Kaspar H .Spinner Wider den produktionsorientierten Literaturunterricht - für produktive Verfahren Von Positionen und Konzeptionen: Wie die Fachdidaktik sich selbst erhält W issenschaftliche D isziplinen leben vom „P arad ig m enw ech sel“ : W issen h ä u ft sich an, stapelt sich in B üchern, belastet G ed äch tn is u n d h em m t Initiative, bis plötzlich d e r W ind sich hebt und d re h t und alle F ragen v o r gew andeltem H o riz o n t neu sich stellen. N u n kann getrost beiseite g eschoben w erd e n , w as schon fast ü b erm äch tig g e w o rd en ist; die B ahn ist frei, d e r aktuelle A n satz, die eigene P osition k ö n n en entw ick elt w erd en . D as H erg eb rach te verstau b t derw eil, bis irg en d w an n w ied er z u r originellen L eistung w ird, das V ergessene au szu g rab en . So h aben auch unsere P a ra d ig m e n (o d e r w as w ir d a fü r hal ten) gew echselt, den sach stru k tu rell o rien tierten , den kom m u n ik ativ en , d en kritischen, den schülerorientierten A n satz haben w ir in den verg an g en en 25 Jah re n D eu tsch d id ak tik kenn en g elern t m itsam t d en A u sg rab u n g en w ie jü n g st d e r R efo rm p äd ag o g ik . D ie junge D isziplin, die w ir v ertreten u n d von d e r w ir leben, h at ihre Id e n titä t g efu n d en , getreu dem G esetz, d aß sich W issenschaft, die n ic h t m eh r w ie die M eisterleh re dien en d in die Praxis eingebunden sein will, d u rch selbstbezügliche T h eo rie b ild u n g ih r R ec h t u n d ihre R echtfertigung verschaffen m uß. U n d so stellen w ir D e u tsch d id ak tik er, die w ir Schule n u r noch sporadisch von innen sehen, unsere K o m p eten z n icht m eh r d u rc h die M eister schaft von V orfü h rstu n d en , so n d ern d u rch A rg u m en tatio n im w issenschaftlichen D iskurs u n ter Beweis. Als neuestes G lied im „P arad ig m en w ech sel“ d e r L iteratu rd id a k tik ist d e rz e it d e r p ro duktio n so rien tierte A n satz in d e r D iskussion. N ach d e m m an schon fast glaub en m ochte, die D eu tsch d id ak tik versinke - angesichts d e r fehlenden A rbeitsperspektiven fü r Lehram tssiudenten, d e r S chließung von P äd ag o g isch en H o ch sch u len und F ak u ltäten , d e r Streichung von S tu d ien p lätzen , d e r feh len d en B erufsperspektive des w issenschaftlichen N achw uchses und des A bbruchs d er S chulreform im Z eich en d e r W en d e - in R esigna tion und nostalgische E rin n e ru n g an die g lorreichen 7 0 er Ja h re , h at die E n td e c k u n g (o d er vielleicht d o c h besser: die W ie d e ren td eck u n g ) d e r kreativ en , p ro d u k tiv en , h a n delnden Form en des U m gangs m it L iteratu r ein H o ffn u n g sze ic h e n g esetzt: In d e r D eu tsch d id ak tik ist o ffen b ar d o ch n och etw as los und noch n ich t aller Tage A bend. A uch w enn m anche die n euen T en d en zen fü r einen R ü c k z u g ins Subjektiv-U nverbindliche, H arm lo se, U npolitische h alten : die V e rtre te r des p ro d u k tio n so rie n tie rte n A nsatzes sehen sich auf dem W ege des F ortschritts u n d glau b en , d a ß in ihrem A n satz so g ar die k riti schen Z ielsetzungen d e r D id a k tik d e r 7 0 er Ja h re n ich t n u r in teg riert, so n d e rn ü b erh au p t erst z u r E rfüllung g eb ra c h t sind (d azu z.B . F in g e rh u t/M e le n k ./W a ld m a n n 1981). Z u r Iden titätsfin d u n g d e r L ite ra tu rd id a k tik d e r 8 0 er Ja h re d ie n t das K o n z e p t allem al. N u n will ich mich selbst ein er V eran tw o rtlich k eit fü r die P ro p a g ie ru n g d e r neuen A us richtung keinesw egs en tzieh en . Ich halte fü r w ichtig u n d b efreiend, w as in d en letzten Jah ren an M öglichkeiten des L iteratu ru n terrich ts erschlossen w o rd e n ist. A ber so sehr w ir L iteratu rd id a k tik e r es offensichtlich nötig hab en , m it d e r B en en n u n g von Positionen und A nsätzen unseren D iskurs zu stru k tu riere n , w ir sollten d en n o c h eine gewisse D istan z zu den K e n n z eich n u n g en b ew ah ren u n d uns d e r V ereinseitigung b ew u ß t sein, die m it solchen E tik ettieru n g en d ro h t. In diesem Sinne gehe ich h ier auch kritisch au f die schon fast m odisch g ew o rd en e R ed e vom p ro d u k tio n so rie n tierte n A n satz ein. Zum Begriff des produktionsorientierten Literaturunterrichts D e r T erm inus - in A nalogie zu m T erm inus „ k o m m u n ik a tio n so rien tie rte r L ite ra tu ru n te r rich t“ gebildet - ist von G ü n te r W ald m an n in die D iskussion e in g e fü h rt w o rd e n (W ald m ann 1979). V on „p ro d u k tiv en “ V erfah ren w a r schon im V erlau f d e r 7 0 er Ja h re im m er h äu fig er die R ede. D e r p ro d u k tio n so rie n tie rte A n satz e n tsp rin g t einerseits d e r seit den 6 0er Jah ren die L iteratu rd id a k tik b eeinflussenden K reativitätsdiskussion, andererseits stellt e r eine R ad ik alisieru n g des rezep tio n sästh etisch en A nsatzes d a r: D ieser hatte g ezeigt, d aß jedes V erstehen literarisch er T exte dem L eser ein M itsch affen abverlangt. Im p ro d u k tio n so rien tie rte n L ite ra tu ru n te rric h t w ird dieses M itschaffen n ich t n u r als m en ta ler P ro z e ß , sond ern als H e rstellu n g v o n T exten eingeplant. D am it erg ib t sich die B rücke zu den kreativen A n sätzen des D eu tsc h u n te rric h ts, von d en e n aus an d e re n B egrün d u n gszusam m en h än g en h erau s d e r v erän d e rn d e u n d schöpferische U m g a n g m it Sprache g e fo rd e rt w ird. A ufgegriffen w ird im p ro d u k tio n so rie n tierte n L ite ra tu ru n tcrric h t auch die schon alte T radition des „learning by d o in g ": D u rc h eigenes T un sollen die S ch ü ler die didaktisch inten d ierten E insichten gew innen. B eeinflußt von d e r S p ra c h h an d lu n g sth e o rie ist schließlich auch im m er w ie d e r ein „ h a n d lu n g so rie n tierte r“ L ite ra tu ru n te rric h t g efo rd ert w o rd en , w obei d e r H a n d lu n g sb c g riff allerdings a u ß e ro rd e n tlic h untersch ied lich definiert ist. A m besten fu n d iert ist d e r B egriff w ohl im K o n z e p t d e r R e z cp tio n sh an d lu n g en , wie es M üller-M ichaels (g ru n d leg en d M ü ller-M ich aels 1978) und n eu erd in g s R u p p (am au s führlichsten R up p 1987) en tw ick e lt hab en . D ie engen Z u sa m m en h ä n g e zw ischen P ro d u k tio n s- und H an d lu n g so rie n tie ru n g zeig t v o r allem H a a s (1984). Die zwei Gefahren In d er K ritik an p ro d u k tio n so rie n tie rte n K o n z e p tio n e n u n d U n terrich tsv o rsch läg en w ird a u f zw ei unterschiedliche G efah re n hingew iesen, die sich in d e r T at erg eb en , w enn der A n satz in d e r einen o d e r d e r an d e re n R ich tu n g v erab so lu tiert w ird. D ie eine G e fa h r e n t steh t, w enn die P ro d u k tio n sa u fg a b e n n u r als M ittel z u r A nalyse gesehen w erd en - also w enn z.B . G edich te geschrieben w e rd e n , d am it die S ch ü ler V ersm aße u n d R eim sche m ata analysieren lernen. Solche form alistischen Z ielsetzu n g en üben eine g ro ß e A nzie h u n g sk raft auf L eh ren d e aus, weil sie eine ratio n ale K o n tro lle d e r U n terrich tsp ro zesse einschließlich d u rc h sc h au b a re r Ü b e rp rü fu n g u n d B en o tu n g d e r S chülerleistungen erlau ben. D a die F rage d e r B eurteilung fü r d en p ro d u k tio n so rie n tie rten A n satz die g rö ß te H e ra u sfo rd e ru n g d arstellt, liegt g e ra d e bei ihm als A usw eg die E in sch rä n k u n g au f die form alen Z ielsetzu n g en nahe. D ie P ro d u k tio n allerdings ist d an n m eist n u r noch eine R ep ro d u k tio n . A uch w en n die A rb eit m it P ro d u k tio n sa u fg a b e n fü r die fo rm ale A nalyse sinnvoll ist und g eg en ü b er einem n u r d o zie re n d e n u n d a rg u m en tieren d en V orgehen einen w esentlichen F o rtsch ritt darstellt, z u r alleinigen B eg rü n d u n g eines lite ra tu rd id a k ti schen A nsatzes reicht sie n ich t aus. D ie S chüler k ö n n te n sonst den E in d ru c k gew innen, L iteratu r sei um ihrer F orm w illen geschrieben. W as g e h t sie d an n L iteratu r n o ch an? M eist herrscht in d e r T h e o rie u n d P raxis des p ro d u k tio n so rie n tie rte n L ite ra tu ru n te r richts heute allerdings eh e r die en tg eg e n g esetzte A usrich tu n g vo r: D ie W eck u n g und E n tfaltu n g d er kreativen P o ten tiale d e r S chüler w ird als Z iel gesehen. D ie literarischen Texte sind d an n im w esentlichen n u r n o ch d e r A uslöser fü r die eigene gestalterische A rbeit. So sehr auch zu b eg rü ß e n ist, d a ß d e r D e u tsc h u n te rric h t endlich w ie d e r das lite rarische Schreiben (wie d e r K u n stu n te rrich t das Z eich n en u n d M alen) als Teil seiner A ufgabe begreift, so w enig w ird m an d en L ite ra tu ru n te rric h t a u f diesen A spekt beschränken dürfen . D en n literarische Texte verd ien en es auch, um ih rer selbst, um d er B otschaft w illen, die sie verm itteln, ern stg en o m m en zu w erden. Sow ohl die form alistische V eren g u n g w ie die E in sch rän k u n g d e r Z ielsetzu n g au f die P ro d u k tio n stätig k eit d e r S chüler vern ach lässig t die inhaltliche A u sein an d ersetzu n g m it den literarischen T exten. Es ist, w ie die G eschichte d e r D e u tsc h d id a k tik im m er w ied er gezeigt hat, n ich t leicht, angesichts d e r F aszin atio n , die ein n eu er A n satz au szu ü b en v e r m ag, zugleich die G e fa h re n zu sehen, die e r m it sich b rin g t, w en n er v ereinseitigt w ird. D en H a u p tv ertre tern des p ro d u k tio n so rie n tie rten L iteratu ru n terrich ts m uß m an aller dings zu g u te halten, d aß sie ih r K o n z e p t d u rch au s in an d ere U n terrich tsv erfah ren einge b ettet sehen. U m so m eh r fra g t m an sich, w aru m die E ntw ick lu n g u n d W ied e ren td eck u n g en tsp rech en d er V erfahren gleich zu einem „p ro d u k tio n so rien tierten L ite ra tu ru n te rric h t“ hochstilisiert w erd en m uß. D ie p ro d u k tiv en V erfahren stellen, w ie ich d u rch au s m eine, den w ichtigsten B eitrag d ar, den unsere 80er Ja h re fü r die L iteratu rd id a k tik leisten, aber sie sind nicht das einzige, w o ra u f es a n k o m m t - u n d so w ird m an w o h l sagen m üssen, daß es w ied er .einmal d e r S ystem zw ang d e r D id a k tik als professioneller D isziplin ist, d er aus w ichtigen un3~sinnvollen B eiträgen z u r F achdiskussion gleich einen n euen „A nsatz“ m acht. Ich m öchte im fo lg en d en an drei Beispielen zeigen, w ie p ro d u k tiv e V erfah ren in U nterrich tszu sam m en h än g e ein g eb ettet w e rd e n k ö n n en , o h n e d aß eine V eren g u n g aufs Form ale o d e r eine ausschließliche A u srich tu n g an d e r kreativen G estaltu n g d e r Schüler erfolgt. A uch w enn es schon viele P u b lik atio n en gibt, die in dieser W eise die L eistung p rodu ktiver V erfahren au fzeig en , so ersch ein t es m ir d en n o ch sinnvoll, an w eiteren Bei spielen die u nterrich tsp rak tisch en M ö g lich k eiten aufzuzeigen. N a c h d e m in d en v e rg a n genen Jah ren ausführlichere A ufstellungen v o n p ro d u k tiv en V erfah ren v o rg eleg t w o rd e n sind (z.B . F in g e rh u t/M e le n k 1983, H a a s 1984, W ald m an n 1984, S pinner 1987), g e h t es vor allem daru m , die L eistung d e r verschiedenen A rten von p ro d u k tiv en A ufgaben in einzelnen k on k reten U n terrich tszu sam m en h än g en aufzuzeigen. Ich verbinde m it den folgenden Beispielen zugleich die A bsicht, g ru n d leg en d e Z ielsetzun gen des L ite ra tu ru n terrichts zu verdeutlichen, die a u f d e r E bene d e r geistigen E rfa h ru n g an gesiedelt sind. D ie derzeitige B evorzugung von B egriffen w ie p ro d u k tio n s- u n d h a n d lu n g so rien tiert v erfü h rt d azu , die eigentlichen Ziele im T u n d e r S chüler zu sehen, in ihren H a n d lu n g e n und S chreibprodukten. Ich halte nach w ie v o r das, w as die A u sein an d ersetzu n g m it L ite ra tu r auf d e r m entalen E b en e auslöst, fü r w ichtiger. In d e r R egel liegt beim p ro d u k tio n so rie n tierte n L ite ra tu ru n te rric h t ein besonderer S chw erpunkt auf d e r R olle, die die L iteratu r fü r die Selbstvergew isserung o d e r Ichfind u n g des L esenden spielt. D a d a z u (auch von m ir) sch o n viel g eschrieben w o rd en ist, ko n zen triere ich mich im fo lg en d en au f e rg ä n z e n d e A spekte. Perspektivenübernahme Für die B egründu n g des p ro d u k tio n so rie n tie rten L ite ratu ru n terrich ts w ird im m er wieder auf das rezeptionsästh etisch e M od ell d e r L eerstelle z u rü ck g eg riffen : L iterarische Texte arbeiten m it A ussp aru n g en , die d e n Leser d a z u an h alten , N ich t-G esag te s in d e r eigenen V orstellung zu erg än zen (g ru n d leg en d Iser 1970). M it P ro d u k tio n sa u fg a b e n kann die dem Leser abgefo rd erte V orstellu n g stätig k eit sich tbar u n d d isk u tie rb a r g em ach t w erden, etw a w enn bei einem H a n d lu n g ssp ru n g in einem T ext die zu e rg ä n z e n d e n Z w ischen schritte ausform u liert w erd en . A llerdings - u n d d as w ird o ft üb erseh en - k an n eine schriftliche A usform ulierung nie das ein h o len , w as d u rch die L eerstellen beabsichtigt ist: Sie öffnen den Text fü r unsere V orstellung so, d a ß w ir in den u n tersch ie d lich en P erspek tiven, die ein T ext z u r V erfü g u n g stellt, das T extgeschehen sehen. O b sc h o n m it sprachli ch en M itteln hergestellt, h e b t die L eerstelle die G e b u n d e n h e it an die S p rach e auf und erlau b t uns, das M itg eteiltc w ie eine W elt zu erfah ren . D en n w ir sind n ich t m ehr nur A dressaten einer M itteilu n g , so n d ern T eilhaber an ein er fik tio n alen , vorgestellten Welt. D ie schriftliche A u sfo rm u lieru n g von L eerstellenfüllungen d ro h t uns aus dieser V orstel lungsw elt h erau szu reiß en u n d - d a S p rach e n ich t die K o m p lex ität d e r V orstellungsbil'duQg zu erreichen verm ag - an die Stelle ein e r aspek treich en V orstellungs- u n d Sinnbil d u n g schem atische, b analisierende u n d v e rg rö b e rn d e A ussagen zu setzen. V erm eidbar ist die G efahr, w enn das schriftliche A u sp h an tasieren von L eerstellen selbst in literarischer R ed e erfolgt. D a n n w erd e n näm lich n ich t n u r L eerstellen gefüllt, so n d e rn neue L eerstel len geschaffen, und die F estlegung fü h rt zu neuer, w eite rfü h re n d e r O ffe n h e it. D as ist für Schüler nicht einfach, weil sie es g e w o h n t sind, in b e ric h ten d e r o d e r beschreibender R ede sich auszud rü ck en . Ich v erfah re deshalb in d e r R egel so, d a ß ich bei P ro d u k tio n s aufgaben die ersten W o rte des zu schreib en d en Textes vorgebe, und z w a r so, d aß der C h a ra k te r fiktion aler R ed e d eu tlich ist. Als Beispiel diene hier eine P ro d u k tio n sa u fg a b e im R ah m en d e r B eh an d lu n g von C hrista W olfs „K ein O rt. N irg e n d s“. N ach d em in d e r v o rau fg e h e n d e n S tu n d e das W irk lichkeitsverständnis d e r H a u p tfig u re n K leist und G ü n d e rro d e e rö rte rt w o rd e n w ar, hatte ich m ir z u r A ufgabe g em ac h t, m it d en S chülern (1 2 .Jah rg an g sstu fe) d e r F rage nach einem m öglichen u topischen G eh alt im T ext n ach zu g eh en . D a z u w äh lte ich die T ext stelle, bei d e r B ettine die G ü n d e rro d e u n d K leist frag t, w as sie sich w ü n sch ten , w en n sie drei W ünsche frei h ätten . K leist n en n t „Freiheit. Ein G ed ich t. Ein H a u s “ , G ü n d e rro d e aber lach t u n d w e h rt ab: „Ich sag’s d ir später. Sie w ü ß te k ein en , ihre W ü n sch e sind unbe g re n z t.“ D iese R eak tio n G ü n d erro d e s lä ß t vieles o ffe n ; w en n d e r Textstelle n u r en tn o m m en w ird, d aß sie keinen W unsch w eiß, d a n n bleibt die A ussage nichtssagend. W ichtig ist, d aß d e r L eser G ü n d e rro d e s V erhältnis zu m W ü n sch en v o rstellungsm äßig nach zu v o ll ziehen su ch t - n u r so w ird er d e r Stelle die B ed eu tu n g zum essen k ö n n e n , die ih r schon deshalb zu k o m m t, weil sie in d irek tem , w en n au ch versteck tem B ezug zu m T itel d er E rzäh lu n g steht: D ie u n b eg re n z ten W ünsche h aben keinen O rt, sind n irgends zu lokali sieren, sind unerfüllbare U -T opie. U m die V orstellungsbildung zu v ertiefen, gab ich den A uftrag, schriftlich zu p h an tasieren , w as d e r G ü n d e rro d e im A nschluß an die S zene, w enn sie allein ist und n o ch einm al ü b er das W ün sch en n a ch d en k t, d u rc h den K o p f gehen könnte. D a zu gab ich als A nfang des zu schreib en d en Textes v o r: „G ü n d e rro d e, w ied er alleine, d ach te nach. D rei W ünsche, w en n sie die h ä tte . . Vi el e Schüler, g ew o h n t, abrufbare Ergebnisse festzu h alten , schrieben einfach drei W ünsche auf, ließen sich also au f die fiktionale R ed e n icht ein. A b er d e r A rb eitsau ftrag gab au c h die M ö g lichkeit, im N ach v o llzu g d e r fiktionalen Perspektive die G ed a n k en G ü n d erro d e s zu phantasieren und dabei z.B . auch die U n m ö g lich k eit des W ünschens w e ite r zu vertiefen. M it d er fiktionalen R ed e tritt m an n icht aus d e r G eschichte h erau s, so n d e rn in sie und ihre P erspektivierung hinein. D ie L eerstellen h aben nach Iser w esentlich die F u n k tio n , den L eserblickpunkt so zu organ isieren , d a ß e r die verschiedenen im T ext angelegten Perspektiven vorstellungsm äßig aktiv iert.1 D eshalb v erw eh rt sich Iser2 ausdrücklich d agegen, w enn m an u nterstellt, seine L eerstellen dienten d a z u , d a ß d e r Leser seine eige nen L ebenserfahrungen in d en T ext einfließen lasse. Es g e h t n ic h t um subjektive P ro je k tionen, so n d ern um den N ach v o llz u g von P erspektiven, nach d en en d e r T ext o rg an isiert ist. D arin ist, wie ich m eine, nun auch viel m eh r zu sehen als bloß eine C h a rak te risieru n g der literarischen K o m m unikationsw eise. F rem de P ersp ek tiv en nach v o llzieh b ar zu m achen, die Leser aus d e r G e b u n d e n h eit an die eigene W eitsicht u n d -e rfa h ru n g h e ra u s treten zu lassen, g e h ö rt zu m w esentlichen Sinn und z u r A ufgabe von L iteratur. D arin liegt eine ih rer an th ro p o lo g isch en B eg rü n d u n g en und ihre V erb in d u n g z u r A lltagsw elt; denn auch im alltäglichen Leben sehen w ir uns d a zu an g eh alten , den a n d eren M enschen nicht n u r von au ß en zu sehen und zu beurteilen, so n d ern eine V orstellung davon zu haben, wie e r S ituationen ein sch ätzt, a u f sie reagiert, an d e re M en sch en b eu rteilt usw. In unserem ganzen sozialen V erhalten gehen w ir im m er von solchen V orstellungen aus, sie sind die B edingung dafür, d a ß das n ich t m eh r in stinktgeleitete Z usam m en leb en d e r G a t tung M ensch üb erh au p t fu n k tio n ieren kann. D ie L ite ra tu r ist vielleicht das w ichtigste M edium , das sich die M en sch h eit d a fü r geschaffen h a t, das N ach v o llzieh en frem d er Perspektiven nicht n u r d u rch den alltäglichen V ollzug, so n d ern auch d u rch kulturelle B earbeitung zu fö rd ern u n d zu trad ieren . So ist ein z e n tra le r B ildungsw ert von L iteratu r zw eifellos in dieser A n leitung z u r P e rsp ek tiv en ü b ern ah m e zu sehen. D ie pro d u k tiv en V erfahren des L iteratu ru n terrich ts sind eine M ö g lich k eit (neben an d e re n ), diesem A nspruch zu entsprechen. Verfremdung Literarische Texte lassen uns ab er n icht n u r E rlebnisperspektiven von F iguren nach v o ll ziehen, sondern sie schaffen auch eine reflexive D istan z, u n d z w a r schon deshalb, weil einm al eingenom m ene P erspektiven im m er w ied er w echseln. D ie d istan zsch affen d e W ir kung von L iteratu r ist am p räg n an testen m it dem B egriff d e r V erfrem d u n g e rfa ß t w o r 1 2 V gl. v o r allem h e r 1976, S. 301 ff. h e r 1975, S. 326. den. In literaturgesch ich tlich er Sicht zeig t sich, d a ß die V erfah ren d e r V erfrem d u n g z.T. g erad ezu parallel z u r im m er stärk eren E rsch ließ u n g v o n In n en p ersp ek tiv en entfaltet w o rd en sind. O ffensichtlich b esteht ein dialek tisch er Z u sa m m en h an g zw ischen perspek tivenerschließenden und v erfrem d en d en V erfahren. So h a t das 19. J a h rh u n d e rt durch die E ntw icklu ng d e r perso n alen E rzäh lfo rm u n d d e r E rzäh lm ittel erlebte R ed e, innerer M o n o lo g und B ew ußtseinsstrom die M ö g lich k eiten des perspektivischen E rzählens im m er w eiter vertieft, zu gleich ab er im m er subtilere u n d d u rc h d rin g e n d e re F orm en der hum oristischen und ironischen (u n d nach d e r Ja h rh u n d e rtw e n d e auch d e r satirischen) V erfrem dung entw ickelt, so d aß etw a bei T h o m a s M a n n , diesem M eiste r d e r erlebten R ed e, gerad e die Stellen intim ster In n en sich t d e r raffin iertesten Iro n isieru n g unterliegen. M an k ö n n te sagen, In n enperspektive verleite d en Leser, sich selbst im T ex t zu vergessen, w enn nicht d u rch V erfrem d u n g en die B ew eglichkeit eines w ech seln d en B lickpunktes und dam it reflexive D ista n z n a h m e geschaffen w ü rd e. A uch L ite ra tu ru n te rric h t sollte vom W echselspiel zw ischen perspektivischer N ä h e u n d D ista n z ieru n g g ep rä g t sein - u n d kei nesw egs m üssen sich die d istan zieren d en F o rm en d e r A u se in an d ersetzu n g a u f In terp re tatio n , A nalyse u n d D iskussion b esch rän k en . A uch p ro d u k tiv e A u fg ab en k ö n n e n d a z u g eh ö ren ; d an n w ird fü r die S chüler d eutlich, d a ß D ista n z ie ru n g n ic h t etw as L iteratu r frem des ist (triviale L ek tü re m ag zuw eilen diese V orstellung b eg ü n stig en ), so n d ern eine W irk u n g d e r literarischen A u sd ru ck sfo rm selbst sein k an n . W ie S ch ü ler v erfrem dende literarische R edew eise ein setzen , sei am Beispiel d e r B eh an d lu n g v o n Schillers A nekdote „E ine g ro ß m ü tig e H a n d lu n g , aus d e r n eu sten G esch ich te“ gezeig t. W ir3 h aben in U n te r richtsversuchen, die w ir in m eh reren K lassen d u rc h fü h rte n , z u n ä c h st d en folgenden T extausschnitt ausgegeben: „Z w ei B rü d er, B a ro n en v o n W rm b., h a tte n sich beide in ein ju n g es v o rtrefflich e s F räulein von W rth r. verliebt, o h n e d aß d e r eine um des ä n d ern L eid en sch aft w u ß te. B eider Liebe w a r zärtlich und sta rk , w eil sie die erste w ar. D as F räulein w a r sc h ö n u n d z u r E m p fin d u n g g eschaffen. Beide ließen ihre N e ig u n g z u r g a n z e n L eid en sch aft au fw ach sen , w eil k ein er die G e fa h r k a n n te , die fü r sein H e rz d ie sch röcklichstc w a r - seinen B ru d e r zu m N e b e n b u h le r zu haben. B eide v ersch o n ten das M ä d ch en m it einem frü h en G estän d n is, un d so h in terg in g e n sich b eide, bis ein u n erw artetes Begegnis ih re r E m p fin d u n g en das g a n z e G eheim nis entd eck te. S chon w a r die Liebe eines jed en bis a u f d en h ö ch sten G ra d gestieg en , d e r unglückseligste A ffekt, d e r im G esch lech te d e r M e n sch en bein ah so g rau sam e V erw ü stu n g en a n g e ric h te t h a t als sein abscheuliches G eg enteil, h a u e schon die g an z e F läche ihres H e rz e n s ein g en o m m en , d a ß w ohl von k ein er Seite eine A u fo p feru n g m öglich w ar.“ D ie S chüler sollten eine eigene F o rtse tz u n g des Textes v erfassen ; viele arb eiteten dabei m it deutlichen V erfrem dungen. E in Beispiel aus ein er 10.G ym nasialklasse: „B eide entschlossen sich zu einem g a r sch rö ck lich en D uell. D ie W ahl d e r W affen fiel a u f Pistolen. Als sie sich jed o c h gegen M itta g in ein er g a r w ü sten E in ö d e zu m D uell g eg e n ü b e rsta n d e n , w ollte sich k ein er des B ru d erm o rd es schuldig m achen. E in e r d e r beid en B rü d er h a tte g a r b e w u n d e rn sw e r tes E in seh en u n d erh ä n g te sich am nächsten B aum au f g a r sc h rö ck lich e W eise. D e r a n d e re , aufs H ö c h s te b etrü b t, nahm eine P istole un d ersch o ß au f g a r sch rö ck lich e W eise d as F räulein von W rthr. Als ihm d a n n b ew u ß t w u rd e , a u f g a r sch rö ck lich ste W eise vo n allen verlassen w o rd e n zu sein, 3 D ie D o k u m e n te zu d ieser U n te rric h tse in h e it en tsta m m en einem u n terrichtsw issenschaftlichen P ro je k t, das ich d e rz e it m it Ing rid B ö ttch er un d G isela K alf d u rc h fü h re . besch lo ß er, auch seinem L eben ein E n d e zu setzen. E r suchte den nächsten F luß a u f u n d e rträ n k te sich au f g a r sch reck lichste W eise.“ D e r Schüler h at das A djektiv „schröcklich“ m it d e r fü r d en h eutigen L eser altertü m li chen L autung fü r ein parodistisches Spiel aufgegriffen. V o r das „sch rö ck lich “ h at e r das ebenfalls altertüm lich w irk en d e „g a r“ g esetzt u n d eine S zenerie im Stil d e r T riviallitera tu r geschaffen. D ie B rüder, so will es die V orstellung, die d e r S chüler von frü h eren Z ei ten hat, schreiten zum D uell, w o llen sich ab er des B ru d erm o rd es n ic h t schuldig m achen - u n d richten d afü r ein um so schröcklicheres U nheil an. So siegt im „K am pf zw ischen Pflicht und E m pfin d u n g “ (von dem d er S chiller-T ext d an n au sdrücklich spricht) das Pflichtgefühl auf to d b rin g en d e W eise; die S ch ü lerfo rtsetzu n g ist ü b er die sprachliche P aro d ie hinaus zu ein er kritischen Folie g ew o rd en , v o r d e r d a n n d e r originale T ext besprochen w erden kann. - E tw as w en ig er drastisch, ab er ebenso p a ro d ieren d ist die fo l gende F ortsetzung ein er Schülerin: „ N u n w ard die Liebe d e r Ju n g fra u a b er einem D ritte n , w e lc h e r aus ho h em A del stam m te. O h n e d a ß die B rü d er von d e r Z u n e ig u n g des D ritte n w u ß te n , w u rd e die H o c h z e it geplant. Je n es F räulein schien sich fü r d er B rü d er S ch m erz n ich t zu interessieren un d lud beide zu ih rer M ä rc h e n h o c h z e it ein. D as liebliche A ntlitz vom za rte n S chleier b ed e c k t, schritt sie zum A ltar, um ihrem L iebsten die Liebe zu schw ören. N u n k n ieten die B ru d e r v o r d e r M u tte r G o ttes K re u z e u n d b a te n um G nade. D a ih r b eid er H e rz e n den S chm erz u n d das L eid nun nicht m ehr lä n g e r e rtrag e n k o n n te , nahm en sie beide d en D o lch und stießen ihn tief in b e id e r Brust. D as B lut sickerte langsam u n d tra u rig aus den to ten K ö rp e rn , w ä h re n d die S tim m ung d e r G äste aufs U n erm eß lich e stieg.“ W ied er w erden altertü m lich e F orm u lieru n g en v erw en d et: „ w a rd “, „d e r B rüder Schm erz“, „vor d e r M u tte r G o ttes K re u z e “ u. a., un d w ied er w ird m it trivial an m u ten d en V ersatzstücken gearbeitet, w obei im G eg en satz z u r an d eren S ch ü lerfo rtsetzu n g n icht so sehr die D ram atik des H an d lu n g sv erlau fs h erau sg eh o b en w ird , so n d ern die G eschichte in ein Bild m ündet, das w ie ein O x y m o ro n zw ei G eg en sätze - das „langsam u n d tra u rig “ fließende B lut und die Feststim m ung - m itein an d er vereinigt. - U n d es g e h t auch m it H a p p y -E n d , wie die F o rtse tz u n g eines H au p tsch ü lers (ebenfalls 10. K lasse) zeigt: „D ie N a c h t des u n e rw a rte te n Begebnisses w a r an g eb ro ch en , d er laue A bend k ro c h übers L and. In d e r H a n d einen ebenso lauen S chaum w ein, n ä h e rt sich eine P erso n dem H a u s e d e re r von W rthr. D e r ältere B ru d er ist’s. E in K lopfen. G e ö ffn e t w ird. Sein F uß stö ß t z ö g e rn d ü b er die Schw elle aus E ich en b alk en . D o ch n ich t E in treten ist sein T un. E r v e rh a rrt, bleibt stehen. Sein Blick, starr, ru h t auf des Jü n g e re n P antoffel. V o r ihm die M aid im leichten K leide. D ies k en n t n u r eine A n tw o rt: K ein P a rd o n ! - V om L icht g eb len d et, w ird d e r B ruder, d e r geliebte, zum ärgsten Feind. A us diesem peinlichsten M o m e n t herau s w agen w ir einen S prung in die D ä m m e ru n g des n ä c h sten M o rg en s. F euchte W iesen, N ebel überw allt. Z w ei P erso n en , nein, vier stehen im G ras. Je d e r Baro n n u r A ugen fü r die - bald - Seinige. D ie S ek u n d an tin ü b erre ic h t jed em seine W affe: D e r alte B rauch w ird vollzogen. R ü c k en an R ü ck en , ein le tz te r K u ß d e r G eliebten. S ch ritt für S chritt. D ie B rü d er en tfern e n sich, den g e h a ß te n B ru d er zu fällen. Sie d re h e n sich a u f dem A bsätze, h in ter jed em seine M aid. H in te r jedem ?? Sie greifen h in te r sich, sta rren h in ter ih r G egenüber. D ie W affen heben sich, schon in A u g en h ö h e. W eiter, hoch in die L uft, die Schüsse knallen. F reudenschüsseü E rk lärt ist diese erfreuliche W en d u n g schnell: D ie w u n d erlich e L aune d e r N a tu r, d o p p elt Leben zu ersch affen , u nd die S chw estern selbst spielten einen Streich. G e n a n n t w erd en sie Z w illinge.“ N o c h raffinierter als in den v o rh erg eh e n d en S chü lertex ten w ird h ier die Fallhöhe vom E rh ab en en zum Trivialen u n d das Spiel m it a ltertü m lich er S p rach e in szen iert - die A nzü glichkeit m it „P an to ffe l“ und „leichtem K leid e“ o d e r die V erw en d u n g d e r au ktorialen Perspektive („w agen w ir einen S p ru n g in die D ä m m eru n g des n äch sten M o rg e n s“) und die ebenso am üsante w ie u n w ahrscheinliche S chlu ß p o in te tu n das Ihrige dazu. Solche S chülerfo rtsetzu n g en fü h ren zu zen trale n F rag en , die sich im Z usam m enhang m it d er S chiller-A nekdote stellen. In ein er A rt V o rred e n im m t Schillcr ausdrücklich B ezug au f die U n te rh a ltu n g sliteratu r seiner Z eit u n d stellt die A n e k d o te , die er erzählt, als G egenm odell ihr gegenüber. D e r heutige Leser k an n sich ab e r d u rch a u s frag en , ob d e r Schiller-T ext n icht seinerseits triviale Z ü g e trä g t u n d die P aro d ie verdient. Z u disku tieren sind dabei die W erto rie n tieru n g e n , die das H a n d e ln d e r F iguren leiten und die heutigen S chülern rec h t frem d sind. D am it w ird die F rage d e r historischen D ista n z ange sprochen. S o g ar fü r die Stilanalyse bieten die S ch ü lerfo rtsetzu n g en , d a sie m it parodistischer N ach ah m u n g arbeiten, A nhaltsp u n k te. D as v erfrem d en d e S ich-E inlassen a u f einen älteren Text, w ie cs h ier erfo lg t, ist eine A rbeit an d e r D iffe re n z : Es ist ein N ach v o llz ie hen des F rem den u n d zugleich ein M a rk ie re n des A bstandes, den m an em p fin d et, eine B alance zw ischen dem S ich-V erlieren ans A n d ere und d e r B eh au p tu n g des eigenen Standpun ktes. Bei d e r A u sein an d ersetzu n g m it historischen T exten ist solche V erbindung von Identifikatio n u n d V erfrem d u n g , v o n N ach v o llz u g und R eflexion die G run d lag e dafür, d aß ein historisches V erstehen m öglich w ird. Urteilende Auseinandersetzung Schon im verfrem d en d en U m g a n g m it T exten ist die b eu rteilen d e A u seinandersetzung angelegt. N ic h t n u r S tellungnahm e zum T ext als solchem o d e r zu seiner B otschaft, son d ern auch das N a c h d e n k e n ü b er die W ertk o n flik te, in die die F iguren v erstrick t sind, ergeben sich d u rch M itvo llzu g u n d v erfrem d en d e R eflexion. Im L ite ra tu ru n te rric h t rea gieren Schüler allerdings o ft a u f d ifferen zierte literarische E rfa h ru n g m it pauschalen U rteilen. P ro d u k tio n sau fg ab en , die die fik tional-perspcktivische D arstellungsw eise auf greifen, k ö n n en helfen, die D iffere n z ierth e it zu erh alten und zu vertiefen. Ich bringe hier ein Beispiel aus dem U n te rric h t in einem 4. S chuljahr. Ich habe m it den K in d ern das K apitel „O m a so rg t fü r G erech tig k eit, u n d K alle sch äm t sich für sie“ aus P e te r H ärtlin g s K in d erro m an „ O m a “ (M ü n ch en : dtv 1979) b esprochen. D ie K in d er h a tte n das Buch zu H au se g a n z gelesen. A n d e r Stelle, an d e r d e r folgende A bschnitt au fh ö rt, stellte ich eine P ro d u k tio n sa u fg a b e : „K alle h atte K rach m it R alph. Sie v erp rü g e lten sich. R alp h zo g so lange an K alles H o se , bis sie einen lan g en R iß h a u e u n d dem K alle auf die K nie rutschte. O m a h ö rte , d a ß es u n ten im H o f K rach gab. Sie w a r an diesem T ag schon zw eim al die T reppen vom fü n ften S to ck h in u n ter- u n d her au fg eg an g en - und das g e n ü g te ihr eigentlich. A b e r d e r S treit im H o f m ach te sie u n ru h ig . Sie kam ru n ter. Sie sah d en R iß, die k a p u tte H o s e u n d fra g te : W er h a t das g etan ? W e r h a t dem K alle seine beste H o s e k a p u tt gem acht? Z um K alle sagte sie: Ich h abe d ir d o ch gesagt, w en n du spielst, sollst du die geflickte H o s e anziehen. Sie frag te n o ch einm al; W er w ar das? E in p a a r K in d e r w aren schon w e g g e ra n n t, und die, die übriggeblieben w a re n , auch d e r R alp h , sagten nichts. Kalle auch nicht. O m a sagte: Soll ich euch einzeln an den O h re n nehm en? E ines d e r K in d e r sagte: D as d ü rfe n Sie nicht. D a w erd en Sie bestraft. O m a sagte: F rü h e r d u rfte m an das, u n d ich d a rf, w as ich will. K alle sagte: D as ist n ich t richtig, O m a. D u d arfst g a r nicht, w as du willst. D u d a rfst auch keine frem d en K in d er v erhauen. D ie O m a w u rd e z o rn ig u n d g in g S ch ritt fü r S ch ritt auf die K in d e r z u , die stehenblieben u n d sie an sahen. Feige seid ihr, sagte sie. K alle verteid ig te seine F re u n d e. Sie sind nicht feige, sagte er, die H o s e ist einfach so zerrissen, beim Spielen. J e tz t schw indelst du auch noch, sagte O m a. E rst feige sein, und d a n n lügen. P fui D eibel! K alle m erk te, d aß O m a je tz t erst richtig w ü ten d w u rd e. E r v ersuchte, sie zu beru h ig en . D as ist nicht so schlim m m it d e r H o se. W enn du sie zu sam m en n äh st, ist sie w ied er m eine g u te H o s e , sagte er. U n d ich ziehe zum Spielen im m er die an d e re an, bestim m t. D as ist d o ch alles Q u a tsc h , schim pfte die O m a. Es g eh t m ir doch um die G erech tig k eit. K alle v erstan d nicht, w as sie m it G erech tig k eit m einte. A uch die an d eren K in d e r v erstan d en es nicht. W as willst d u d enn? frag te K alle. Ich w ill, d a ß ich w eiß, w e r das w ar. U n d d an n ? frag te K alle. U n d d a n n will ich ihm sagen, d a ß es n ich t richtig w ar. U n d ich w erd e seiner M u tte r sagen, sie soll d ir die H o s e ersetzen. D as g eh t n ich t, sagte K alle. A b er das ist G erech tig k eit, sagte O m a .“ Ich fo rd erte die K in d e r au f, au fzu sch reib en , w as sie v o n K alles V erhalten hielten, und zw ar so, d aß sie Kalle d ire k t an red eten . D ie Schreibform B rief ist d en K in d ern v ertrau t, m it d er F iktionalisierung (A nrede an eine literarische Figur) haben sie keine Schw ierig keiten, Als A nfang gab ich v o r: „K alle, ich finde, D u . . .“ E ine solche A n red e h ält dazu an, nicht n u r die m oralische N o rm fra g e , so n d ern auch den M en sch en , d e r hier in einem m oralischen D ilem m a b efan g en ist, im A uge zu b ehalten. In vielen S ch ü lerfo rtsetzu n g en w urde dann auch S ym pathie m it K alle zum A u sd ru ck g eb rach t, selbst w enn das Lügen verurteilt w urde, z.B .: „K alle, ich finde, D u v erteidigst D eine F reu n d e z w a r g u t, ab e r tro tz d em lügst D u , u n d das finde ich n ich t so gut. D u k ö n n test ja sagen, d a ß D u ihr denjenigen verrätst, ab e r sie d a rf ihn nicht h au en .“ D em K alle w ird h ier so g a r ein V orschlag gem ach t, w ie e r sich besser verhalten k ö n n te - darin zeigt sich eine fü r das A lter d u rch au s typische alltagspraktische K lugheit. A b er es gibt auch strikt norm ative Schülertexte w ie z.B .: „K alle, ich finde, D u h ast die O m a g a n z schön b elogen, w as eigentlich n ich t rich tig ist. D u h ättest d e r O m a sagen sollen, d a ß du un d R alph gestritten h ab t.“ D en n o ch , die P erspektiven bleiben n ich t einseitig; im folgenden T ext w ird auch die O m a kritisiert: „K alle, ich finde, D u h a tte s t kein R e c h t z u lügen, ab e r D u w o lltest au ch D ein e F re u n d e verteidi g en , d am it die O m a sie n ich t v erh au t. D ie O m a sollte sich n ich t so a u fre g e n , w eil m an die H ose w ied er zu sam m en n äh en k a n n .“ D ie P ro d u k tio n sau fg ab e soll helfen, die V ielschichtigkeit d e r P ro b lem atik w a h rzu n e h m en, indem S ituationen u n d P erspektiven d e r B eteiligten b e rü ck sich tig t w erd e n . D enn L iteratu r zeig t nicht n u r die M o ra l, so n d e rn auch die M en sch en , die m it ih r zu tun h aben und die o ft g en u g an d en h errsch en d en N o rm e n z erb rech en , so d a ß d e r Leser die N o rm e n selbst zu b efrag en b eginnt. Produktionsaufgaben: weniger Ziel als Medium D ie P ro d u k tio n sa u fg a b en , au f die ich e in g eg an g en b in , sind e in g eb e ttet in U n terrich ts zu sam m enhänge, die u nterschiedliche S chülerak tiv itäten um fassen. Es g e h t m ir n icht so sehr d aru m , die S chüler z u r literarischen P ro d u k tio n zu b efähigen o d e r ihnen R ezep tionsh an d lu n g en wie R ezen sie ren , K o m m en tieren usw. als Teil k u ltu reller P raxis beizu b ringen (so sinnvoll auch dies ist), vielm ehr g e h t es m ir um die F rage, w ie die F unktion von L iteratu r als eines M edium s d e r S elbstvergew isserung, des N ach v o llz u g s frem der E rfahrungsperspek tiv en , d e r R eflexion u n d d e r d ifferen zieren d en B eurteilung von In te r a ktionszusam m en h än g en u n te r d en B edingungen von U n te rric h t z u r E n tfaltung g eb rach t w erd en k an n . W o ra u f es an k o m m t bei literarischer E rfa h ru n g , spielt sich z u n ä c h st einm al im In n e rn des Lesers ab; U n te rric h t ab er ist a u f V eräu ß erlich u n g ange w iesen. D as geschieht in d e r F orm v o n G esp räch u n d D iskussion, v o n schriftlicher In ter p retatio n , A nalyse, R ezen sio n usw. - u n d sollte auch in F orm literarisch er P ro d u k tio n s aufgaben erfolgen, d am it fü r die S chüler L ite ra tu ru n terrich t n ich t n u r U m setzu n g literarischer E rfah ru n g in A rg u m en tatio n b e d e u te t, so n d e rn au ch W eiteren tfaltu n g des literarischen (un d d am it m eine ich h ier in e rster Linie: des fiktional-perspektivischen) Z ugangs z u r W elt. Solche P ro d u k tio n sa u fg a b en sind w e d e r H a u p tz ie l n o ch H a u p tm e th o d e des L iteratu ru n terrich ts u n d b e g rü n d e n deshalb n ich t einen U n te rric h t, d e r sich prim är p ro d u k tio n so rie n tie rt nen n en dü rfte. W ohl ab er stellen sie eine w ichtige E rg ä n zu n g d e r u nterric h tsm eth o d isch en M ö g lich k eiten dar. Literatur K a rlh ein z Fingerhut, H a rtm u t M e le n k : Ü b e r d en S tellen w ert v o n „K reativ ität“ im D eu tsch u n terrich t. In : Peter Braun, D ieter K rallm ann (H rs g .), H a n d b u c h D e u tsc h u n te rric h t. B and 2. D ü sseld o rf: S chw ann-B agel 1983, S. 1 8 9-202. . K a rlheinz Fingerhut, H a rtm u t M elenk, G ü n ter W aldm ann: K ritisch er u n d p ro d u k tiv e r U m g an g m it L iteratu r. In : D isk u ssio n D e u tsc h 58 (1981), S. 1 3 0 -1 5 0 . G erhard H aas: H a n d lu n g s- u n d p ro d u k tio n s o rie n tie rte r L ite ra tu ru n te rric h t in d e r S ek u n d arstu fe I. H a n n o v e r: S chroedel 1984. W olfgang /je r.'D ie A p p ellstru k tu r d e r T exte. K o n s ta n z : U niversitätsverlag 1970. W olfgang Iser: Im L ichte d e r K ritik. In: R a in e r W am ing (H rsg .), R ezep tio n sästh etik . 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