Predigt 6.9.15 Gemeindebote

 1 Predigt zum Thema Gospel, Villamont 6. September 2015, Daniel Lüscher (Pfarrer in Münchenbuchsee-­‐Moosseedorf, BE) Und der HERR sprach: Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen, und ihr Schreien über ihre Antreiber habe ich gehört, ich kenne seine Schmerzen. 8 So bin ich herabgestiegen, um es aus der Hand Ägyptens zu erretten und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes und weites Land, in ein Land, wo Milch und Honig fliessen. Und nun geh, Moses, ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, heraus aus Ägypten. Liebe Gemeinde Diese Stelle aus dem Buch Exodus, diese Geschichte der Befreiung des Volkes Israels aus der ägyptischen Knechtschaft – zwischen 1500 und 1000 vor Christi Geburt – wurde zu einer grundlegenden Hoffnungsquelle der nach Amerika verschifften schwarzen Sklaven vom 17. bis ins 19. Jahrhundert. Im Lied Go down Moses wird diese Geschichte explizit besungen: Let my people go – Lass mein Volk ziehen. Die Identifikation mit dem Volk Israel wird in diesem Spiritual offensichtlich. Warum in aller Welt haben sich die Schwarzen aus Afrika an einer Hoffnung festgehalten, die eigentlich diejenige Ihrer Peiniger war? Die weissen Amerikaner waren Christen; die Afrikaner hatten ihre eigenen Stammesreligionen und vorher wohl noch nie was von Moses oder Christus gehört... 2 Obwohl ich überhaupt kein Gospelspezialist bin, lassen Sie mich in der Geschichte etwas zurückblättern, wie es dazu kam bzw. wie sich die Entstehung des Spirituals und Gospels erklären lässt. Die ersten Afrikanischen Sklaven trafen im Jahre 1619 im US-­‐Staat Virginia ein. Sie wurden v.a. auf den Tabak-­‐ und Baumwollplantagen eingesetzt. In den kommenden rund 250 Jahren wurden ca. 10 Millionen Sklaven in die USA verschleppt und mussten dort meist unter menschenunwürdigen Zuständen leben und arbeiten. Zwei Momente spielten eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Spirituals: Ein wesentlicher Teil der afrikanischen Kultur war die Musikalität; dann war es vielen weissen Sklavenbesitzern doch ein Anliegen, die unzivilisierten Neger, wie man sie nannte, zum Christentum zu bekehren und sie so zu halbwegs zivilisierten Menschen zu machen. Mit Hilfe der Bibel wollte man die Schwarzen auch zur Unterwürfigkeit erziehen. Dies stellte sich aber als Trugschluss heraus, denn gerade die Bibel lieferte den Schwarzen eine grosse Kraftquelle, die später mitunter auch zu diversen Sklavenaufständen führte. Diese biblische Kraftquelle begannen sie nun inhaltlich mit ihrer Musikalität zu verbinden. Gesungen wurde bei der Arbeit auf dem Feld, einfache Lieder mit Antwortgesängen. Gesungen wurde dann vermehrt auch in eigenständigen schwarzen Kirchen. Dort entstanden oft aus der Predigt heraus neue Lieder, indem der Prediger einen Gedanken vorsang und die Gemeinde darauf antwortete. Viele Spirituals haben also ein sehr spontanes Enstehungsmoment. Der Negro-­‐Spirituael – wörtlich die schwarze geistliche Musik – geht dem Gospel voraus. 3 Der Gospel entsteht erst nach der Abschaffung der Sklaverei anfangs des 20. Jahrhunderts und ist so etwas wie die kommerzielle Weiterentwicklung des Spiritual. Gospel leitet sich aus dem altenglischen her, aus den Wörtern god und spel, neuenglisch good spell, was nichts anderes heisst, als Gute Nachricht, also Evangelium. Der Spiritual bzw. der Gospel besingen vorwiegend „die Befreiung aus Not, Unterdrückung und Gefangenschaft“. Es geht um Befreiung aus sozialer Unterdrückung im Hier und Jetzt und es geht aber genauso um Befreiung zum Leben nach dem Tod, nachdem dieses elende Leben hinter sich gelassen werden konnte. Der Glaube an Jesus und seine Worte des ewigen Lebens waren für viele Schwarze überlebenswichtig. Zentral ist wie gesagt auch die Identifikation mit dem Volks Israel. Die Befreiungsgeschichte, die Erlösung aus der Sklaverei in Ägypten deuteten die Schwarzen auf sich: Go down Moses – Let my people go! Spannend ist, dass die Schwarzen die Bilder dieser und anderer biblischen Geschichten als Metaphern brauchten, um sich frei ausdrücken zu können, was sonst einem Sklaven nicht erlaubt war. Es wurde auch eine religiös kodierte Sprache entwickelt, um die Flucht oder einen Aufstand vorzubereiten. So wurde das Gebiet ohne Sklaverei mit My Home, Sweet Canaan (Süsses Kaanan, meine Heimat) oder The Promised Land (Das verheissene Land) umschrieben. Dieses sklavenfreie Gebiet lag auf der nördlichen Seite des Ohio River, den man in der verschlüsselten Sprache als „Jordan“ bezeichnete. Die Flüchtlinge wateten durch das Wasser, um die Hunde der Verfolger abzuschütteln (was im Gospel Wade in the Water besungen wird). 4 In Swing Low, Sweet Chariot, welches wir als erstes Lied gesungen haben, steht „Chariot“ für den Großen Wagen, einen Teil des Sternzeichens Grosser Bär, das sich innerhalb eines Tages um den Polarstern herumdreht. Im Frühling, der wohl besten Zeit zur Flucht, ist kurz nach Sonnenuntergang der „Chariot“ an seinem tiefsten Punkt und weist den Weg nach Norden. Ein letztes Beispiel: Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Harriet Tubmann, eine entflohene Sklavin, die sich dann selber als Fluchthelferin engagierte, Moses genannt und ihr Erkennungszeichen war „Go down Moses“. 1 Womit wir wieder bei der Befreiunggeschichte des Volkes Israel angekommen wären. Befreiung aus Gefangenschaft, Befreiung aus unguten Zuständen. Ich glaube, diese Sehnsucht ist eine zutiefst menschliche Sehnsucht, die auch wir – die wir in ganz anderen Verhältnissen leben – nachvollziehen können. Gerade im sozialen Kontext sind zur Zeit Bewegungen in Gange, die uns bewegen und auch Angst machen können. In den letzten Wochen folgt eine menschliche Tragödie der anderen. Millionen Menschen auf der Flucht, die bedroht und verfolgt sind, die sich vielleich nicht mal nach einem Land sehnen, in dem Milch und Honig fliesst, aber auf jeden Fall nach einem Ort, wo sie sicher sind, ein Dach über dem Kopf, was zu essen und wenn möglich Arbeit haben. Europa ist für diese Menschen so etwas wie das „Gelobte Land“, wo sie auf Befreiung hoffen. Hier sind wir als Christen und Christinnen gefordert, Solidarität zu zeigen, im Gebet, in Gedanken, aber auch in konkreter Handlung, wo es in unserer Macht steht. 1 Informationen entnommen aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Negro_Spiritual 5 Ja, wir stehen auf der Sonnenseite, da, wo das Gras grüner ist, da, wo Milch und Honig fliessen. Trotzdem sind auch wir nicht einfach frei. Auch wir erleben das Gefühl von Gefangensein und Machtlosigkeit. Auch wir leiden immer wieder am Leben. Das liegt in unserem begrenzten Wesen. Wir sind endlich. Wir leben im Wissen um unsere Sterblichkeit. Und dann führt uns auch unser Alltag immer wieder vor Augen, dass vieles nicht so kommt, wie wir möchten, auch wenn wir noch so viel dafür tun. Im Lied des Gesangbuchs „Weit wie das Meer ist Gottes grosse Liebe“ steht ein Satz, der diese Erfahrung treffend in Worte fasst: Und doch sind Mauern zwischen uns und andern, wir sehn einander nur durch Gitter an. Unser Gefängnis ist das eigne Wesen und seine Mauern nichts als unsre Angst. Jeder von uns hat seine Geschichte und seine Prägungen. Unser Gefängnis ist das eigne Wesen. Wir stehen uns manchmal damit selber im Weg, manchmal einander: wir verstehen einander nicht; haben andere Wahrnehmungen, andere Werte...wir sind nicht kompatibel. Wir sind gefangen in unseren Gedanken, unseren Gefühlen... Wir können unserem Wesen nicht entfliehen und sollen das auch gar nicht. Hier kommt für mich ein biblischer Kerngedanke ins Spiel, den wir in der Taufe feiern: Ich bin so angenommen wie ich bin, mit meinem Wesen, mit meinem Grenzen, mit allem, was ich mitbringe. Mein Gegenüber ist das auch, auch dann, wenn ich ihn nicht verstehe und vielleicht auch nicht gerade mag. Dieses grundlegende Gut-­‐ und Rechtsein soll uns helfen, freier aufeinander zuzugehen, offen, ohne sein eigenes Wesen verstecken zu müssen. In der Lesung des Zweiten Testamentes haben wir die paulinischen Wort gehört: Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus. Bei aller Unterschiedenheit ist kein Gefälle zwischen uns Menschen. 6 Das ist unser Gospel, das ist unser Good Spell, die Gute Nachricht, die uns zugesagt ist. Ich möchte zum Abschluss meiner Gedanken an einen Menschen denken, den viele von uns kennen, ein Mensch, der für mich etwas von dieser Guten Nachricht ausstrahlt. Ich denke an Martha Stähli2, die seit einiger Zeit im Spital liegt...am letzten Dienstag vor einer Woche besuchte ich sie im Spital. Sie war sehr schwach. Mittlerweile geht es ihr besser und sie hat gute Hoffnung, das Spital verlassen zu können Ich habe sie bei meinem Besuch gefragt: Martha, was geht Dir jetzt so durch Kopf und Herz...? Sie sagte: Dankbarkeit, einfach Dankbarkeit. Dankbarkeit für all die Zuwendung, die sie in ihrem Leben – welches oft nicht einfach war – erhalten hat. Sie durfte so viel erhalten und geben. Sie hat Zuwendung erlebt und gelebt. Und sie hat so viel Kraft daraus gezogen, dass sie jetzt auch bereit wäre zu gehen. „Ich wünsche Dir ein gutes Leben“, hat sie mir dann gesagt. Das hat mich sehr berührt. Wenn uns das gelingen würde: einander ein gutes Leben zu wünschen und einander in diesem Geist zu begegnen...das wäre schön...da fängt der Gospel an zu schwingen...da kann die Gute Nachricht nicht nur gehört, sondern auch erlebt werden. Eine gute Nachricht, die uns auch eine Hoffnung über unser begrenztes menschliches Wesen zusagt... Weit wie das Meer ist Gottes grosse Liebe...grenzenlos ist sie die Liebe... auch der Tod ist für sie keine Grenze. Diese Hoffnung hat die Schwarzen in Amerika getragen. Diese Hoffnung darf auch uns heute tragen. Swing low sweet chariot, coming for to carry me home. Schaukle sanft, liebliche Kutsche; Du kommst, um mich nach Hause zu führen. Amen 2 Name geändert