Betreuungskräfte einstellen, da die Mittel für zusätzliche Betreuungskräfte in stationären Einrichtungen durch das Erste Pflegestärkungs gesetz erhöht wurden. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Alten zentrums sind überwiegend jüdischen Glaubens. „Natürlich ist die jüdische Religion daher eine der wichtigen Säulen unserer Einrichtung“, sagt Mehrnaz Asgarian vom Pflegeleitungsteam. „Dazu gehören die Einhaltung der jüdischen Bräuche und Traditionen, aber auch die Tatsache, dass 40 Praxisseiten Pflege 09/2015 Prozent unserer 174 Bewohnerinnen und Bewohner aus Ländern der ehemaligen Sowjet union stammen und teilweise nur Russisch sprechen“, ergänzt Patrick Wollbold, der stellver tretende Einrichtungsleiter und Koordinator der Pflege. „Eine noch größere Herausforderung liegt allerdings darin, dass viele Menschen hier Überle bende der Shoa sind. Sie sind oft traumatisiert, haben ihre schrecklichen Erfahrungen aber ihr ganzes Leben lang erfolgreich verdrängt. Im Alter oder bei einer beginnenden Demenzerkrankung gelingt die Verdrängung dann oft nicht mehr und die Traumata kehren ganz plötzlich zurück. Die Menschen werden retraumatisiert und benötigen in besonderem Maße unsere Begleitung “, so Wollbold weiter. 1 Praxisbeispiele VII.4 Besondere Herausforderungen für Pflege und Betreuung Patrick Wollbold erzählt, dass die Arbeit mit trau matisierten Menschen natürlich einige Herausfor derungen für die Organisation des Pflegealltags mit sich bringt. Dazu zählt vor allem, dass man Personal braucht, das sich Zeit für die Bewohner innen und Bewohner nehmen kann. „Obwohl wir sehr gut mit Personal ausgestattet sind, kommt im Pflegealltag die eins zu eins Betreuung doch oft zu kurz,“ sagt Mehrnaz Asgarian. „Nun haben wir noch zwei zusätzliche Betreuungskräfte einstellen können, die sich, ob in der Gruppen- oder der Einzelbetreuung, explizit und erweitert um die Interessen der Menschen kümmern können.“ Rafael Herlich Die Aufgaben der Betreuungskräfte unterscheiden sich grundsätzlich vom Arbeitsbereich der Pflegekräfte. Zu den Tätigkeiten der Betreuungs kräfte gehört zum Beispiel die Ausrichtung von Gruppenangeboten oder die Einzelbetreuung bettlägeriger Bewohnerinnen und Bewohner. Wie die Betreuung konkret aussieht, ist individuell ganz verschieden. Das kann der gemeinsame Einkauf sein, ein Friedhofsbesuch oder auch ein persönliches Gespräch im Garten. „Wir haben darauf geachtet, dass die Betreuerinnen und Betreuer die Pflegebedürftigen in ihren Gruppen einzeln kennengelernt und zu ihnen eine Bezie hung aufgebaut haben“, sagt Natalie Haack, die die Leitung des Bereiches übernommen hat. Die Betreuung fängt dabei oft mit kleinen Dingen an, wie das Vorlesen aus einem Buch oder das Sortieren von Fotos. „Dabei können die Mitarbei terinnen und Mitarbeiter schauen, wo die Bedürf nisse der Menschen liegen und was sie als Betreu ungskraft beitragen können, um deren Leben zu vereinfachen. Wir schauen jeweils danach, wie man die Pflegebedürftigen unterstützen kann, wie man ihnen eine Freude machen und auch, wie man sie zu mehr Aktivität anregen kann.“ Vertrautheit: Schon bevor die eigentliche Betreuung beginnt, lernen die Bewohnerinnen und Bewohner die Betreuungskräfte kennen. So entsteht Vertrauen, das für den Alltag in der Einrichtung unabdingbar ist. 2 Praxisseiten Pflege 09/2015 VII.4 Praxisbeispiele Bedarfsgerechte Weiterbildung Um traumatisierte Menschen gut begleiten zu können, sind aber zusätzliche Ausbildungsinhalte wichtig. Die Einrichtung arbeitet daher für die Weiterbildungen der Mitarbeitenden eng mit der Fachhochschule Erfurt und weiteren Universitäten zusammen. „Die Erfurter Professorin WeitzelPolzer beispielsweise, die einen Schwerpunkt in jüdischer Sozialarbeit hat, berät unsere Einrich tung schon lange. Sie kennt daher die besonderen Anforderungen für spezielle Weiterbildungsin halte bei uns sehr gut“, so Wollbold. „Besonders bei uns ist, dass wir auch die Betreuungskräfte in Themen wie dem transkulturellen Austausch oder dem Umgang mit Traumatisierten schulen.“ Passgenaue Betreuungsangebote Für Natalie Haack bedeuten die neuen Betreuungs kräfte eine enorme Erleichterung. „Mit den beiden zusätzlichen Kräften können wir den Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner viel angenehmer gestalten“, sagt sie. Durch die besondere Zusam mensetzung der Wohn- und auch der Tagespflege gruppen ist ein breites Spektrum an Angeboten notwendig. „Unsere Tagespflege findet zum Beispiel abwechselnd auf Deutsch und auf Russisch statt, da unsere Tagespflegegäste unterschiedliche Sprachen sprechen und unterschiedliche Angebote nutzen wollen“, ergänzt Patrick Wollbold. „Unsere russischsprachigen Gäste können beispielsweise wenig mit den typischen Alltags- und Haushalts angeboten, wie Kochen oder Backen, anfangen. Viele von ihnen waren immer berufstätig, haben nie zu Hause gekocht und möchten daher lieber intellektuelle Angebote wie philosophische Diskussionsrunden oder kreative Angebote nutzen“, so Wollbold. Für die Pflege- und Betreu ungskräfte bedeutet das natürlich auch, dass sie sich auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Sprachen einstellen können müssen. Praxisseiten Pflege 09/2015 Rafael Herlich Das Altenzentrum bietet intern die Weiterbildung für Betreuungskräfte an und kooperiert dazu mit verschiedenen Ausbildungsträgern. Die Ausbildung umfasst mindestens 160 Stunden theoretischen Unterricht sowie zwei praktische Abschnitte, in denen die neuen Kräfte ihre Aufgaben im Haus erlernen können. Gefällt mir: Die Gruppenbetreuung macht dann Freude, wenn sich die Teilnehmenden für das Angebot begeistern. Einige Menschen packen lieber beim Backen mit an, andere genießen Vorlese- oder Diskussionsrunden. Als neue Angebote für die Bewohnerinnen und Bewohner wurde neben dem Chor und der bestehenden Sitz-Tanz-Gruppe eine Rhythmus gruppe ins Leben gerufen. Außerdem konnten die Bewohnerinnen und Bewohner auf ihren beson deren Wunsch hin erstmals die Kräuter des hauseigenen Gartens ernten. Aus denen fertigten sie dann Kräuterkissen und verschenkten sie an alle, die im Bett bleiben müssen. So etwas sei nur möglich, wenn die Zusammenarbeit der Betreu ungskräfte mit den Pflegekräften funktioniere, sagt Natalie Haack. Frau Haacks Tür steht daher für die Betreuungskräfte immer offen. Sie können so jederzeit Fragen stellen oder auch die Leiterin bei der Arbeit begleiten, um von ihrer Erfahrung im Umgang mit den Bewohnerinnen und Bewoh nern zu profitieren. „Vor allem bin ich aber neugierig auf ihre Ideen“, sagt Natalie Haack. „Ich ermutige sie, Neues einzubringen und helfe auch bei der Planung. So möchte ich die Betreu ungskräfte dazu motivieren, ihre eigenen Ange bote zu entwickeln.“ Deren Erfolg hänge wiederum hauptsächlich davon ab, wie gut die Betreuungs kräfte die Bewohnerinnen und Bewohner kennen. „Das theoretisch tollste Angebot bringt nichts, wenn es nicht auf die Bedürfnisse der Bewohner zugeschnitten ist“, so Frau Haack. 3 Praxisbeispiele VII.4 Strukturen für gelingende interdisziplinäre Zusammenarbeit Der Einsatz von Betreuungskräften birgt aber auch ein gewisses Potenzial für Konflikte in den Teams. „Die Pflegekräfte waren zunächst schon skeptisch, da sie besorgt waren, dass die ‚schönen’ Situati onen und Momente, in denen ein intensiver Austausch mit den Bewohnerinnen und Bewoh nern stattfindet, nun komplett von den Betreu ungskräften übernommen werden“, berichtet Patrick Wollbold. „Viele haben befürchtet, dass die Pflege nur noch aus Behandlung und funktionalen Tätigkeiten bestehen könnte, wenn die Betreu ungskräfte in die Teams kommen.“ Natalie Haack hat noch dies im Blick: „Es kommt darauf an, dass die neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gut in das bestehende Team integriert sind und ein regelmäßiger Austausch stattfindet. So können alle von den Erfahrungen der Kolle ginnen und Kollegen profitieren.“ Der Austausch ist auch wichtig, damit sich die unterschiedlichen Arbeitsbereiche von Pflege- und Betreuungs kräften optimal ergänzen. Es braucht feste Strukturen, damit ein regelmäßiger Austausch aller Mitarbeitenden stattfinden kann. Die Betreuungskräfte bekommen oft andere Aspekte der Bewohnerinnen und Bewohner mit als die Pflegekräfte, die dennoch auch für die pflegerische Versorgung relevant sein können. „Die Übergabe am Mittag findet zum Beispiel gemeinsam mit Pflege- und Betreuungskräften statt. Außerdem haben wir eine wöchentliche Übergabe, an der das gesamte Team teilnimmt,“ erzählt Patrick Wollbold. „So ist es möglich, dass die Beobachtungen aller, die an der Versorgung beteiligt sind, einfließen und alle ein ganzheitliches Bild der Bewohnerinnen und Bewohner erhalten.“ 4 Die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Alten zentrum der jüdischen Gemeinde wird zusätzlich durch ein Mentoring-Programm und Supervisi onsangebote gestärkt. „Wir haben monatliche Supervisionssitzungen, die gemeinsam und jeweils für die einzelnen Berufsgruppen mit ihren spezifischen Themen stattfinden“, berichtet Wollbold. „Außerdem können alle Mitarbeite rinnen und Mitarbeiter unsere Psychologin kontaktieren. Gerade in der Arbeit mit traumati sierten Menschen ist diese Begleitung wichtig und wird auch genutzt. Damit unterstützen wir die einzelnen Mitarbeitenden und das gesamte Team.“ Diese Strukturen und das Hand in Hand von Pflege und Betreuung kommen vor allem den Bewohnerinnen und Bewohnern zugute, deren Bedürfnisse im Mittelpunkt der Planung von Pflege und Betreuungsangeboten stehen. „Die intensivere Betreuung wirkt sich auf die Pflege und auf das Zusammenleben äußerst positiv aus“, resümiert Natalie Haack. Die Bewohnerinnen und Bewohner, die sich mitteilen können, würden sich oft bedanken. „Sie sagen den Betreuungskräften, wie schön das sei, dass es sie gibt.“ Aber auch bei denjenigen, die sich nicht verbal äußern können, spürt man, dass sie die zusätzliche Betreuung genießen: etwa, wenn sie die Hand der Betreuerin einen Tick länger festhalten als nötig oder ihr Blick sich entspannt. Hintergründe zur Erweiterung des stationären Betreuungsangebots und zur Erhöhung der Zahl zusätzlicher Betreuungskräfte finden Sie auf den Praxisseiten V.2 und V.3. Praxisseiten Pflege 09/2015
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