Neu entdeckte Genmutation verursacht Adipositas

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Neu entdeckte Genmutation verursacht Adipositas
Professor Martin Wabitsch erforscht seit Langem an der Universitätsklinik Ulm die genetischen
Ursachen der Fettleibigkeit (Adipositas). Die klinisch folgenreiche Entdeckung einer weiteren
Ursache für diese komplexe Krankheit bescherte ihm jüngst einen Artikel im renommierten
Fachblatt New England Journal of Medicine. Bei aller Freude über den international
gewürdigten Erfolg - in Deutschland verweigern Gesundheitsministerium und Kassen der
Krankheit die Anerkennung, anders als Weltgesundheitsorganisation und wissenschaftliche
Fachgesellschaften.
Diese politische Blindheit habe mitunter fatale Folgen und führe dazu, dass fettleibige Kinder
hierzulande diskriminiert werden, kritisiert Wabitsch, der auch Präsident der Deutschen
Adipositas-Gesellschaft ist.
Die Ulmer Forscher zeigten erstmals, dass das Sättigungshormon Leptin zwar vom Körper in
den Fettzellen produziert wird, aber nicht wirkt (bioinaktiv ist), weil eine ‚falsche' Aminosäure
(Tyrosin statt Asparagin) das Proteohormon so verändert, dass es nicht an seinen Rezeptor
binden kann. Das führte bei einem Kind zu extremer Fettleibigkeit. Im Alter von drei Jahren
wog das Kind bereits mehr als 40 Kilogramm. Zum wissenschaftlichen gesellte sich bei
Wabitsch der therapeutische Erfolg, denn es gelang ihm, die Adipositas des Kindes mit
rekombinantem Leptin erfolgreich zu behandeln.
Schnelle Reaktion: Mediagnost entwickelt neuen Nachweistest
Das Forscherteam (v. l.) Prof. Dr. Peter Gierschik, Institut für Pharmakologie und Toxikologie; Prof. Dr. Martin
Wabitsch, Prof. Dr. Klaus-Michael Debatin, PD Dr. Pamela Fischer-Posovszky (alle Universitätsklinik für Kinder- und
Jugendmedizin); PD Dr. Barbara Möpps, Institut für Pharmakologie und Toxikologie; Jan-Bernd Funcke (Klinik für
Kinder- und Jugendmedizin). © Universitätsklinik Ulm
Die Kinderärzte um Wabitsch, der die Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie am
Ulmer Uniklinikum leitet, betreuen inzwischen acht adipöse Patienten mit Leptinmangel, der
auf unterschiedliche Mutationen im Leptin-Gen zurückzuführen ist (Funcke 2014). Seit Kurzem
gibt es sogar einen Test, der bioaktives Leptin nachweist. Der antikörperbasierte Immunoassay
erkennt das am Rezeptor gebundene Leptin. Entwickelt hat die Nachweismethode das
Reutlinger Unternehmen Mediagnost in Zusammenarbeit mit dem Endokrinologen Wabitsch.
Der Fund hat Folgen: Lehrbücher, Leitlinien und Empfehlungen müssen umgeschrieben
werden. Bisher wird bei Extremübergewichtigen unter anderem auch das Leptin im Blut
gemessen. Fiel der Wert hoch aus, wurde allerdings ein Leptinmangel wie im Ulmer Fall
ausgeschlossen und die Patienten wurden nicht mit Leptin behandelt.
Eine Krankheit mit epidemischen Ausmaßen
Fettleibige Kinder werden in entwickelten Gesellschaften zum ernsthaften Problem. © Universitätsklinik Ulm
Adipositas im Kindesalter ist in der Medizin ein großes Thema. Die Krankheit hat in den letzten
vier Jahrzehnten epidemische Ausmaße angenommen: Mehr als fünf Prozent aller Kinder in
entwickelten Ländern leiden unter Fettleibigkeit. Meistens, so Wabitsch, lässt sich die Krankheit
weder auf ein klinisches Symptom noch eine monogenetische Ursache zurückführen. Ein
rezessives Erbleiden, wie es jetzt im Fall des bioinaktiven Leptins beschrieben wurde, gilt als
sehr selten. Nur wenige Gene sind bekannt, deren Mutationen in früher Kindheit eine extreme
Fettleibigkeit verursachen. Die meisten dieser Gene sind im ZNS an der Regulation von Hunger
und Sättigung beteiligt. Leptin hat größte Bedeutung für den Fettstoffwechsel, weil es dem
Gehirn den Fettgehalt im Körper rückmeldet und damit als Signal für die
Körpergewichtsregulation gilt.
Wissenschaftlich höchst attraktiv sind alle Hinweise darauf, dass es sich um eine Erkrankung
handelt, die durch eine Störung in einem Regelkreis ausgelöst wird, erklärt Wabitsch die
Bedeutung seiner Entdeckung. Bahnbrechend ist die Entdeckung des bioinaktiven Leptins für
Klaus-Michael Debatin, Chef der Ulmer Kinderklinik. Denn auch in der Immunologie und
Onkologie können Krankheiten ausgelöst werden, weil ein Signalmolekül nicht an den Rezeptor
binden kann. Das werde in der medizinischen Diagnostik bisher nicht untersucht.
Kurios ist die wechselhafte Geschichte des rekombinanten humanen Leptins, mit dem jetzt der
Ulmer Patient erfolgreich therapiert wird. Kurz nach seiner Entdeckung beim Menschen 1996
setzte die Pharma-Industrie auf die Herstellung von rekombinantem Leptin als Appetitzügler
bei Adipösen. Doch das Medikament blieb bei vielen Adipösen wegen ihrer Leptinresistenz
wirkungslos. Das Biotechnologie-Unternehmen Genentech verkaufte die Entwicklung, drei Mal
wechselte der Besitzer. Jetzt vertreibt die US-Firma Aegerion seit 2014 das Medikament zur
Behandlung der Lipodystrophie, einer Erkrankung des Fettgewebes. Im Grunde sind die von
Wabitsch betreuten acht Patienten die Zielgruppe, für die das humane Leptin-Analogon
entwickelt und produziert wurde.
Der Einfluss der Gene ist deutlich größer
Dass die multifaktorielle und komplexe Erkrankung Adipositas in beträchtlichem Maße
("deutlich mehr als 50 Prozent") von den Erbanlagen determiniert wird - davon war Martin
Wabitsch schon lange überzeugt. Jetzt bestätigen ihn Ergebnisse (in: Nature 518, 197–206, 12.
Februar 2015, doi:10.1038/nature14177) aus mehreren Metaanalysen des internationalen
Forscherkonsortiums GIANTS (Genetic Investigation of Anthropometric Parameters). Darin
kommen die Forschergruppen, darunter auch einige aus Deutschland, zwar nicht zu dem
kausalen, wohl aber korrelationalen Schluss, dass neben den bisher bekannten 41
Erbgutstellen weitere 56 Genorte hinzukommen, die mit dem BMI in Verbindung stehen. Der
Einfluss der Gene auf die Entwicklung des BMI werde nun auf 40 bis 70 Prozent geschätzt und
liege damit deutlich höher als bislang angenommen, fasst das vom BMBF geförderte
Fachportal biotechnologie.de am 11. März 2015 zusammen.
Zwar ist Adipositas eine komplexe Erkrankung, aber „wir verstehen sie sehr gut", sagt
Wabitsch. Sie kommt bei dem Teil der Bevölkerung zur Ausprägung, der die Anlagen dazu hat,
und mündet aufgrund der modernen Lebensbedingungen unverschuldet in Adipositas. Es ist
das klassische Prinzip des Umwelt-Gene-Zusammenhangs: Es sind die Lebensbedingungen, die
das Übergewicht vieler Menschen geradezu provozieren. Das in Deutschland gängige
Verständnis, Gewichtsregulation sei auf den Willen, die freie Entscheidung des Menschen
zurückzuführen, sei „definitiv falsch".
Mächtiger Regelkreis reguliert das Körpergewicht
Das Körpergewicht wird in einem komplexen geschlossenen Regelkreis reguliert. Zumindest
beim Erwachsenen ist der Kreis geschlossen, bei Säuglingen und Kleinkindern „ist er
wahrscheinlich noch offen", kann noch eingestellt werden. Ein homöostatisches Regelsystem,
das physikalisch funktioniert, reguliert Energiezufuhr und -verbrauch mit der Schaltzentrale im
Hypothalamus. Daneben gibt es die kognitiv-emotionale Regulation, eine Mischung aus
willentlicher Steuerung und hedonistischen Reizen und Verarbeitung. Über das kognitivemotionale System lässt sich das Gewicht zwar kurzfristig steuern, aber mittel- und langfristig
dominiert das homöostatische System im Zusammenspiel mit weit über hundert Hormonen.
Wabitsch weist auf einen weiteren Umstand hin: Das Gewichtsregulationssystem im Menschen
ist von elementarer Bedeutung, weil es das Überleben des Körpers sichert.
Evolutionsmedizinisch gesprochen muss dieses System hundertprozentig funktionieren, darf
keine Fehler zulassen. Es zu ändern, sei deshalb besonders schwer, weil die homöostatische
Gewichtsregulation auf jede Gewichtsabnahme mit einer Gegenregulation antwortet, um das
vorherige alte Gewicht wieder einzustellen. Allein mit maximaler Willenskraft und komplett
verändertem Leben wird die nachhaltige Gewichtsabnahme gelingen.
Das Körpergewicht wird nicht nur von Genen bestimmt, sondern auch geprägt durch die
Entwicklung während der Schwangerschaft und frühen Kindheit: Aus der „Ulmer KinderStudie" ist bekannt, dass die Produktionsleistung der Betazelle in der Bauchspeicheldrüse
Nicht einfach - die Wahl gesunder Lebensmittel. Genetisch für Adipositas prädisponierte Kinder haben das
Nachsehen. © Universitätsklinik Ulm
während der Schwangerschaft geprägt wird; wird das Kind älter, wird dieser Regelkreis
geschlossen. Ein Kind, das hoch eingestellt ist, wird höhere Insulinspiegel haben, mehr essen
und auch dicker werden als ein Kind, das niedriger eingestellt ist.
Adipositas-Forschung läuft aus
Das Bundesforschungsministerium lässt die Förderung des Kompetenznetz Adipositas in
diesem Jahr auslaufen. Lediglich eine multizentrische, von Ulm koordinierte klinische Studie zu
extrem adipösen Jugendlichen im Alter von 14 bis 21 Jahren, die vor drei Jahren begonnen
wurde, wird weiter gefördert. Alle anderen Formen der Forschungsunterstützung sind
eingestellt worden. Das sei „nicht einfach zu verstehen", schüttelt Wabitsch den Kopf.
Literatur:
Wabitsch M, Funcke JB, et al. Biologically Inactive Leptin and Early-Onset Extreme Obesity. N Engl J Med 2015; 1. Januar 2015,
DOI: 10.1056/NEJMoa1406653.
Hebebrand J, Hinney A, et al. Molekulargenetische Aspekte der Körpergewichtsregulation. In: Dtsch Arztebl Int 2013; 110(19):
338-44; DOI: 10.3238/arztebl.2013.0338.
Locke AE , Kahali B, et al. Genetic studies of body mass index yield new insights for obesity biology. Nature 518, 12.02.2015,
DOI: 10.1038/nature14177.
Funcke JB, von Schnurbein J. Monogenic forms of childhood obesity due to mutations in the leptin gene. Molecular and Cellular
Pediatrics 2014,1:3; DOI: 10.1186/s40348-014-0003-1.
Zur Ulmer Kinderstudie (früher Säuglingsstudie): http://www.adipositasforschung-ulm.de/index.php?id=63
Fachbeitrag
27.04.2015
wp
BioRegionUlm
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Weitere Informationen
Arbeitsgruppe Prof. Martin Wabitsch, Universitätsklinik Ulm
Mediagnost Gesellschaft für Forschung und Herstellung von Diagnostika
GmbH
Deutsche Adipositas-Gesellschaft
e.V.
Der Fachbeitrag ist Teil folgender Dossiers
Optionen für die Ernährungswirtschaft
Schlagworte
Adipositas