Das Einfamilienhaus ist eine gesellschaftliche Realität

Siedlungsplanung l Planung, Bau und Unterhalt
«Das Einfamilienhaus ist eine
gesellschaftliche Realität»
Seit Jahrzehnten fordern Planer, dass die Siedlungen verdichtet werden. Dennoch entstehen
nach wie vor neue Einfamilienhausquartiere. Die Architekten Stefan Kurath und Tom Weiss
haben sich in einer Studie mit der Zukunft dieser Wohnform befasst. Das «kommunal­
magazin» hat mit ihnen über erfolglose städtebauliche Konzepte, den Sinn von Baugesetzen
und festgefahrene Dogmen gesprochen. Interview: Marcel Müller
Das Einfamilienhaus ist in Verruf
­geraten, weil es viel Fläche in
­Anspruch nimmt. Als nachhaltig
­gelten heute verdichtete Siedlungen.
Warum b
­ efassen Sie sich trotzdem
mit dieser Wohnform?
Stefan Kurath: Nachhaltigkeit ist mitt­
lerweile zu einem inhaltslosen Label ge­
worden. Es ging uns nicht zuletzt darum,
der Diskussion um diesen Begriff neue
Impulse zu verleihen. Natürlich ist das
Einfamilienhaus nicht nachhaltig, wenn
man einen absoluten Massstab anlegt.
Es stellt sich die Frage, was eine solche
Idealvorstellung von Nachhaltigkeit
überhaupt taugt. Fest steht, dass viele
Leute das Bedürfnis haben, in einem
­eigenen Haus zu leben. Wenn das Ein­
familienhaus eine gesellschaftliche Re­
alität ist, die nicht beispielsweise durch
Einfamilienhausverbote einfach so aus
der Welt geschafft werden kann, muss
die Frage gestellt werden, wie es nach­
haltiger gestaltet werden könnte. Das
war die Ausgangsfrage unserer For­
schungsarbeit.
Suchen nach Wegen,
das Einfamilienhaus
nachhaltiger zu machen:
Stefan Kurath (links)
und Tom Weiss.
Bild: Marcel Müller
Nachhaltige Siedlungsentwicklung
wird oft mit Verdichtung gleich­
gesetzt. Wie sehen Sie das?
Tom Weiss: Wenn man bauliche Dichte
pauschal als Lösung postuliert, ignoriert
man die Qualitäten und Chancen des
Typus Einfamilienhaus. Wir haben fest­
gestellt, dass es diverse Möglichkeiten
gibt, um das Einfamilienhaus nach­
haltiger zu machen. Verdichtung ist nur
eine davon.
Kurath: Wir sind der Überzeugung, dass
die Nachhaltigkeit einer Siedlung nur
unter Berücksichtigung der konkreten
Nr. 3 Juni/Juli 2015
Situation vor Ort beurteilt werden kann.
Die Gleichsetzung von räumlicher
Dichte und Nachhaltigkeit ist ideolo­
gisch geprägt. Die Verfechter der dich­
ten, kompakten Stadt sehen diese als
­architektonisch-städtebauliche Ant­wort
auf alles und beurteilen nur das als
nachhaltig, was dieser Ideologie ent­
spricht.
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Kurath: Wir versuchen in unserer Arbeit,
die Thematik der Nachhaltigkeit stärker
in Bezug zum Alltag zu setzen und dem
Begriff so neuen Inhalt zu verleihen. Es
soll wieder möglich werden darüber zu
diskutieren, was man mit Nachhaltigkeit
meint, und zu formulieren, inwiefern ein
konkretes Projekt nachhaltig ist.
Sie haben einen wirkungsgeschicht­
lichen Zugang zum Phänomen
­Einfamilienhaus gewählt. Warum?
Weiss: In der ganzen Nachhaltigkeits­
diskussion werden wirkungsgeschicht­
liche Aspekte der Stadtentwicklung
­ausgeblendet, also die Frage, weshalb­­
etwas wie zustande gekommen ist. Als
vor gut 100 Jahren die Gartenstadt pro­
pagiert wurde, galten Einfamilienhaus­
siedlungen als ideale Wohnform. Noch
bis in die 1950er-Jahre lautete das Credo
‹Raus aus der Stadt›. Diese Entwicklung
wurde auch in der Schweiz staatlich
gefördert.
Kurath: Im 19. Jahrhundert war die kom­
pakte Stadt alles andere als zukunfts­
fähig. Sei es in Paris, Barcelona oder
­Zürich: Während der Industrialisierung
waren die Städte überbelegt, die Arbeit­
nehmer wurden unterdrückt, es gab
­ nruhen und es herrschten miserable
U
hygienische Zustände. Die kompakte
Stadt war an eine Grenze gekommen
und nicht mehr zukunftsfähig. So gese­
hen waren die Befürworter der Garten­
stadt damals Teil einer Nachhaltigkeits­
bewegung. Heute hat man die Umkeh­
rung, die Idealisierung der kompakten
Stadt. Entsprechend gilt das Einfamilienhaus nun nicht mehr als nachhaltig.
Es ist wichtig, sich dieser Wellenbewe­
gungen in der Beurteilung von städte­
baulichen Konzepten bewusst zu sein.
Die Nachhaltigkeit von etwas kann also
nur in Bezug zu den jeweiligen Alltags­
realitäten diskutiert und auch verändert
werden.
Trotz dem Ziel, die Siedlungen zu
­verdichten, werden nach wie
vor neue Einfamilienhäuser gebaut.
Kurath: In 80 Jahren Planungsge­
schichte hat man immer versucht, die
organisierte respektive die dichte Stadt
als Gegenmodell durchzusetzen. Das­
gelang aber nur in wenigen Fällen. U
­ ns
Zur Person
Stefan Kurath ist Professor am Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen der ZHAW und
leitet seit 2014 das Institut Urban Landscape zusammen
mit ­Regula Iseli. Zudem ist er Inhaber des Büros «urbaN­
plus», Zürich, und Teilhaber bei Iseppi-Kurath GmbH in
Graubünden.
Tom Weiss ist Dozent am Institut Urban Landscape des
Departements Architektur, Gestaltung und Bauingenieur­
wesen der ZHAW. Er war Projektleiter des Forschungs-­
projekts Zukunft Einfamilienhaus. Seit 2009 ist er Partner
von Raumbureau, Zürich.
kommunalmagazin.ch l 67
Planung, Bau und Unterhalt l Siedlungsplanung
Testentwurf «Dencity»
hat interessiert, warum es diese Diskre­
panz zwischen Planervorstellung u
­ nd
Siedlungswirklichkeit gibt. Zudem woll­
ten wir wissen, wie Einfamilienhaussied­
lungen entstehen, welche Einflussmög­
lichkeiten die Planer auf sie haben und
wie neue, nachhaltigere Formen von
­Einfamilienhaussiedlungen aussehen
könnten.
Warum sind die Planer mit ihren
Ideen an der Wirklichkeit gescheitert?
Kurath: In der Planungstheorie tendiert
man dazu, als erstes nach treibenden
Kräften einer Entwicklung zu fragen und
dann nach generalisierbaren Lösungen
zu suchen. Wenn man beispielsweise
­davon ausgeht, dass die Mobilität der
«Der Traum vom Eigenheim ist
gesellschaftlich derart tief verankert,
dass er erst unter sehr grossem
Leidensdruck aufgegeben werden wird.»
Stefan Kurath
Gesellschaft das Wohnen abseits im
Grünen erst ermöglicht, die Mobilität
also den Bau von Einfamilienhaussied­
lungen ­befördert, dann ist der Lösungs­
ansatz naheliegend, diese Entwicklung
über CO2-Gebühren einzuschränken. Sol­
che Vorschläge leiden jedoch an Unter­
68 l kommunalmagazin.ch
komplexität, weil davon ausgegangen
wird, dass jeder Einzelne den planeri­
schen Vorgaben Folge leistet. Die Wir­
kungsgeschichte zeigt jedoch, dass ge­
rade dies nicht der Fall ist. Je nach Le­
bensabschnitt wird dem Beruf, der
Familie oder der Selbstverwirklichung
der Vorrang gegeben. Der Traum vom
Eigenheim ist gesellschaftlich derart
tief verankert, dass er erst unter sehr
grossem Leidensdruck aufgegeben wer­
den wird.
Sie haben die Aushandlungsprozesse
zwischen den zahlreichen Akteuren
untersucht, die vor Ort in die Entstehung von Einfamilienhäusern in­
volviert sind. Welche Rolle spielen
dabei die Planer?
Kurath: Das Problem ist, dass sie sich
an diesen Prozessen zu passiv beteiligen. Sie gehen ja davon aus, dass
den Baugesetzen, Lenkungsabgaben
und Governance-Konzepten Folge geleis­
tet wird. Das Problem ist in ihren Augen also vermeintlich gelöst. Leider er­
weist sich dies als ein grosser Irrtum
der Planung.
Weshalb?
Kurath: Gerade auf lokaler Ebene gibt
es einige Widersprüche, welche die Sied­
lungsentwicklung beeinflussen. So hat
zwar jede Gemeinde die Absicht, Ord­
nung zu schaffen, Zonen zu bestimmen
und gestalterische Vorgaben zu definie­
ren. Aber die Lokalpolitik verfolgt zu­
gleich noch andere Interessen, die die­
sem Ordnungswillen zuwiderlaufen. So
will eine Gemeinde zum Beispiel auch
gute Steuerzahler haben. Deshalb wer­
den oft vor allem Einfamilienhauszonen
geschaffen. Eine ähnliche Widersprüch­
lichkeit zeigt sich übrigens auch in der
Politik des Bundes, der auf der einen
Seite das Einfamilienhaus über Steuer­
abzüge subventioniert, auf der anderen
Seite dazu aufruft, zu verdichten und
Ressourcen zu schonen. In unserer Un­
tersuchung hat sich gezeigt, dass die
Siedlungswirklichkeit von solchen Paradoxien geprägt ist. Die Realität ist
komplexer als die Konzepte, von denen
die Planung zum Teil ausgeht.
Verschiedene Standards für nach­
haltiges Bauen sehen vor, dass
­möglichst alle Betroffenen, auch die
­Bevölkerung, in die Erarbeitung eines
Projekts involviert werden. Schwebt
Ihnen so etwas vor, wenn Sie von
Aushandlungsprozessen sprechen?
Kurath: Siedlungsentwicklung ist immer
das Resultat von Mitwirkung. Das zei­
gen unsere Untersuchungen sehr schön.
Es gibt kein Gebäude, das nur von einer Person geplant und gebaut worden
wäre. Es ist immer das Resultat eines
Aushandlungsprozesses. Wir bemängeln
jedoch, dass die Fachleute sich aus
diesem Prozess zurückgezogen haben.
Uns geht es weniger um eine Mitwir­
Nr. 3 Juni/Juli 2015
Plan und Visualisierungen: Institut Urban Landscape ZHAW
Wandelbar: Die Siedlung Sängglen in Gockhausen ZH zeigt exemplarisch, dass sich Einfamilienhaussiedlungen neuen Nutzungsbedürfnissen, etwa dem Wunsch nach
stärkerer Abgrenzung, anpassen lassen (linkes Bild: Zustand 1956, rechtes Bild: Zustand 2011). Bilder: Institut Urban Landscape ZHAW
Einfamilienhaussiedlung mit höherer Dichte: In diesem Testentwurf für die Publikation «Zukunft Einfamilienhaus?» wurde die herkömmliche Vorstellung von
dem mitten in einem Garten stehenden Einfamilienhaus ersetzt durch die Einheit Parzelle-Haus als ein
durchorganisiertes Raumgefüge. Die einzelnen Einheiten lassen sich variabel kombinieren. Die Bebauungsdichte kann den bestehenden topografischen, baulichen und landschaftlichen Elementen angepasst werden. Getestet wurde dieses Siedlungsmodell in einem
zentrumsnahen und gut erschlossenen, jedoch nicht
eingezonten, durch Autobahn- und Eisenbahntrasse
begrenzten Gebiet zwischen Nänikon und Uster.
Planung, Bau und Unterhalt l Siedlungsplanung
«Man kann ein Baugesetz
nicht einfach von ­einer Gemeinde
in eine andere kopieren.»
Stefan Kurath
Weiss: Der Planungsprozess, der zu den
Einfamilienhausquartieren der letzten
Jahrzehnte geführt hat, ist in der Regel
immer derselbe: Einem unbebauten
­Gebiet wird eine Bauzone zugewiesen,
eine Farbe im Zonenplan, welche wiede­
rum die Bauregeln definiert. Ein Ingeni­
eur oder Planer unterteilt das Gebiet in
Bauparzellen gleicher Grösse und er­
schliesst sie mit einer Strasse. Erst dann
kommen normalerweise die Bauherr­
schaften und deren Architekten dazu.
Das ist insofern zu spät, als es so nicht
gelingen kann, Alternativen zum gän­
gigen Einfamilienhaus zu entwickeln,
etwa indem par­zellenübergreifend ge­
plant wird oder ­Synergien zwischen
mehreren Häusern geschaffen werden.
Die Architekten müssten sich früher und
proaktiver einmischen.
Ihre Ideen für die Zukunft brechen
mit den geltenden Vorschriften. Sind
unsere Baugesetze noch zeitgemäss?
Weiss: Qualitativ hochstehende Bebau­
ungen werden nicht durch Baugesetze
erzeugt. Bebauungsregeln helfen wohl
mit, allzu schlechte Lösungen zu vermei­
den. Aber sie dürften auch mitverant­
wortlich sein, neue, innovative Ansätze
zu verhindern. Im Prinzip fördern die
­geltenden kommunalen Baugesetze ­­den
­Status Quo, etwa die uniforme Lösung
des mittig auf der Parzelle sitzenden
­Einfamilienhauses. Alternative Ideen
werden durch ein zu dichtes Set an
­Regeln sicher eher verhindert als er­
leichtert.
Kurath: Viele Gesetze stammen aus ei­
ner Zeit, in der man glaubte, man könne
alles überall mit den genau gleichen
70 l kommunalmagazin.ch
­ egeln lösen. Einige Vorschriften hatten
R
einmal einen guten Grund. So wurden
Grenzabstände aus hygienischen Grün­
den verlangt. Heute, wo man diese
Probleme überwunden hat, müsste man
­eigentlich wieder überlegen, wozu es
diese Baugesetze gibt und was sie ver­
hindern. Unserer Ansicht nach kann
man ein Baugesetz nicht einfach von
­einer Gemeinde in eine andere kopie­
ren. Vielmehr muss man analysieren,
was eine bestimmte Gemeinde aus­
macht und die Regeln ortsspezifisch
­anpassen.
Ihre Zukunftsszenarien enthalten
Vorschläge für Einfamilienhausquar­
tiere mit höherer Dichte. Welche
­typischen Qualitäten des Einfamilien­
hauses wollten sie auch bei opti­
mierter Raumnutzung erhalten?
Weiss: Es sind unterschiedliche Qualitäten, oft solche, die nicht quantitativ
messbar sind und deshalb im Nachhal­
tigkeitsdiskurs gerne vergessen gehen.
Etwa die Möglichkeit, um das Haus he­
rumgehen zu können, salopp gesagt.
Ein Einfamilienhaus ist ein Objekt, d­ as
einen eigenen Aussenraum hat. In der
Verdichtungsdiskussion spricht man
­immer von grossen Gebäuden, die ge­
schossweise organisiert sind.
Der Raum könnte besser ausgenutzt
werden, wenn die Häuser sich den
Aussenraum teilen würden und man
auf das eigene Gärtchen verzichtete.
Weiss: Sich der Herausforderung des
­Typus Einfamilienhaus zu stellen, bedeu­
tet in diesem Fall, nicht die privaten Gär­
ten zu hinterfragen und durch kollektive
Freiflächen zu ersetzen. Wir fragten uns
vielmehr, wie die wertgeschätzte Quali­
tät privater Aussenräume trotz höherer
Baudichte erhalten werden kann. Je
dichter die Leute wohnen, desto wich­
tiger werden Abgrenzungen. Wenn man
die Mindestabstände zwischen den Ge­
bäuden oder zu Parzellengrenzen nicht
als unverrückbare Bedingung ansieht,
können plötzlich Lösungen entstehen,
die eine extreme Nutzungsqualität ha­
ben und es ermöglichen, dass trotz dich­
terer Bebauung die eigene Individuali­
tät gewährleistet bleibt. Effektive Raum­
ausnutzung kann, muss aber nicht
zwangsläufig kollektive Raumnutzung
bedeuten. Auch wenn diese im Bereich
Infrastruktur, etwa bei Parkierungsan­
lagen, sinnvoll sein kann.
Sie haben unter anderem die Garten­
siedlung Sängglen in Pfaffhausen aus
den 1960er-Jahren untersucht.
Ursprünglich war die Siedlung sehr
offen angelegt. Über die Jahre haben
Kurath: Wir wurden immer wieder ge­ die Bewohner ihre Liegenschaften
fragt, ob das Resultat unserer Studie voneinander abgeschottet.
nicht Entwürfe schöner Mehrfamilien­ Welche ­Erkenntnisse haben Sie aus
häuser sein müssten. Doch die Leute diesem Beispiel gezogen?
­lassen sich nicht für dumm verkaufen. Weiss: Die Siedlung Sängglen hat sich,
Sie nehmen es dem Architekten nicht wie viele ältere Einfamilienhausquar­
tiere, über die Zeit sehr in­
teressant verändert. Das
«Qualitativ hochstehende
zeigt, dass solche Siedlun­
gen wandelbar sind und
Bebauungen werden nicht durch
sich neuen ­Bedürfnissen
Baugesetze erzeugt.»
besser anpassen lassen als
zum Beispiel Mehrfamilien­
Tom Weiss
häuser. Man kann sie er­
weitern, aufstocken oder
ab, wenn er behauptet, in seinem Mehr­ etwas anbauen. In der Planung wird
familienhaus lebe man wie in einem diese Qualität oft übersehen.
­Einfamilienhaus. Unsere Festlegung­
für die Forschung war, dass man an der Kurath: Diese Anpassungsfähigkeit
­Prämisse ‹eine Einheit für eine Familie› ­manifestiert s­ich auch im Wert
­­
einer
festhält und den Bezug zum Freiraum Liegen­schaft. Bei ­einem Mehrfamilien­
gewährleistet. Wir wollten uns der haus ­aus den 1960er- oder 1970er-­
Herausforderung stellen und nicht das Jahren ­hat ­der Stockwerkeigentümer
Problem umgehen.
keine Mög­lichkeit, einmal ein Zimmer
Nr. 3 Juni/Juli 2015
Testentwurf «Flussdelta»
Mehr Biodiversität durch Einfamilienhaussiedlungen: Dieser Testentwurf aus der Publikation «Zukunft Einfamilienhaus?» zeigt, wie
der bisher kanalisierte Zuflussbereich des
Greifensees als naturnahe Parkanlage mit Einfamilienhauswohngebiet ausgestaltet werden
könnte. Die Parkanlage wird von den zukünftigen Hausbesitzern finanziert und unterhalten. Die neuen Nischen für Fauna und Flora
leisten einen Beitrag zur Biodiversität und
zum Artenschutz in der Region. Da die Umgebung im Bereich des Flusslaufs extensiv
genutzt werden soll und auch neue Feuchtstandorte geschaffen werden, stehen die
Häuser auf Stelzen. Die Gebäude öffnen sich
zum Aussenraum, der nicht intensiv genutzt
werden soll. Sonnen- und Insektenschutz
bilden eine mobile Gebäudehülle. Der kanalisierte Fluss wird im Flussdelta befreit und
naturnah angelegt. Da das Delta am Rand
gut erschlossen ist, ist das neue Einfamilienhausgebiet dort dichter bebaut (siehe
Schnitt, unten). Zum Flusslauf hin nimmt die
Bebauungsdichte deutlich ab.
Visualisierungen: Institut Urban Landscape ZHAW
kung der Gesellschaft an der Planung
als darum, dass die Fachleute sich wie­
der vor Ort einbringen. Es reicht nicht,
schöne Pläne zu zeichnen. Um etwas
zu bewirken, muss man vor Ort Allian­
zen knüpfen.
anzubauen. Ohne die Einwilligung aller
Parteien kann er die Fassade nicht ener­
getisch sanieren. Und damit ist der Wert­
verlust tendenziell grösser. Heute sind
viele Wohnungen in Mehrfamilienhäu­
sern zu klein und genügen den Ansprü­
chen nicht mehr. Deshalb werden sie oft
abgebrochen und neu gebaut. Anders
­als bei Einfamilienhäusern wird die Bau­
substanz nicht weiterverwendet. Anpas­
sungsfähigkeit ist also ein Aspekt einer
nachhaltigen Entwicklung.
Bild: Marcel Müller
Welche Hebel hat eine Gemeinde, um
die Entwicklung nachhaltigerer Ein­
familienhausquartiere zu befördern?
Weiss: Es wäre wahrscheinlich sinnvoll,
die Verfahren in der Planung zu flexibili­
sieren und von normativen Bauge­setzen
wegzukommen, sozusagen eine produk­
tive Aufweichung der Planungssicherheit
anzustreben. Damit würden auch Lösun­
gen möglich, die nach heutigen Regeln
verboten sind. Allerdings bedingen flexi­
blere Verfahren auch eine kompetente
Begleitung seitens der Behörden, im
Sinne einer Qualitätssicherung. Doch
Siedlungsplanung l Planung, Bau und Unterhalt
g­ erade kleinere Gemeinden können sich
diese Expertise oft nicht leisten.
strukturbauten gibt, welche die Unter­
scheidung zwischen unbebautem und
bebautem Gebiet relativieren. Auch au­
Kurath: Ab und zu versuchen Gemein­ sserhalb der Siedlungsgebiete verlaufen
den, über eine generelle Aufzonung­ Strassen, Abwasserkanäle, Strom-, und
die Entwicklung eines Einfamilienhaus­ Wasserleitungen. Viele sind bei Weitem
quartiers anzustossen. Doch diese Mass­ nicht ausgelastet. Infrastrukturef­fizienz
nahme allein bringt wenig, weil es d­ en ist aber ebenfalls ein Nachhaltigkeits­
Besitzern oft am Know-how fehlt, um kriterium, das oft vernachlässigt wird.
­einen Umbau anzugehen, allein schon Da liegen Potenziale brach, die man
was die Finanzierung angeht. Es gibt zumindest diskutieren muss. Man tut
aber durchaus Beispiele, wo Eigentümer zurzeit aber lieber so, als wäre nur die
ihre Parzellen zusammengelegt und ein Siedlung bebaut und alles darum hergemeinsames Projekt r­ealisiert haben. um intakte Landschaft.
Leider werden solche informellen Pro­
zesse noch selten von Politik oder Ver­ Weiss: Gemeinden haben die Pflicht,
waltung angestossen. Die Behörden ha­ ­zonenkonforme Bauten zu erschliessen,
ben manchmal das Gefühl, sie dürften egal wie abgelegen sie sind, etwa Bau­
sich nicht einmischen. Hinzu kommt, ernhöfe und Tourismuseinrichtungen.
dass auch ihnen oft das Fachwissen Das sind zum Teil kostspielige Infrastruk­
fehlt, um den Eigentümern sinnvolle turen. Unser Vorschlag, Aussenwachten
Transformationsmöglichkeiten aufzu- auszubauen, soll dazu anregen, einmal
zeigen. Für solche Fragen müssten sie genauer hinzuschauen, welche Infra­
Fachleute beiziehen.
strukturen vor Ort effektiv vorhanden
sind und wie diese genutzt werden.
Sie schlagen vor, dort neue Häuser
zu bauen, wo bereits Infrastruktur
Auch Kiesgruben sind aus Ihrer ­
besteht, zum Beispiel um ehemalige
Sicht potenzielle Standorte für Ein­
Bauernhöfe. Dort darf nach gelten­
familienhäuser. Wie kamen Sie ­
dem Recht aber nichts mehr ­ge­baut
auf diesen unorthodoxen Vorschlag?
werden. Sind heutige Zonenplan­
Kurath: Da geht es ebenfalls darum
ungen falsch?
aufzuzeigen, wie eigenartig wir han­
Kurath: Man muss diesen Vorschlag et­ deln, wenn es um den Umgang mit
was einordnen. Wir sind keineswegs der ­Natur geht. Kiesgruben weisen eine
Ansicht, dass es in Zukunft überall Ein­ sehr h­ ohe Biodiversität auf. Sie müssen
familienhäuser geben soll. Mit unseren aber wieder zugeschüttet werden, um
Vorschlägen wollen wir gewisse festge­ den Ursprung wieder herzustellen.
fahrene Dogmen in Frage stellen. Dazu ­Dabei wird die Artenvielfalt zerstört.­
gehört die heute geltende, vermeintlich Da sollte man sich fragen, ob es Wege
trennscharfe Unterscheidung zwischen gäbe, die Grube, und damit auch die
Siedlungsgebiet und unberührter Natur. Biodiversität, zu ­erhalten. Das Provo­
Mit unserem Vorschlag, in bestehenden kante an unserem Vorschlag ist, dass
Aussenwachten und Weilern neue Ein­ wir quasi durch Siedlungsbau die Natur
familienhäuser zu bauen, wollten wir bestärken. Damit wird auch die Frage
aufzeigen, dass es bestehende Infra­ aufgeworfen, in w
­ elchem Verhältnis Na­
«Es wäre sinnvoll, die Verfahren in der Planung zu
­flexibilisieren. Damit würden auch Lösungen möglich,
die nach heutigen Regeln verboten sind.»
Tom Weiss
tur und Siedlung eigentlich zueinander
stehen.
Ihre Idee, Flussdeltas zu bebauen,
dürfte vor allem bei Landschafts­
schützern schlecht ankommen.
Kurath: Wir wollten mit unserem Konzept
zeigen, dass man eine landwirtschaftliche Monokultur in eine biodiverse Wohnrespektive Siedlungslandschaft verwan­
deln könnte. Dabei ist der relativ hohe
Landverbrauch eines Einfamilienhauses
nämlich ein Vorteil. Wenn man die Inten­
sität der Bebauung steuert und auch ex­
tensive Nutzung des Freiraumes vorsieht,
kann man die Synergie von Einfamilien­
haus und Biodiversität verstärken.
Der Publizist Benedikt Loderer
schlägt als Rezept gegen die Zersie­
delung e­ in «Landgesetz» vor. Dieses
verlangt, dass die Bauzonen
­geschlossen w
­ erden und dass inner­
halb der Bauzonen realersatzpflich­
Landgesetz verkennt also die Alltagsrealitäten. Es reiht sich damit in die
übliche Polemik ein, die, wie die letzten
80 Jahren Raumplanungsgeschichte
­zeigen, wenig bewirkt. ■
Einfamilienhäuser gelten als hauptverantwortlich für Zersiedelung und
Flächenverbrauch – und gleichzeitig stellen sie für breite Bevölkerungskreise das Wohnideal schlechthin dar. Dieser Widerspruch war Moti­
vation für die nähere Beschäftigung mit dem Einfamilienhaus am
­Institut Urban Landscape der ZHAW.
Unter den Blickwinkeln von Architekten, Sozialwissenschaftlern und
einem Architekturfotografen wurden Einfamilienhaussiedlungen untersucht. Anstelle des oft beklagten eigenschaftslosen Einfamilienhaus­
breis offenbart sich eine facettenreiche Siedlungsrea­lität mit hohem
Identifikationspotenzial. Die Publikation schärft d­ as Auge für spezifi­
sche Qualitäten und brach liegende Potenziale des P­ hänomens und
eröffnet der aktuellen Diskussion um eine nachhaltige E­ ntwicklung
­urbaner Landschaften neue Aus- und Einblicke.
(mgt/mrm)
Zukunft Einfamilienhaus?
Institut Urban Landscape ZHAW (Hrsg.), Autoren: M. Bosshard,
S. Kurath, C. Luchsinger, U. Primas, T. Weiss, Niggli Verlag, 184 Seiten
ISBN 978-3-7212-0830-6, 48 Franken
Stefan Kurath
Nr. 3 Juni/Juli 2015
tig wird, wer ausserhalb Land neu
überbaut. Was halten Sie davon?
Kurath: Die angenommene Kulturlan­
dinitiative in Zürich hat dasselbe Ziel der
Eingrenzung der Siedlungsgebiete. Auch
die Zweitwohnungsinitiative strebt eine
Eingrenzung an. Auf der anderen Seite
hat man aber die wirtschaftliche und
gesellschaftliche Entwicklung. Darum
braucht es auf kommunaler Ebene eine
gewisse Flexibilität. Wenn man verfolgt,
wie die Kulturlandinitiative und die
Zweitwohnungsinitiative umgesetzt wer­
den, wird klar, dass auch dort solche
Flexibilitäten ausgehandelt werden. Ein
Landgesetz im Sinne von Loderer wird in
der demokratischen, föderalistischen
Schweiz nie eine gesellschaftliche Ent­
sprechung finden, da die Entwicklungs­
perspektive der Schweiz beschnitten
würde. Und solange diese fehlt, ist eine
solche Lösung nicht mehrheitsfähig –
oder nur so lange, bis der wirtschaft­liche
Abschwung eintrifft. Auch Loderers
Buchtipp: Das Einfamilienhaus als Möglichkeitsraum
«Mit unseren Vorschlägen wollen wir gewisse
festgefahrene Dogmen in Frage stellen.
Dazu gehört auch die vermeintlich trennscharfe
Unterscheidung zwischen Siedlungsgebiet
und unberührter Natur.»
72 l kommunalmagazin.ch
Bild: Marcel Müller
Planung, Bau und Unterhalt l Siedlungsplanung
Nr. 3 Juni/Juli 2015
kommunalmagazin.ch l 73