Pathologische Wissenschaft

Wirtschaft
Pathologische Wissenschaft
Von Silvio Borner _ In der Klimapolitik stützen sich die Grünen
gerne auf wissenschaftliche Erkenntnisse ab. Wären sie doch bei
der Gentechnik oder Kernenergie ebenso forschungsbeflissen.
I
rving Langmuir, Nobelpreisträger für Che­
mie von 1932, prägte den Begriff «patholo­
gische Wissenschaft» für Felder, in denen Ideo­
logien oder Werturteile schnell überhandnehmen. Zum Beispiel, weil sie schwer beob­
achtbare Objekte betreffen oder weil die Fall­
zahlen so gering sind, dass es an statistischer
­Signifikanz mangelt. Dieses Problem stellt sich
bei Grenzwerten für Schadstoffe a­ ller Art, wo es
zwar möglich ist, potenzielle Schad­stoffe in
kleinsten Dosen nachzuweisen, aber die Bezie­
hung von Ursache (steigende Dosis) und Wir­
kung (Risiken) völlig offenbleiben muss. Die
Relevanz für die menschliche ­
Gesundheit
bleibt eine Glaubensfrage.
Entgegen der Praxis «Die Dosis macht das
­ eaktion ange­
Gift» wird eine nichtlineare R
nommen, im Extremfall sogar eine U-förmige
Reaktionskurve: Schon kleinste Mengen entfal­
ten eine grosse Wirkung, die dann bei steigen­
der Dosis nachlässt, bevor sie wie­
der ansteigt. ­Pathologische Wissenschaft ist nicht absichtlich betrüge­
risch und auch nicht rein ideolo­
gisch-politisch gesteuert wie etwa
die Rassentheorien der Nazis oder
wie Lyssenkos ­Anti-Darwinismus
unter Stalin.
In der Klimaforschung liegen
überzeugende Beweise vor, dass der
menschengemachte CO2-Ausstoss
gewaltig ansteigt und klima­relevant ist, ja so­
gar in Richtung einer globalen Erwärmung
wirkt. Aber exakt vorzugeben, wie viel CO2 bis
wann eingespart werden muss, um die Erd­
erwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts auf
zwei Grad Celsius zu begrenzen, ist pathologi­
sche Wissenschaft. Trotzdem ist es legitim, zu
fordern, die CO2-Emissionen langfristig und
­international koordiniert zu reduzieren, weil
hier ein wissenschaftlicher Konsens über die
Klimaerwärmung per se besteht. Ein schweize­
rischer oder gar kantonaler Alleingang im
Eiltempo ist aber eher ein Schuss in den eigenen
Kopf als in den Fuss.
Opportunistisches Verhalten
Im Bereich Biotechnologie ist der wissenschaft­
liche Konsens im Vergleich zum Klima eindeu­
tig stärker und breiter. Ein italienisches For­
scherteam untersuchte 2013 insgesamt 1700
Studien zu den Risiken gentechnisch veränder­
ter Organismen (GVO) und konnte keinen ein­
zigen signifikanten Risikofaktor entdecken.
Weder die menschliche noch die tierische
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­ esundheit werden gefährdet, noch gibt es öko­
G
logische Nachteile, im Gegenteil. Ronald Bailey
erläutert in seinem lesenswerten Buch «The
End of Doom» alle wissenschaftlichen Studien
zur Gentechnik und ­findet keine se­riöse Infra­
gestellung der Biotechnologie. Nun gibt es aber
auch hier ein paar pathologische Wissenschaft­
ler, aber mehr noch ideologi­sierte, die sich in un­
serer modernen Gesellschaft leicht ­Gehör zu
verschaffen vermögen. Der wohl berühmteste
Beitrag stammt vom Franzosen G
­ illes-Éric Séra­
lini, wurde aber im November 2013 vom selben
Journal, das ihn ursprünglich publiziert hatte,
als äusserst fehlerhaft («badly ­flawed») bezeich­
net und zurückgezogen. Trotzdem bringen an­
dere Nicht-peer rev­iewed-Journale die Sache wie­
der aufs Tapet. Tragisch ist hierbei, dass keine
andere Forschungsrichtung je zuvor aus dem
Vorsichtsprinzip heraus so eng reguliert und so
kritisch überprüft w
­ orden ist.
Während sich Grüne gerne auf die
offizielle Klima­forschung abstüt­
zen und Kritiker als «Leugner» be­
zeichnen, bleiben sie von der noch
viel stärkeren Einigkeit im Sektor
Gentechnik unbeeindruckt. Aus
­ihren Reihen hat sich die Gruppe
«European Network of Scientists
for S
­ ocial and Environmental Re­
sponsibility» formiert, die den
Konsens in Frage zu stellen ver­
sucht. Bis jetzt haben weniger als 300 Wissen­
schaftler unterschrieben, die meisten von ihnen
sind als bekennende Aktivisten gegen landwirt­
schaftliche Biotechnologie ­alt­bekannt.
Eine ähnliche Situation haben wir bei den
­Risiken der friedlichen Nutzung von Kern­
energie. Die Wissenschaft hat den empirisch
gutabgestützten Nachweis erbracht, dass die
Risiken für Mensch und Umwelt im Vergleich
zu Kohle, Erdöl und Erdgas extrem ­gering sind.
Aber auch hier behaupten Grüne munter das
Gegenteil, obwohl ihre Vorfahren einst als
Landschaftsschützer die Kernenergie in der
Schweiz befürwortet haben.
Also: Wie verhalten sich die Grünen zu wis­
senschaftlichen Erkenntnissen? Offenbar rein
opportunistisch. Beim Klima passt der Kon­
sens, bei Biotechnologie- und Nuklearrisiken
nicht. Das sollte den Sympathisanten zu den­
ken geben, aber mehr noch den Forschenden,
die sich für solchen Verrat an der Wissenschaft
nicht zu schade sind und etwa als ETH-­Pro­
fessoren ein rein schweizerisches Verbot von
Elektro- und Ölheizungen verlangen.
Weltwoche Nr. 43.15
Illustration: Bianca Litscher (www.sukibamboo.com)