18.05./19.05.15 Mythos und Rivalität: Petersburg und Moskau in der russischen Literatur Thomas Grob, Prof. Dr. Zusammenfassung Um die grossen europäischen Städte haben sich oft, meist in der Tradition Roms, eigene Stadttexte und Stadtmythen gebildet, die der Stadt ihre eigenen symbolischen Bedeutungen verliehen haben. Dies trifft in mehrfacher Weise auch auf Moskau und Petersburg zu. Diese beiden Metropolen, oft auch als Russlands „beide Hauptstädte“ bezeichnet, wurden dabei immer als Gegensätze begriffen. Auf der einen Seite das in Jahrhunderten gewachsene, ringförmige Moskau, das zum mächtigen Zentrum des alten, sich rasch ausbreitenden Moskauer Grossfürstentums wurde, die Stadt aus Holz und der Kremlmauern, die Stadt der Kirchen und der bis ins späte 19. Jahrhundert eher ländlichen Strukturen. Auf der anderen Seite das von Peter dem Grossen ab 1703 aus dem Nichts und unter grossen Opfern erbaute, steinerne Petersburg, die strahlenförmig angelegte Symbolstadt, weit weg vom geographischen Zentrum des Landes, den Naturgewalten des Wassers ausgesetzt und schon früh von Prophezeiungen begleitet, sie sei dem Untergang geweiht. So bilden sich die beiden Stadtmythen in gegenseitiger Abhängigkeit aus dieser Gegensätzlichkeit und aus der Konkurrenz; sie wurden nicht zuletzt in der Literatur ausgebildet und ausgetragen. Doch wurde in der russischen Literatur – und ganz besonders im 19. Jahrhundert bis zur Revolution – nicht nur dieser Gegensatz ausgestaltet, sondern es wurden über ihn immer auch die grossen kulturellen Fragen um die Identität Russlands diskutiert. Mit den beiden Städten hat man unterschiedliche Milieus dargestellt – bei Nikolaj Gogol’ etwa ist es das karikierte Beamtentum in Petersburg, in Lev Tolstojs Krieg und Frieden stehen die alten Adelsfamilien und Stände im patriarchalen Moskau der entwurzelten Hocharistokratie Petersburgs entgegen. Dies alles steht aber immer in Beziehung zu Auseinandersetzungen um das Wesen und die Zukunftsperspektiven des Landes insgesamt, um seine Lage zwischen West und Ost, zwischen Fremdem und Eigenem. Der Vortrag versucht, die wichtigsten Linien in den literarischen Stadtbildern Moskaus und Petersburgs in ihrer Entwicklung nachzuzeichnen und in den Kontext der Stadtentwicklung zu stellen: die Mythisierungen des Wunderwerks Petersburg und seine Gegenmythen, Aleksandr Puškins Auseinandersetzung mit Peter dem Grossen, die diabolisierten Petersburg-Bilder Nikolaj Gogol’s, die Verklärung Moskaus zum ‚Herz Russlands‘ oder die düsteren Petersburg-Bilder Fedor Dostoevskijs und die Frage von Ost und West bei Andrej Belyj – bis hin zu den Moskau-Bildern des sowjetischen 20. Jahrhunderts. Diese beschreiben das unangefochtene, wiederum hoch symbolisierte Zentrum des sowjetischen Reiches, aber sie unterhöhlen es auch, profilieren die Stadt als Lebensraum, oder sie führen die Symbolik ins Absurde. Auch die Konsequenzen in Aussehen und Rolle der Städte bis heute sollen zur Sprache kommen. Literatur und Internetlinks Anziferow, Nikolaj. Die Seele Petersburgs. Aus d. Russ. v. R. von Maydell. Vorwort v. K. Schlögel. München-Wien: Carl Hanser 2003. Bielfeldt, Sigrun. Moskau. Der literarische Führer. Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1993. SeniorenUni. Ein Angebot der Volkshochschule beider Basel und der Universität Basel Volkshochschule beider Basel, Kornhausgasse 2, CH-4051 Basel T +41 (0)61 269 86 66, F +41 (0)61 269 86 76, [email protected], www.vhsbb.ch Borowsky, Kay (Hrsg.). Petersburg – die Trennung währt nicht ewig / V Peterburge my sojdemsja snova. Eine Stadt im Spiegel ihrer Gedichte. Stuttgart: Barbara Staudacher 1996. Jäger, V. / Klein, E. (Hrsg.), Moskau. Klagenfurt: Wieser 1999 [Reihe „Europa erlesen“]. Jäger, V. / Klein, E. (Hrsg.), St. Petersburg. Klagenfurt: Wieser 1998 [Reihe „Europa erlesen“]. Keller, Christoph (Hrsg.), Moskau erzählt. 22 Erzählungen. Frankfurt a.M. : Fischer Taschenbuch Vlg. 1993. Lange, Wolfgang (Hrsg.). Petersburger Träume. Ein literarisches Lesebuch. München-Zürich: Piper 1992. Marginter, Maria / Gawrilow Fyodor. St.Petersburg. Weisse Nächte, dunkle Tage. Literarische Spaziergänge. Fotos von Wiktor Wasiljew. Stuttgart: Klett-Cotta 1998. Memmert-Lunau, Steffi / Angelika Fischer [Fotos], Petersburg: Eine literarische Zeitreise. Berlin: Edition A- B. Fischer 2013. Pross-Weerth, Heddy. Moskau - Von der Siedlung im Wald zur Kapitale einer Weltmacht. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1980. Schalthöfer, Ingrid (Hrsg.). St. Petersburg. Literarische Spaziergänge. Frankfurt a.M. : Insel Verlag, 2002. Schlögel, Karl. Moskau lesen: München: Carl Hanser 2011. Kontakt Prof. Dr. Thomas Grob Slavisches Seminar der Universität Basel Nadelberg 8 4051 Basel Tel.: 061 267 34 11 www.slavistik.unibas.ch [email protected] 2 von 2
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