Sind alle Zwänge gleich? Untergruppen von Zwangsstörungen, Charakterisierung und Vorkommen Dr. phil. Klaus Bader Verhaltenstherapie-Ambulanz Psychiatrische Universitätsklinik Basel Normale Rituale z.B. Einschlaf- und Aufwach-Rituale religiöse Rituale vermitteln Gefühl von Vertrautheit geben Sicherheit erleichtern das (Zusammen)-Leben sind einem lieb geworden Normalität - Zwang chaotischer Mensch schlampiger Mensch Dreckspatz unordentlicher Mensch schludriger Mensch schmuddeliger Mensch Normbereich Normbereich Normbereich ordentlicher Mensch gründlicher Mensch sehr sauberer Mensch Ordnungszwang Kontrollzwangzwang Waschzwangzwang Zwangsrituale • werden aus einem inneren Drang heraus • • • • durchgeführt, Gefühl des Gezwungenseins sind übertrieben beeinträchtigen das Leben schränken die Freiheit ein verursachen Leiden Fallbeispiel 1 Eine Patientin hatte den Zwangsgedanken, dass sie ihre Familie mit AIDS anstecken könnte und wusch und desinfizierte ihre Hände bis zu 40mal am Tag, jeweils zwischen 5 und 20 Minuten lang. Sie wusste, dass Krebs nicht durch Hautkontakt übertragen werden kann (obwohl sie sich dabei nicht zu 100% sicher war), und meistens war ihr auch klar, dass das dauernde Waschen sowohl sinnlos wie auch störend war. Dennoch wurde sie immer dann, wenn sie die Zwangsgedanken erlebte, ängstlich und verzweifelt und konnte die Sicherheit, dass sie ihrer Familie keinen Schaden zufügt, nur über das Waschen erlangen. Fallbeispiel 2 Frau W., 27, Zahnarzthelferin, wurde von dem Gedanken geplagt, sein könnte unbeabsichtigt etwas schlechtes über ihre Familie erzählen, was sich dann in der Kleinstadt herumsprechen würde. Der Gedanke war derart erschreckend für sie, dass sie jeden Abend mehrere Stunden damit zubrachte, den ganzen Tag in allen Einzelheiten gedanklich zu rekapitulieren und zu überprüfen, ob ihr nichts herausgerutscht sei. Auch während der Arbeit war sie ständig damit beschäftigt, sich diesbezüglich zu kontrollieren bzw. auch vergangene Gespräche nocheinmal durchzuspielen. Sie vermied ausserhalb der Familie schriftliches Material aus der Hand zu geben oder anderen Menschen sehr nahe zu kommen. Im Gespräch mit Fremden achtete sie auf jedes Wort das sie sagte. Erscheinungsformen Zwangsgedanken sich wiederholt aufdrängende Befürchtung, bildhafte Vorstellungen und Handlungsimpulse. Sie sind mit einem Gefühl des Zweifels verbunden und können innere Unruhe, Spannungen, Angst, Ekel, Scham und Schuldgefühle auslösen. Zwangshandlungen wiederholte offene oder verdeckte Verhaltensweisen, zu denen sich die Person gezwungen fühlt, zumeist als Reaktion auf Zwangsgedanken. Sie dienen dazu, Unwohlsein zu verhindern oder zu reduzieren oder gefürchteten Ereignissen vorzubeugen. Sie stehen in keinem realen Bezug zu den gefürchteten Ereignissen oder sie sind deutlich übertrieben. Erscheinungsformen Zwangshandlungen • • • • • • Kontrollzwänge (63%) Wasch-/Reinigungszwänge (50%) Zähl-/Ordnungszwänge (30%) Frage-/Beichtzwänge (30%) Horten/Sammeln (18%) Mischung (50%) • Passives Vermeidungsverhalten • Zwanghafte Langsamkeit Zwangshandlungen bei Kontrollzwängen • übertriebenes Kontrollieren von Elektrogeräten, Schlössern usw. • übertriebenes Kontrollieren, ob jemand durch eigene Schuld zu Schaden gekommen ist • übertriebenes Kontrollieren, ob man einen Fehler gemacht hat Zwangshandlungen bei Waschund Reinigungszwängen • übertriebenes Händewaschen, Duschen oder übertriebene Körperpflege - oft mit einem bestimmten Ritual verbunden • übertriebene Gewohnheiten beim Toilettengang • übertriebene Reinigung von Dingen im Haushalt Erscheinungsformen Zwangsgedanken • Ansteckung / Verschmutzung (45%) • Pathologische Zweifel (42%) (z.B. sich/andere zu schädigen) • • • • • • Körperbezogene Themen (36%) Symmetriebedürfnisse (31%) (z.B. mittig sitzen zu müssen) Sexuelle Themen (28%) (z.B.Belästigungsbefürchtungen) Aggressive Themen (28%) (z.B. jemand zu überfahren) Mischung (60%) ichdystones zwanghaftes Grübeln Aggressive Zwangsgedanken • Befürchtungen, sich oder anderen einen Schaden zuzufügen • zwanghaft sich aufdrängende aggressive Bilder • Befürchtungen, etwas Beleidigendes zu sagen oder etwas Peinliches zu tun • Befürchtungen, einem ungewollten boshaften Impuls nachzugeben Zwangsgedanken mit sexuellem Inhalt • Gegen den Willen sich aufdrängende verbotene oder perverse sexuelle Gedanken und Impulse • gegen den Willen sich aufdrängende sexuelle Zwangsvorstellungen über Kinder oder Verwandte • gegen den Willen sich aufdrängende sexuelle Gedanken, die Homosexualität betreffen • gegen den Willen sich aufdrängende Gedanken, die sich um eigene sexuelle Übergriffe drehen Zwangsgedanken mit religiösem Inhalt • Befürchtungen, Gott zu lästern • gegen den Willen sich aufdrängende gotteslästerliche Gedanken Thema Gewalt und Aggression • Der Gedanke, ältere Menschen zu verletzen • Der Wunsch oder das Bild, dass geliebte Menschen • • • • • • • verletzt oder zu Schaden kommen Der Drang, einen Hund anzugreifen und zu töten Der Drang, einen Menschen anzugreifen und zu töten Der Gedanke oder Wunsch, dass jemand einfach vom Erdboden verschwinden würde Der Impuls, jemanden zu schlagen oder zu verletzen Massive Wut auf einen anderen wegen einer vergangenen Begebenheit Der Impuls, gewalttätig gegen ein (kleines) Kind zu sein, es zu verletzen Der Impuls, jemanden anzuschreien und zu beschimpfen Thema öffentliches Aufsehen • Der Impuls, jemanden anzugreifen und massiv • • • • zu bestrafen Der Impuls, etwas Gemeines zu sagen und jemanden zu verdammen Der Impuls, unangemessene und unflätige Dinge zu sagen („das Falsche am richtigen Ort“) Der Impuls, in der Menge Leute wegzuschubsen und zur Seite zu drücken Blasphemische Gedanken während des Gebets Die wichtigsten diagnostischen Leitlinien nach ICD-10 • 2 Wochen lang an den meisten Tagen Zwangsgedanken (Zg) oder -handlungen (Zh) • Sie wiederholen sich dauernd müssen quälend oder störend sein • Mindestens eine Zh oder ein Zg wird als unsinnig oder übertrieben anerkannt • Sie müssen als eigene Gedanken oder Impulse für den Patienten erkennbar sein • Die Betroffenen versuchen, Widerstand zu leisten • Gedanken oder Handlungen dürfen nicht als angenehm empfunden werden • Betroffene leiden darunter oder sind in ihrer Leistungsfähigkeit behindert Klassifikation nach ICD-10 F42 F42.0 Zwangsgedanken Zwangsstörungen F42.1 Zwangshandlungen F42.2 Zwangsgedanken und -handlungen, gemischt 85% der Patienten Reinecker & Zaudig 1996 Epidemiologie, Verlauf, Prognose • • • • • 2 - 3 % Lebenszeit Prävalenz 1 – 2 % Letzte sechs Monate Männer und Frauen in etwa gleich Unverheiratete häufiger Beginn im Schnitt: Frauen mit 25; Männer mit 20; Vorboten in der Kindheit (nur retrospektiv !) • 95 % vor dem 40 Lebensjahr • Life event als Auslöser, auch schleichender Beginn • ca. 7 Jahre nach Beginn: Behandlungsaufnahme, ca. nach 10 Jahren: Klinik (Ursache: mangelndes Wissen) Epidemiologie, Verlauf, Prognose Chronisch verlaufende Erkrankung Prognostisch ungünstig: • • • • • • Lange Chronifizierung Unverheiratetsein Depression Schizotypie Kontrollzwänge Kein Unterschied mehr: Handlungen vs. Gedanken Komorbidität • • 30-50% Depressionen 30-50% Angststörungen • Somatoforme Störungen (z.B. Hypochondrie) • Störungen der Impulskontrolle (z.B.Trichotillomanie) • 20% Tic-Störungen • 15-49% Persönlichkeitsstörungen, (10% zwanghafte PS) Merkmale der zwanghaften Persönlichkeitsstörung • Übermässige Beschäftigung mit unbedeutenden Einzelzeiten oder Regeln • • • • Perfektionismus, der die Leistungsfähigkeit beeinträchtigt Übermässiger Arbeitseifer Übertriebene Gewissenhaftigkeit Beharren darauf, dass andere alles genau so machen wie er bzw. sie selbst • Die Person zeigt sich im Umgang mit anderen unflexibel. Zwanghaftes Verhalten == Zwangsstörung
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