2.4 Akustische Halluzinationen

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2 Anwendung des kognitiv-behavioralen Modells
2.4 Akustische Halluzinationen
Modell der »inneren Sprachschleife«
Bei Stimmen handelt es sich um Gedanken, die gehört werden, als ob sie aus
einer äußeren Quelle stammen. Das Modell der »inneren Sprachschleife«
(Abb. 2-2) erklärt, wie dieses Phänomen entstehen kann und warum eine Stimme als einer anderen Person zugehörig erlebt wird, und nicht als Ausdruck der
eigenen Gedanken erkannt wird. Die Erklärung, die im Folgenden gegeben wird,
kann für den einzelnen Patienten entsprechend angepasst werden. Die Buchstaben in Klammern beziehen sich jeweils auf Abbildung 2-2.
Hören und Sprechen
Wenn wir jemanden sprechen hören, wird die Botschaft über Nervenbahnen zu
dem Gebiet unseres Gehirns weitergeleitet, das Laute als Wörter erkennt (l). In
diesem frühen Stadium der Verarbeitung ist noch keine Bedeutung mit den
Wörtern verbunden. Die Wörter »Buch« oder »Flad« werden beispielsweise
lediglich als zwei getrennte Wörter erkannt. Die Botschaft wird dann zu einer
anderen Struktur im Gehirn weitergeleitet, die für das Verstehen der Bedeutung
von Wörtern verantwortlich ist (m). Auf dieser Ebene können wir die Bedeutung des Wortes »Buch« erfassen, finden aber keine Bedeutung für »Flad« und
stellen fest, dass es sich nicht um ein Wort unserer Sprache handelt.
Wenn wir antworten, denken wir zunächst über den Inhalt nach, den wir vermitteln wollen (m). Dieses Nachdenken geschieht noch nicht in Form druckreifer Sprache. Die Inhalte werden vielmehr an einen anderen Teil des Gehirns
weitergeleitet, wo ihr Sinn in Worte umgewandelt wird (n). Die neuronalen Botschaften gelangen dann zu den Lippen und der Zunge, wo die Wörter artikuliert
werden (o). Unseren eigenen Worten zuzuhören, stellt eine wichtige Feedbackschleife dar. Sie ermöglicht uns, das Gesagte zu überwachen und bei der Sache zu
bleiben.2
2 Es ist überraschend schwierig, flüssig weiter zu sprechen, wenn diese Feedbackschleife
blockiert ist (z. B. durch Kopfhörer, über die weißes Rauschen zu hören ist).
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p
Identifikation des Sprechers
Bedeutung
• Verstehen
• Denken
m
Erkennen von Lauten
als Wörter
l
jemand
spricht
q
Umwandeln von
Gedanken in Wörter
Weg der
Kommunikaton
innere Sprachschleife
(Denken)
n
o
Abb. 2-2 Das Modell der »inneren Sprachschleife« für das Hören von Stimmen
Denken
Wenn wir denken, haben wir zunächst einen Inhalt vor Augen (m), der in einem
zweiten Schritt in Wörter umgewandelt wird (n). Das ist im Grunde derselbe
Prozess wie beim Sprechen, obwohl beim Denken unter Umständen zunächst
nur einzelne Wörter, die inhaltlichen Schlüsselbegriffe, gebildet werden.3 Die
Übersetzung von Gedanken in Worte geschieht im Gehirn automatisch, weil die
Sprache ein äußerst wichtiges Werkzeug ist. Sie hilft uns, unser Denken zu klären
sowie Ideen zu entwickeln und zu verarbeiten. Der in Worte gefasste Gedanke
wird dann über die für die Worterkennung verantwortliche Gehirnstruktur (l)
an das Areal weitergeleitet, das für das Verstehen des Inhalts (m) zuständig ist.
Diese Feedbackschleife des inneren Sprechens hilft uns, unser Denken zu klären
und zu überwachen. Dies ist z. B. auch der Grund dafür, dass wir manchmal in
Gedanken zu uns selbst sprechen.
3 Interessanterweise sickern einige neuronale Botschaften bis zu den Lippen und der
Zunge durch, obwohl die Gedanken nicht laut ausgesprochen werden, sodass kleinere
Bewegungen während des Denkens beobachtet werden können.
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2 Anwendung des kognitiv-behavioralen Modells
»Stimmen«
Wie aus Abbildung 2-2 hervorgeht, werden einige Bereiche des Gehirns sowohl
beim Zuhören als auch beim Denken aktiviert. Es kann daher relativ leicht zu
Fehlern bei der Entscheidung darüber kommen, woher die verbale Information
stammt. Dieser Fehler entsteht auf einer basalen neuronalen Ebene. Wurden die
Worte erst einmal fälschlicherweise einer äußeren Quelle zugeschrieben, werden sie subjektiv als echte, von außen kommende Worte »gehört« und das Phänomen des »Stimmenhörens« ist entstanden. Dies ähnelt dem Phänomen des
weitergeleiteten Schmerzes. Hierbei wird z. B. ein Schmerz im Fuß empfunden,
obwohl seine neurologische Ursache im Rückenmark liegt.
Warum klingen die »Stimmen« manchmal wie jemand, den man kennt?
Das Gebiet des Gehirns, welches gelernt hat, Stimmen verschiedener Personen
wiederzuerkennen (p), liegt sehr nahe an dem Gebiet, welches Laute als Wörter
erkennt (l). Aus diesem Grund kann es durch Wörter aus der »inneren Sprachschleife« aktiviert werden. In diesem Fall erzeugt das Gehirn die subjektive Erfahrung, dass eine bestimmte Person diese Worte hörbar spricht.
Darüber hinaus »erkennt« dieses Gebiet (p) leichter Stimmen von Menschen,
die die Person erst kürzlich gehört hat oder die ihr gut bekannt sind. Die abgespeicherten Stimmen von besonders wichtigen Menschen, werden daher besonders leicht aktiviert, weshalb ihre Stimmen auch eher »wiedererkannt« werden.
Dies könnte der Grund dafür sein, warum halluzinierte Stimmen, die bestimmten Personen zugeordnet werden, oft in eine dieser beiden Kategorien fallen.
Das beschriebene Gehirnareal (p) ist allerdings nicht immer bei der Entstehung des »Stimmenhörens« beteiligt. Ist dies nicht der Fall, wird die halluzinierte Stimme einer unbekannten Person zugeordnet. Manchmal ist es dem
Stimmenhörer auch unmöglich, den Tonfall oder den Akzent der Stimme, die
Richtung, aus der sie kommt, das Geschlecht oder das Alter näher zu bestimmen. Dies passiert, wenn die Teile des Gehirns, welche die entsprechenden Qualitäten der gehörten Sprache analysieren, nicht durch die Wörter aus der inneren
Sprachschleife aktiviert werden.
Wenn die Stimme eine Erinnerung an einen Sprecher aus der Vergangenheit
darstellt (vgl. »Ersatzüberzeugungen vom Typ ›Erinnerung‹«, S. 291 f), kann dem
Patienten als alternative Erklärung dafür, warum die Stimme wie die einer bestimmten Person klingt, angeboten werden, dass es sich um eine besonders »lebhafte Erinnerung« oder um eine »traumatische Erinnerung« handelt.
Warum werden »Stimmen« nicht als die eigenen Gedanken erkannt?
Im Gehirn existiert eine Struktur, die Inhalte aus der inneren Sprachschleife als
unsere Gedanken erkennt (q). Selbst wenn wir unsere Gedanken laut hören (wie
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es tatsächlich einige von uns tun, s. Kap. 12.3, S. 292 f), erleben wir sie immer
noch als unsere eigenen Gedanken. Wird das Gehörte einer externen Quelle zugeordnet, muss im Gehirn folglich noch ein weiterer Fehler geschehen sein. Die
entsprechende Struktur (q) wurde umgangen und Wörter der inneren Sprachschleife konnten nicht als »eigene« Wörter erkannt werden. Dieser Fehler entsteht auf der neuronalen Ebene, bedingt durch den Krankheitsprozess.
Faktoren bei der Entstehung von »Stimmen«
Obwohl alle Menschen unter bestimmten Bedingungen Halluzinationen entwickeln können, werden manche Personen diesbezüglich mit einer stärkeren
biologischen Prädisposition geboren als andere. (Es ist immer noch Gegenstand
der Forschung, ob Umweltfaktoren, wie z. B. traumatisierende Erlebnisse in der
Kindheit, diese angeborene biologische Prädisposition verstärken können.) Bei
einigen Menschen ist die Prädisposition so stark ausgeprägt, dass sie sogar unter
optimalen Bedingungen Stimmen hören. Für andere müssen zusätzlich Umweltfaktoren hinzukommen.
Auf neurobiologischer Ebene kommt es bei einem hohen kortikalen Erregnungsniveau eher zum Stimmenhören als bei einem niedrigen Erregungsniveau.
Ein hohes Erregungsniveau kann durch den Krankheitsprozess selbst, durch
äußere Stressoren oder aber durch eine Interaktion beider Faktoren hervorgerufen werden. (Anmerkung: Obwohl Stress gewöhnlich mit negativen Ereignissen
in Verbindung gebracht wird, können auch erfreuliche Ereignisse, wie beispielsweise eine Weihnachtsfeier, das kortikale Arousal erhöhen und so zu einer Zunahme des Stimmenhörens führen.) Schlaf-, Nahrungs- und Flüssigkeitsmangel
sind physische Stressoren, die ebenfalls die Wahrscheinlichkeit erhöhen, Stimmen zu hören.
Drogen können direkt in die Hirnfunktion eingreifen und Halluzinationen
hervorrufen. In einigen Fällen werden sie genau zu diesem Zweck eingenommen. LSD ist geradezu berüchtigt für seine diesbezüglichen Wirkungen, aber
auch andere Drogen, wie z. B. Cannabis, können bei vulnerablen Individuen zu
Halluzinationen führen.