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28 | Alternative Baustoffe
Historischer Rieselkies im Sockelbereich vor der Freilegung, Wien. Foto: Christian Gurtner / Atelier Gurtner
Bowling Balls Beach in Mendocino County, Kalifornien, USA, Strand mit Mergelknollen. Foto: Wikimedia Commons /
Brocken Inaglory
Historischer Rieselkies im Sockelbereich nach der Freilegung, Wien. Foto: Christian Gurtner / Atelier Gurtner
Die Geschichte
des ­Romanzements
ALTERNATIVE BAUSTOFFE
Kaum eine Menschenseele, die an einem Strand flaniert, tut dies ohne ein Steinchen, eine Muschel oder ein
­angeschwemmtes Holzstück aufzuklauben. So auch James Parker im Jahr 1796. Kugelige Steine, die sich am
Strand gesammelt hatten, von denen auch in den Klippen einige aus dem Gestein ragten, hatten seine Aufmerksamkeit erregt: Mergelknollen, am Strand der Insel Sheppey in England. Parker nahm einige mit. Ohne konkrete
Absicht warf er zu Hause einen Stein ins lodernde Kaminfeuer, und das Rezept für natürlichen Zement – „roman
cement“, Romanzement (RZ) – war geboren. So einfach ist auch die Produktion. Das Patent folgte im selben Jahr.
von Christine Bärnthaler
E
twa um 1756, suchte John Smeaton für den
Bau eines Leuchtturms ein hydraulisches,
also unter Wasser schnell härtendes Bindemittel, um den Sockel zwischen den Gezeiten auf einen Felsen im Meer setzen zu können. Seine Suche
nach unterschiedlichen Zuschlägen und Kalksteinvorkommen mündete in der Erkenntnis, dass die
Hydraulizität von Kalks in Abhängigkeit zum Tongehalt im Kalkstein (also des Mergels) steht. Smeaton verfolgte das Thema nicht weiter. Er bezeichnete
sich als Zivilingenieur, gründete die „Society of Civil
Engingeers“ in England und gilt als Vater aller Zivilingenieure.
der Gründerzeit-Ornamente aus RZ gegossen sind,
auch in Lemberg und Krakau bestimmt der Naturzement das Stadtbild. Prominentestes Bauwerk
in Wien mit Fensterumrahmungen und Eckrisaliten
aus Romanzement ist das Atelierhaus der Akademie der bildenden Künste Wien, genannt Semper
Depot. Eines der europaweit am schönsten original
erhaltenen Bauwerke mit einer Romanzementfassade befindet sich laut Johannes Weber, Professor für
Konservierung an der Universität für angewandte
Kunst in Wien, in der Reithlegasse 10 im 19. Wiener
Gemeindebezirk.
DIE ERFINDUNG
Mit Professor Weber der Universität für angewandte
Kunst beginnt der zweite Teil der Geschichte des
Romanzement, die ebenso zufällig begann wie die
Entdeckung dieses hydraulischen Bindemittels vor
etwas mehr als 200 Jahren. Ein Chemiker der Bautechnischen Prüf- und Versuchsanstalt der Universale kam auf Weber zu mit der Bitte um Auskunft
bezüglich des „eigenartigen Materials an den Wiener Gründerzeit-Fassaden, das außen steinhart und
innen so porös“ sei. Weber hatte zuvor im Rahmen
eines Gutachtens für das Semper Depot um 1993
dieselbe Materialbeschaffenheit bereits festgestellt. Es wurde ein knapp drei Jahre dauerndes
Forschungsprogramm initiiert, zwei weitere mit europäischer Beteiligung folgten. Ersteres (Rocem) zur
Erfassung und Erforschung der Beschaffenheit und
Präsenz des RZ im historischen Bestand, zweiteres
(Rocare) zum Wissenstransfer und zur Wiederbelebung der Technologie und Integration in die Praxis der Renovierung. Denn – das Wissen um RZ war
verlorengegangen. Obwohl das Bindemittel anfangs
auch konstruktiv eingesetzt wurde, etwa am Themse-Tunnel (1825–1843) oder in Frankreich in der Villa
„La Casamaures“ (1855–1867) hatte Portlandzement
trotz teurer und aufwendiger Produktion schnell
den konstruktiven Einsatz für sich gewonnen. RZ
härtet binnen weniger Minuten aus, benötigt dann
jedoch Jahrzehnte, um seine Endfestigkeit zu erreichen. Für das Gießen von Ornamenten und Figuren
durchaus ideal. So können Schablonen und Formen
Smeaton und Parker werden in der Literatur abwechselnd für die Erfindung des Romanzement genannt. Es war eine Zeit des Aufbruchs. 1804 nahm
man die erste Dampflokomotive in Betrieb, der Brückenbau boomte. Die Metropolisierung der Städte
setzte ein. 1817 begründete Louis Vicat in Frankreich die Theorie der Hydraulizität und legte damit
den Grundstein für künstlich hergestellten Zement.
Joseph Asp­din meldete 1824 das Patent für den Portlandzement an, und damit war die kurze Blütezeit
des Romanzement auch schon fast wieder vorüber
– in England. Während man in der österreichischen
Monarchie gerade erst begann, an dem sehr schnell,
binnen weniger Minuten, je nach Wassergehalt nur
drei bis vier, maximal 15 Minuten abbindenden Zement, Gefallen zu finden. Im Gegensatz zum braunen englischen Mergel hatte der österreichische eine
angenehme Farbe in hellem Ocker, die dem Ringstraßen-Sandstein aus dem Bruch St. Margarethen
farblich sehr nahe kam. So sehr, dass es einem Laien
auf die Entfernung nicht mit Sicherheit möglich war
zu erkennen, ob ein Ornament aus Stein gemeißelt
oder aus Romanzement gegossen war. Damit begann
die serielle Produktion des Ornaments. Der billige
und einfach zu befestigende Bauschmuck aus Guss
wurde für jeden Bauherrn leistbar. Eine Koinzidenz,
dass die Erfindung des Romanzements mit dem Bauboom in der Monarchie zusammenfiel. Nicht nur in
Wien, wo man heute schätzt, dass zirka 80 Prozent
DIE FORSCHUNG
ohne Zeitverlust pausenlos neu befüllt werden. Im
konstruktiven Bereich ist die kurze Verarbeitungszeit aber hochproblematisch. Die Kritik am Ornament, der Beginn der Moderne und schließlich der
Zweite Weltkrieg erklärten den Romanzement als
überflüssig. Längst hatte sich auch in Kontinentaleuropa der Portlandzement durchgesetzt. Die Mergelsteinbrüche wurden geschlossen, die Öfen sind
nicht mehr erhalten. Drei Produzenten für RZ konnte
Weber inzwischen ausfindig machen: Vicat in Grenoble, gegründet vom Sohn jenes Louis Vicat, der die
Hydraulizität theoretisch erfasste, Tigre Cementos
und Cementos Collet in Spanien.
DIE QUALITÄTEN
Auf Basis dieser umfassenden Forschungs- und Vermittlungsarbeit, die in den vergangenen 20 Jahren
von Johannes Weber – und auf seine Initiative – geleistet wurde, konnte inzwischen eine überzeugende
Reihe von Renovierungsarbeiten in Österreich, Polen
und Deutschland realisiert werden. Dabei werden
alte Techniken wie etwa der Rieselputz mit eingeworfenem buntem Kies oder originale Farbkonzepte
neu entdeckt. In Innsbruck wurde von Peter Bucher
kürzlich eine 138 Meter lange Einfriedung für die
ÖBB mit Romanzement originalgetreu neu erstellt.
Auch die Materialeigenschaften des Romanzement
wurden neu erfasst und die Kenntnisse erweitert.
Die Frage der Reintegration des natürlichen Zements
im Bauwesen über das Maß als Putz oder Gusszement zur materialgetreuen Renovierung drängt sich
auf. Nach wie vor ist die Produktion einfach und kostengünstig. Mergel, ein Gestein aus Kalk und Ton,
wird im Niedertemperaturverfahren bei 700–1.000
°C gebrannt und anschließend zu feinem Pulver vermahlen. Die Qualitäten sind durchaus interessant:
Diffusionsoffenheit, außerordentliche Endfestigkeit
bei zirka 70 N/mm2 (allerdings nach Jahrzehnten
oder kontinuierlicher Wasserberührung), außerordentliche Witterungsbeständigkeit, porendicht nach
Verwitterung an der Oberfläche, offenporig im Inneren, leicht, wärmedämmend und, wie wir an Wiens
Fassaden gut feststellen können, langlebig.
www.rocare.eu; www.cimentetarchitecture.com