„Grosse Vernunft“ Des Leibes II Ferdinand Auhser Die Grundfragen

Volker Gerhardt: Versuch über
Die „Grosse Vernunft“ Des Leibes II
Ferdinand Auhser
Die Grundfragen des philosophischen Diskurses, die Bemühungen, das Wesen, den basalen
Charakter, die Konstitution von Erscheinungen und deren ursprüngliche Verfügung zu
erklären und offenzulegen, das Sein oder das Geschehen an sich in den Blick zu nehmen, sind
immer motiviert und getrieben von dem Bedürfnis, einen Sinn hinter oder über allen
Vorgängen, einen Zweck oder Grund aller Prozessualität zu erkennen, ein Warum und ein
Wozu, in dem alle Stränge der verzweigten und unendlich vielfältigen Bewegungen
zusammenlaufen und ein fassbares, einsehbares Ganzes ergeben. Jedes Denkgebäude, jede
philosophische Systematik baut auf dieser Fragestellung, kreist um das Zentrum einer
sinnstiftenden Instanz, die in der Betrachtung aller Aktivitäten und Geschehnisse Sicherheit
garantieren und für die Lebensführung des Einzelnen Klarheit schaffen, einen sicheren,
unumstößlichen Weg vorgeben kann, die das Leben selbst noch in all seiner
Unberechenbarkeit,
Undurchsichtigkeit,
in
seiner
vordergründigen
Ungerechtigkeit
rechtfertigt.
Dieser Sinn liegt für die klassische Metaphysik immer in einer die sinnliche Welt
übersteigenden, transzendenten Sphäre, in einer Überwelt, zu der es einen rein geistigen,
denkerischen Zugang gibt, die sich als reiner Sinn aller Körper entledigt und in die es nur
einzudringen oder aufzusteigen gelingt, wenn man sich selbst seines Körpers entledigt hat,
sich der Niedrigkeit des Leibes bewusst geworden ist, wenn man gelernt hat, den Körper
niedrig zu schätzen, zu verachten... Und eben diesen Sinn versucht Nietzsche in der Welt der
Körper, in der Welt der Erscheinungen zu rehabilitieren, zu reinkorporieren, versucht, den
Körpern ihren Sinn zurückzugeben als bewegte Organisationen und in sich bewegte
Einheiten, als jene Momente, die als Totalität den Sinn der Erde ausmachen und als Einheiten
in diesen Sinnzusammenhang eingebettet sind, die eine Welt der Wirkungen und darin die in
sich unendlich differenzierte Wirklichkeit konstituieren, die sich nicht selbst verachten,
sondern in ihrer Selbstachtung eigensinnig sind und in immer bedeutungsgeladenem Bezug
zueinander stehen, in einer Beziehungskette, die ständig bewegt und ständig lebendig,
leibhaftig ist.
1
Die Wiederkehr des Sinns
Die Rehabilitation des Sinns in der realen Welt der Körper stellt für Volker Gerhardt das
grundlegende Moment in Nietzsches Rede von der „großen Vernunft“ des Leibes dar, seine
Umwertung, in der er die dogmatisch-metaphysische Weltverdoppelung
durch eine
Aufwertung des Leibes zerstört und absterben lässt, in der der Leib als sinnvolles Ganzes, als
organisierte Einheit in einem Sinnkontext erscheint, als Leib-Vernunft, die in sich alle
Momente der Existenz zu einer bewegten Einheit zusammenfügt. Jeder Trennung oder
Gegenüberstellung von Geist und Körper, von vernünftigen Subjekt und materiellem Objekt
liegt eine naive Wahnvorstellung zu Grunde, eine Flucht, die der geschärfte Verstand des
Erwachten als solche erkennt und sich ihrer Konsequenzen eines schizophrenen Daseins
entledigt, denn der Leib ist „eine Totalität, neben der es nichts gibt, das einen vergleichbaren
Status hat. Wenn das kindliche Gemüt außer dem Leib noch ein ihm ontologisch
vergleichbares Zweites, eben die Seele, zu entdecken glaubt, dann fällt es einem
Missverständnis zum Opfer: Es deutet ein Attribut des Leibes als selbständige Substanz.
Tatsächlich soll ,Seele’ nur ein ,Wort’ für ein ,Etwas am Leibe’ sein. Was ein solches ,Etwas’
sein könnte, sagt Zarathustra beiläufig in einer späteren Rede: Es ist der ,Muth’, mit dem der
Mensch, ,das muthigste Thier’, sein Leben bewältigt (198 f.).“1
Mut aber bedeutet ursprünglich Wille, Ungenügsamkeit, das Streben und Ausgreifen nach
etwas, die Suche, und vielleicht ist es eben jene „kleine Vernunft“ im oder am Menschen, die
einer seiner stärksten Willen, aber eben nur Wille unter anderen ist, keine genuin andere,
überfliegende Dimension, sondern ein Moment am Leib, das ihn mitprägt und mit ausmacht,
das sich aber niemals von ihm ablösen und ohne die große vernünftige Organisation, deren
Teil sie ist, existieren kann. Jeder Körper ist Körper als Organisation von Kräften und darin
selbst ein relatives Konstrukt, Konstrukt von Relationen und Verbindungen, von
Zusammenhängen, eine Zusammenballung von kleinen und kleinsten Körpern, die selbst
immer Willen-zur-Macht Organisationen darstellen und die als Einheit, als Leib nur in der
Verfügung ihrer großen Vernunft, ihrer organisatorischen Vernunft, die selbst Wille zum
Leben ist, auftreten können. Die große Vernunft fügt die einzelnen Willen zu einer Totalität,
einer sinnvollen und eigensinnigen Totalität, sie schafft Einheit unter den gegeneinander
strebenden Willensorganisationen und stellt so die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass
diese Einheit
als Einheit
fortbestehen,
sich
bewegen
und
entwickeln
und
ihr
Handlungspotential steigern kann.
1
Volker Gerhardt, Die „Grosse Vernunft“ Des Leibes, in: Friedrich Nietzsche, Also Sprach Zarathustra, hrsg.
von Volker Gerhardt, 142
2
Man braucht, um die Notwendigkeit einer so gearteten Verfügung einzusehen, nur an die
unendliche Vielfalt von Bewegungsimpulsen denken, die in absoluter Koordination zu
einander stehen müssen, um die einfachsten Aktionen setzen, einen Schritt in eine bestimmte
Richtung tun, die Hand nach einem Gegenstand ausstrecken zu können. „Gesetzt, ein
lebendiger Körper wäre unfähig, seinem Richtungssinn zu folgen; gesetzt, er würde schon
beim ersten Bewegungsimpuls zerfallen, oder er würde nur torkeln, trudeln oder fuchteln [...]:
Dann wäre der Leib als Leib bereits unmöglich, denn er hätte nichts, worauf er sich richten
könnte; er könnte keine Nahrung und keinen Schutz suchen, könnte nicht angreifen und nicht
fliehen. Seine Existenz wäre ohne den ,Sinn’, der in seinen natürlichen Vollzügen liegt, und
damit wäre sie auch schon gescheitert. Ein Leib, der die Vielheit, die er ist, nicht zur Einheit
seiner Vollzüge bringen kann, wäre ganz und gar unmöglich.“2 Und eben darin ist die LeibVernunft als Zusammenhalt und Zusammenführung der unzähligen Leib-Aktivitäten, der
permanent
ablaufenden
Vollzüge
und
Aktionen
sinnstiftendes
Moment,
ist
Zusammenschließen einer Vielheit zu einer gelebten und lebensfähigen Einheit, ist Logos im
Sinne einer einheitlichen Sprache, die eine interne Kommunikation, eine kontinuierliche
Interpretation, ein Zusammenspiel und gegenseitige Information ermöglicht, die als
Bedingung für die reale Form fungiert, die in Erscheinung tritt, für die Leib-Form, die sich
selbst unentwegt neu formieren und neu organisieren muss. Jeder Körper muss aus dieser
Perspektive als Organisationsfeld betrachtet werden, als interne Differenz, die sich als Einheit
präsentiert, als Relation von Kräften, die in der Lage sind, einander zu deuten und zu
interpretieren, die eine Formation hervorbringen, in dem sie in einem Informationszirkel
stehen.
Insofern denkt jeder Leib, jeder Körper, der als Organisation auftritt – aber nur so kann ein
Körper überhaupt sein – denkt, indem sein Bestehen von der internen Homogenität der
Kräfterelationen abhängig ist und denkt, indem er als organisatorische Einheit immer auf
andere Einheiten Bezug nehmen, interpretieren und interpretiert werden kann. „Dieser
Hintergrund ist in Nietzsches Rede von der ,großen Vernunft des Leibes’ einzubeziehen.
Darin wird zum einen hinter die Grammatik des Urteils und hinter die ,kleine’ Vernunft des
auf fundamentalistische Gewissheitsbegründung zielenden Selbstvertrauens zurückgegangen.
Zum anderen ist es der Leib-Zustand, der, als ästhetische Erfahrung, Entstehungsgrund jeder
Art von Sprache und Zeichen ist und als die in diesem Sinne umfassendere Organisation auch
der
Grammatik
des
Urteilens
genealogisch
vorausliegt.“3
Die
tatsächlichen
Bewusstseinsinhalte, alles Greifbare und Bestimmbare, sind nur ein kleiner Ausschnitt,
2
3
ebd. 145
Günter Abel, Nietzsche – Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 167
3
vielleicht nur der kleinste Teil dieser Geschehensprozesse, die immer in den großen
Zusammenhang organisierter Einheiten und deren Interaktion eingebettet sind.
Das Werden der Welt
Die große Vernunft ist eine Vernunft, die zusammenschließt, verbindet, eine gemeinsame
Sprache, einen Kommunikationsraum schafft, aber sie ist eben darin keine transzendente
Verfügung, die alles ihren Gesetzen widersprechende ausschließt, negiert und einen
jenseitigen Kosmos von Bedingungen erstellt, sondern sie ist ein diesseitiger Einschließungsund Zusammenschlussprozess, ein Erschließungs- und Aufschlussprozess, der eine lebendige
Einheit als Willen, und darin als Ausdruck vieler Willen konstituiert und erhält, ja, nicht nur
erhält, sondern im Dasein immer mehr werden will, eine immer gefestigtere und fähigere,
immer mächtigere Einheit. Sie ist real in einer Welt der Wirkungen und ist selbst ein
Wirkungshorizont, ein Sinn-Körper und die Welt selbst ist nur als die Totalität dieser
eigensinnigen Erscheinungen; es gibt hier keinen essentiellen Bruch von belebt und unbelebt,
organisch und anorganisch, bewusst oder unbewusst, sondern nur mehr graduelle Differenzen
in der Komplexität von Organisationen, die gemeinsam den Sinn der Welt konstituieren als
ein ewiges Bezugsfeld, als die Wirklichkeit, als die Vielzahl aller Willen-zur-Macht Prozesse,
die niemals begonnen haben und niemals aufhören werden. Die Welt ist die Wirklichkeit und
die Wirklichkeit ist der Sinn der Erde, den man in der Verachtung des Leibes, in der
Verachtung dessen, das immer schon in diesem Zusammenhang steht und lebt, selbst zu
verachten gelernt hat... „Der einheitliche Sinn, in dem sich die Vielheit der leiblichen
Organisationen realisiert und den wir als die ,grosse Vernunft’ des Leibes zu begreifen haben,
ist somit in Wirkungskonnex der Erde eingelassen. Zwar bewegt sich jeder Leib nach seinem
eigenen Gesetz; er hat damit auch seine eigene Vernunft. Doch sein Gesetz konnte nur unter
den mundanen Konditionen entstehen, die sein irdisches Umfeld bestimmen. Also ist der Sinn
des Leibes ursprünglich auf die Erde bezogen, die ihn hat wachsen lassen. Deshalb spricht
Zarathustra auch vom ,Sinn der Erde’.“4
Zwar können dieser Sinn der Erde und der Sinn des Leibes nicht in eins gesetzt werden, aber
jeder Leib als Sinn und große Vernunft ist in dieser Totalität der Sinnzusammenhänge, der
Sinnorganisationen und ist als Sinn des Leibes immer auch Sinn des Lebens – das Leben als
Werden und das Werden, die Bewegung und Veränderung, die Transformation und
Information der lebendigen Form selbst als das alle Wirklichkeit konstituierende Wesen, die
4
Volker Gerhardt, Die „Grosse Vernunft“ des Leibes, 147 f.
4
Welt aus einer ästhetisch-schaffenden Perspektive, als ein sich selbst immer wieder
hervorbringendes Phänomen, als eine ewige Wiederkehr des gleichen Prinzips, der Wirkung
und Kräfterelation... das alles meint Deleuze, wenn er von der Univozität des Seins spricht,
denn das Sein als Werden spricht aus jeder Erscheinung der pluralen Welt, und eben dies
meint Nietzsche, wenn er sagt: „Dem Werden den Charakter des Seins a u f z u p r ä g e n –
das ist der höchste W i l l e z u r M a c h t.“5
Der Körper, der Leib ist niemals für sich selbst, ist niemals ausgegliedert aus der großen
Relation, ist nicht von seinem Bezugshorizont zu trennen, denn er lebt in diesem Netz der
Verbindungen, er schafft sich permanent selbst in seinem Auftreten, in seiner Form, die er
sich selbst gibt und ist darin in Formation, er formt sich und tritt in dieser Formung immer in
ein dynamisches Feld, in dem er Eindrücke aufnimmt und Eindruck macht – und so verhält es
sich mit jedem Körper, mit jeder Entität. Es ist Sinn in der produzierten Einheit und Sinn an
der Grenze der Einheit, an jener Grenze, die eine andere berührt, die sich ausdehnt und
ausgreift nach einer anderen, die berührt und in der Berührung nicht verloren geht; es ist Sinn,
der Kontakt sucht und Kontakt ermöglicht, kein reiner Eigensinn, der sich einer
Selbstreflexion zur Gänze hingibt, der ohne alles Interesse ist, sondern Sinn ist immer
interessiert, zwischengeschalten, bezogen. Der Leib ist nicht Statthalter einer transzendenten
Idealität, ist nicht der Körper, der Platz schafft für einen Sinn, der in seiner Reinheit über dem
Geschehen schwebt, sondern er ist selbst Sinn und sinnlich in seinem Auftreten, in seiner
Erscheinung. Es ist der Sinn selbst, „der, am Anfang und am Ende, über seiner Grenze
schwebt: und diese Grenze ist der Körper, nicht als reine und einfache Exteriorität gegenüber
dem Sinn, nicht als irgendwie geartete intakte, unberührbare »Materie«, in eine
unwahrscheinliche Transzendenz eingemeißelt, die in der dichtesten Unmittelbarkeit
eingeschlossen wäre (dies ist die karikaturistische Radikalität des »Empfindsamen«, aller
Idealismen und aller Materialismen), also letztendlich nicht als »der Körper«, sondern als der
KÖRPER DES SINNS. Der Körper des Sinns ist keinesfalls die Fleischwerdung einer
Idealität des Sinns: Er ist im Gegenteil das Ende dieser Idealität, folglich das Ende des Sinns,
indem er aufhört, sich auf sich zu verweisen und sich auf sich zu beziehen [...] und sich auf
dieser Grenze aufhebt, die seinen ureigensten Sinn ausmacht und ihn als solchen exponiert.“6
Und der Leib ist an dieser Grenze immer Schöpfer des Sinns, er ist der große Künstler, der es
vermag, Sinn zu stiften und Sinn zu schaffen, indem er selbst als sinnvolle Verfügung, als
Organismus auftritt. Er ist sinnlich und insofern ein ästhetisches Phänomen und die Welt hat
5
6
Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887; KSA 12, 7 [54]
Jean-Luc Nancy, Corpus, 25
5
und ist Sinn, als sie selbst in ihrer Totalität ein ästhetisches Phänomen ist – sie ist und ist
immer schon das Geschehen selbst als ästhetischer Bezugsrahmen, als jener Horizont, an dem
die großen Künstler, die großen Organisationskünstler, die Schaffenden auftreten. Das meint
Nietzsche in der Geburt der Tragödie, wenn er von der Welt als ästhetischem Phänomen
spricht, von der ästhetischen Perspektive, aus der allein das Dasein, das Geschehen ewig
gerechtfertigt erscheinen kann und sich ewig selbst rechtfertigt.
„Der Leib wird nach Analogie eines ,großen Künstlers’ verstanden. An die ,Größe’ seines
Werkes haben wir zu denken, wenn wir das Attribut der ,grossen Vernunft’ des Leibes
begreifen wollen. Es ist eine Größe, die immer auch ihren Urheber überschreitet, die weiter
und umfänglicher ist als er und die daher auch nicht einfach auf ihn, seine Herkunft, seine
Ausbildung, seine Technik reduziert werden kann. Zugleich hat das große Werk des Künstlers
eine Einheit, die jedes plane begriffliche Verständnis überschreitet: So geschlossen und
vollendet es auch wirken mag, so enthält es doch eine unendliche Vielfalt an Bedeutungen,
die schon seine Einheit paradox erscheinen lässt.“7 Diese Einheit erscheint und wirkt in einer
Welt pluraler Perspektiven, erscheint als Werk und zugleich als dessen Schöpfer, steht und
bewegt sich im Dasein als einer Sphäre der Wahrnehmung und der Beziehungen, der
Interpretationen und gegenseitigen Deutungen, in einem ästhetischen Kosmos, der als ewiger
Interpretationszirkel erscheint.
Das schaffende Selbst
Die Einheit als die Totalität der aufeinander wirkenden Willensrelationen, der Kraftquanten,
die immer schon eine innere Differenz, eine immanente Spur, eine différance sind, nennt
Nietzsche das Selbst; das Selbst, das sich erschafft, das sich in seiner vernünftigen
Organisation zum Leben bringt, das sich als Ganzheit und Einheit der internen Vollzüge
präsentiert. Das ist der große, gebieterische Anspruch, der mächtige Gebieter und unbekannte
Weise, das Selbst, das es als Einheit zu bewahren und weiterzuführen gilt, das sich selbst
weiter bringen will, das seine Macht steigern will, denn es ist Macht im Vollzug seiner
Organisation, in der Koordination seiner Individualität, ist ein Kreis, ein bewegtes, rollendes
Rad. Aber dieses Rad will nicht nur für und in sich rollen, sondern aus sich hinaus, will tätig
und schöpferisch werden in dieser Bezugs- und Interpretationswelt, und eben dazu ist das
Selbst der Leibverachtung nicht fähig – es ist nicht in der Lage, das zu tun, was es am liebsten
macht, nicht in der Lage, seinem Wesen gerecht zu werden, denn um aus sich hinaus, über
7
Volker Gerhardt, Die „Grosse Vernunft“ des Leibes, 153
6
sich hinaus schaffen zu können, muss es den Blick auf seine eigene Verfassung gewonnen
haben, muss sich selbst bejahen und in jeder Situation bejahen können, muss seinen Willen
kennen, dem alles nur Spiel- und Werkzeug ist, Funktion, Mittel zur Steigerung seiner Macht.
Das Selbst ist die große Vernunft des Leibes, ist die Verfügung, die den Leib ermöglicht, die
ihm die Möglichkeit gibt, sich zu präsentieren, und diese Organisation, dieses
Organisationsprinzip steht hinter allen Äußerungen, hinter jedem Ich und jeder Vernunft,
hinter jedem Denken und jeder Aktivität, indem sie jeder Aktivität Sinn gibt, indem sie einen
Bezugshorizont schafft, eine Totalität, für die der Geist denkt und die kleine Vernunft
schließt, für die sich ein Bein vor das andere setzt, für die das Herz unentwegt Blut durch den
Körper schickt... ein weises und in jedem Sinne vernünftiges Füreinander, ein schöpferisches
Füreinander, geboten und verfügt durch einen Unbekannten, der Selbst heißt, der Leib heißt,
der Sinn des Leibes heißt: „In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.“8
Der Leib eint in sich eine Vielzahl, eine Unendlichkeit an Willen-zur-Macht Organisationen
und tritt in seiner Einigkeit selbst als Wille zur Macht auf, als etwas, das wirken will, das
nicht stagnieren, sondern immer werden will, das in seinem Schaffen und über sich hinaus
Schaffen immer mehr das werden will, was ist. Denn Wille zur Macht ist für Nietzsche in
jeder Wirksamkeit und in jedem auf sich wirken Lassen gelegen – die Welt ist lebendig und
Leben ist immer Wille zur Macht: „Wo ich Leben sah, fand ich Willen zur Macht: und auch
noch im Willen des Dienenden fand ich Willen zur Macht.“9 Und das Erscheinen des Leibes
ist immer Ausdruck seiner Macht, die er mehren will, als die er präsenter, wirklicher,
wirkungsvoller werden will. Er tritt auf in der Form der Einheit, die sich unentwegt selbst
produziert, die sich permanent in diesem Formationsprozess, in diesem vernünftigen
Informationsprozess wiederfindet, die sich selbst formt und für andere Information ist, in
Relation steht, die als Selbst wirkt und exponiert. Das Selbst ist die Vernunft des Leibes und
wirkt als Ausdruck des Leibes, als sein Exposition, ist seine Form, die er sich im und durch
den Umgang mit sich selbst und seinesgleichen zu geben vermag. „So vermittelt das Selbst
eine (möglicherweise partikulare) Veränderung am Leibe zu einem Gefühl, das zur
Expression des ganzen Leibes wird [...]. Das Selbst ist der als Einheit verstehbare Ausdruck
des Leibes. Es ist die wirksame Konfiguration des ganzen Leibes, so daß er sich als Einheit
präsentieren kann. Im Selbst schafft sich der Leib eine Form, die überhaupt erst Verständnis
für ihn als ganzen Leib ermöglicht. In dieser Form ist ein Leib nicht einfach nur Wirkung,
sondern er übersetzt sich in eine Bedeutung, die er für sich und seinesgleichen haben kann.
Diese Bedeutung konzentriert eine Befindlichkeit des Organismus so, daß er als ganzer in
8
9
Friedrich Nietzsche, Also Sprach Zarathustra, 40
Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1882 – 1884, 459
7
seinem ,Sinn’ wahrgenommen werden kann, angesprochen und gleichsam von einem Punkt
gesteuert werden kann. Kurz: Das Selbst transponiert den Leib in einen möglichen Sinn.“10
Und darin liegt der Sinn von der Rede der großen Vernunft des Leibes, die gewachsen und
größer geworden ist durch das kleiner Werden, das Verschwinden der transzendenten Sphäre
des Sinns, der außerweltlichen sinnstiftenden Instanz. Es ist ein Organisationsprinzip in der
Welt und in jeder Erscheinung der Welt, in jedem Körper, in jedem Leib, in allem, das in
diesen Bezugshorizont der Welt tritt und wieder vergeht, und es ist alles eine Organisation
von Kräfterelationen, die als Relation immer Wille zur Macht sind und ausgreifen nach
anderem, die hungrig und verspielt sind, und in jedem Bezug ist Sinn, jede Beziehung ist Sinn
und sinnlich, schafft Sinn, gibt Antwort, vielleicht sogar eine philosophische Antwort darauf,
warum etwas passiert, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts ist...
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Volker Gerhardt, Die „Grosse Vernunft“ Des Leibes, 160
8