Johanna Klampfer - Hamburger Volksbank

12
Bergedorf
MONTAG
24. AUGUST 2015
„Schmerzwellen“
ASTROART-LITERATURWETTBEWERB Autorin Johanna Klampfer aus Österreich belegt Platz 3 – Eine fast tödliche Kurzgeschichte
Ich liege auf einem Weg, mit
braunen Nadeln bedeckt. Da
ist der Geruch nach Moos, Pilzen, Regen und Erde. Baumnadeln stechen in meine nackten
Arme, in das Stückchen Haut,
das mein hochgerutschtes
Hemd am Rücken freigibt.
Der Rücken scheint auseinandergebrochen, die Schmerzen sind heftig, unerträglich.
Ich kann mich kaum bewegen.
Mit jedem Atemzug fährt ein
elektrischer Schlag in die Beine hinunter, hinterlässt Übelkeit erregende Schmerzen.
Ich betaste vorsichtig die
Körperstellen, die ich zu erreichen vermag. Blut bleibt auf
der Hand kleben, als ich meinen Kopf berühre.
Der Schwindel kommt in
immer kürzeren Abständen.
*
Ein Surren entsteht in meinen Ohren, es wird schnell
lauter.
Ich sehe es erneut, das Abrutschen den Hang hinunter,
die Hände in die lockere, bröckelnde Erde gekrallt, die Füße, ohne Halt, wild strampelnd, spüre Felsen, die die
Haut an Knien und Armen
aufschürfen, das Reißen von
Haut an meinem Hals, das
Hinweggleiten über die Kante
und der freie Fall, kurz und
entscheidend. Dann der Aufprall auf dem Rücken und das
Knacksen darin. Ein kurzes
Atmen,
und
dann
die
Schmerzexplosion, die mit einer gewaltigen Druckwelle
durch meinen Körper schießt
und meine Augen zudrückt.
Und dann das Aufwachen,
unscharf erkennen, dass ich
von Nadeln bedeckt bin, dass
Laub auf den Wunden meiner
Arme klebt, und, gottlob, die
Beine bewegt werden können.
Der Gedanke an das Warum
füllt unmittelbar alles aus. Von
einem Moment auf den anderen scheint mein Leben vollkommen verändert.
Das Surren in meinen Ohren endet abrupt und eine unerträgliche Stille setzt ein.
Dann höre ich es.
*
Seine Schritte dröhnen
durch den Wald. Ich denke an
Rettung, aber nur einige Augenblicke lang, dann wird mir
mein Irrtum klar. Von dort, wo
der Weg eine Biegung macht,
wird er kommen, ich spüre
das Nichts, das er voraus-
schickt, als Warnung. Es will
meine Gedanken auflösen, sie
in sich hineinsaugen, verschlucken, ohne einen Nachhall zu hinterlassen, wie um
die Erinnerung daran zu verwischen, dass sie je existiert
haben. Ich soll mich auflösen,
alles an mir, alles das mich
ausmachte. Es soll davongetragen werden, einverleibt von
kleinen Lebewesen, geduldig
von der Zeit zu Staub gemacht, den der Wind fortträgt.
Ich sehe die Schatten seines Antlitzes in kurz aufblitzenden Momenten. Er wirft
sie auf mich, ohne sich endgültig zu offenbaren.
Es ist Zeit aufzustehen, von
hier fortzukommen.
*
An einem, in den Weg ragenden Ast, ziehe ich mich
hoch. Die Muskeln meiner Arme spannen sich zum Zerreißen, halten mich aufrecht,
dass ich stehen kann. Es sticht
in meine Beine hinab in unzähligen Messerhieben. Mein
Rücken brennt wie Feuer, die
Wirbel knarren wie Türen in
einem verfallenen Haus.
Mir ist, als bräche ich in mir
selbst ein, als zerbarsten die
Knochen, als zerrissen die
Muskeln. Das Fleisch hängt
drückend schwer an einem zu
schwachen Gerüst und ich
muss mich wieder niedersinken lassen auf die Erde. Ich sehe das Blut dunkel in den Boden sickern, das aus mir herausläuft, vom Kopf, aus Adern
an meinem Hals.
Mir wird klar, dass ich
schon längst verloren habe,
dass es nur eine Gewohnheit
ist zu leben, weil man immer
lebt. Die Erkenntnis, dass es
das Ende wirklich gibt, bricht
in mich ein und ich sehe, dass
ich es nur jetzt verstehen
kann, erst jetzt, da es tatsächlich nahe ist.
*
„Ich habe von dir gehört
und ich habe von dir gewusst.
Aber ich habe nicht verstanden, dass es dich gibt!“, rufe
ich in den Wald dem Tod zu.
Er wird nicht mehr lange ausbleiben. Und je näher er
kommt, desto mehr Angst habe ich vor dem Moment, in
dem er in die Kurve des Weges
treten wird und ich ihn ansehen muss. Seine Schritte dröhnen in meinen Ohren.
Die Schmerzen werden
Johanna Klampfer (39) lebt in Innsbruck. Die Pädagogin arbeitet seit zehn Jahren in Gewaltpräventionsprojekten mit Kindern und Jugendlichen. Literarisch gelang ihr 2012 der erste Erfolg, als sie beim
Kurzgeschichten-Wettbewerb „Wortlaut“ des ORF unter die Top 20 kam. 2014 wurde sie Dritte im
Literaturwettbewerb „Silbersommer“ der Stadt Schwaz.
stärker, sie malträtieren mich,
halten mich fern von einem
sanften Dahinschwinden, sie
zerren eine Kraft in mir hervor, die sich gegen das Verschwinden wehrt.
So sehr ich mich dem warmen, sanften Gefühl der
Schwäche hingeben will, das
sich mir anbietet, ich kann es
nicht. Die Schmerzen verlangen meine Konzentration und
Aufmerksamkeit. Ich kann
nicht einschlafen, mich ausruhen, denn sie kommen in Wellen und schlagen im Sekundentakt über mir zusammen.
Sie begraben mich, nehmen
mir die Luft zum Atmen, verlangen, dass ich mich wieder
frei strampele, bei Bewusstsein bleibe, kämpfe.
*
Der Tod tritt in den Hintergrund, ich spüre, wie er zurückweicht. Wohl nur, um zu
warten auf eine erneute Ent-
spanntheit und Schwäche. Einen Moment lang rufe ich ihn
zurück, denn die Schmerzen
pressen unablässig Tränen aus
meinen Augen, lassen mich
laut aufschreien. Der Tod erscheint mir als die Erlösung,
obwohl er schreiende Angst,
tosende Panik in mir hervorruft. Ich will nicht, will schon,
will nicht, will schon – im Takt
der
Schmerzwellen.
Ich
möchte die Schmerzen loshaben, aber ich will meinen Körper, mein Leben nicht aufgeben, nicht jetzt, nie.
Ich versuche, mich zu
schützen mit dem Gedanken
an Rettung.
*
Sie werden mich finden,
hier, bald. Jemand wird kommen, mich entdecken, mit zitternden Händen eine Nummer wählen, mich trösten.
Bald danach werden andere
mich auf eine Trage legen und
Finale im großen Saal des Schlosses
LESUNG Alle fünf Preisträger reisen Sonnabend an – Beginn um 18 Uhr
Bergedorf (upb). Für Sonnabend
lädt das Schloss zum großen
Finale des 9. AstroArt-Literaturwettbewerbs – und zur feierlichen Amtseinführung der
Schloss-Schreiberin 2015: Ab
18 Uhr lesen im großen Saal
alle fünf Preisträger ihre prämierten
Kurzgeschichten.
Darunter neben Johanna
Klampfer
und
ihren
„Schmerzwellen“ auch die
neue Schloss-Schreiberin Susan Schröder aus Berlin mit
„Einmal im Leben“. Der Eintritt zur etwa eineinhalbstündigen Lesung ist frei.
Den ganzen September
über wird die Schloss-Schreiberin im Schloss arbeiten, im
Bezirk leben und die Bergedorfer zu Lesungen und weiteren Projekten einladen. Details verrät sie Sonnabend.
Gediegenes Ambiente: Im Schloss lesen die Sieger des mit 1600 Euro dotierten AstroArtLiteraturwettbewerbs. Darunter auch Schloss-Schreiberin Susan Schröder. Hauptsponsor des
von unserer Zeitung präsentierten Wettbewerbs ist die Hamburger Volksbank.
Foto: Neff
wegbringen. Ich werde in einem Bett in weißen Laken liegen und gesund werden.
Denn ist der Schmerz im
Rücken und in den Beinen
auch unerträglich, so verrät er
mir, dass noch Leben darin ist.
Ich werde laufen können.
Mein Blick wird angezogen
von einem Punkt in der Kurve.
Ein dünner Sonnenstrahl erleuchtet ihn. Von dort werden
sie kommen. Ich warte.
*
Der Sonnenstrahl wandert
langsam von dem Punkt fort,
über den Stamm eines Baumes hoch, langsam über die
glänzenden Blätter in der Krone, und verlöscht dann
schließlich.
Der Schatten, das Dunkel
breitet sich aus, schluckt mich.
Und als ich ins Schwarz
eintauche, da sehe ich sie
plötzlich. Hier warten sie auf
mich. Verpasste Gelegenheiten.
Säuberlich aufgereiht, Perlenschnüre aus unzähligen
Momenten überwältigen mich
mit aller Wucht. Da sind die
Momente, in denen ich etwas
Wertvolles hätte tun können,
Momente, in denen ich nicht
gelebt, aus Feigheit gepasst,
nichts gewagt hatte, nicht kreativ gewesen war, sondern sitzen geblieben war, vor dem
Fernseher.
*
Die Perlen werden zu Tränen, die aus meinen Augen
rollen, über meine Wangen
hinab, um auf einem silbern
glitzernden Stein unter mir zu
zerplatzen. Ich weine um die
Gelegenheiten, um sie alle,
und
mein
Selbstmitleid
schwemmt immer neue von
ihnen hoch, führt sie mir vor,
füllt meine Erinnerungen aus.
Was hatte ich alles tun wollen?
Was hatte ich verwirklichen
wollen? Was würde ich nachholen, wenn ich nur gerettet
würde?
Was mir zu mühsam und zu
gefährlich gewesen war, das
erscheint mir nun plötzlich als
einfach. Ich würde es nur tun
müssen, dieses und jenes –
kein Problem – alles nur eine
Frage des Mutes. Ich würde
mein Leben vollkommen ändern, verbessern. Mit einem
Mal weiß ich, wie ich ab nun
leben muss, wenn ich nur gerettet würde!
*
Ich beginne zu verhandeln,
mit unbekannten Mächten,
feilsche um meine Freiheit,
meine Unversehrtheit, meine
Schmerzlosigkeit, flehe darum, die verpassten Gelegenheiten nachholen zu dürfen.
Zugleich verzweifle ich darüber, dass ich hinabgestürzt
bin, nicht besser aufgepasst
habe, so leichtfertig gewesen
war.
Ich weine darüber bis mir
der Kopf dröhnt, bis keine
Träne mehr kommen will.
Dann erfasst mich eine neue
Schmerzwelle, ich muss mich
konzentrieren, werde hinaufgetragen auf die Schmerzkämme, hinunter in Schmerztäler,
mir schwindelt und gleichzeitig erfasst mich bodenlose
Verzweiflung.
Und da taucht seine Gestalt
in der Kurve auf.
Sein Schatten fällt auf mich
und endlich verklingt das
Dröhnen seiner Schritte.
Er ist da.
*
Der Atem bleibt mir weg,
der Schmerz verschwindet,
die Gedanken verflüchtigen
sich, die Schatten durchfluten
alles.
Als ich zu mir komme, stehen Menschen um mich herum. Sie fragen mich etwas, das
ich nicht verstehe, betasten
meinen Kopf, meine Gliedmaßen, mein Gesicht. Ihre Mienen sind ernst.
Die Schmerzen in meinem
Rücken hämmern, immer
noch sickert Blut aus meinem
Kopf, auf ein Tuch, das sie mir
gegen die Schläfen pressen
und ein anderes, das sie gegen
meine Halsschlagader drücken.
„Es wird alles gut“, sage ich.
*
Aber in diesem Moment
schon erkenne den wohl bekannten, modrigen Geruch
der Feigheit. Er blitzt in mir
auf, während die Menschen
mich noch zweifelnd ansehen,
einander fragen, ob ich sterben werde. Ich weiß schon,
dass ich gerettet bin, denn sie
flattern auf, schweben seufzend an mir vorüber, die verpassten Gelegenheiten und
raunen mir etwas zu: „Wir
wissen, dass du uns nicht
mehr ernst nimmst, nicht
jetzt, wo das Blaulicht des Rettungswagens schon zu sehen
ist.“
Ich möchte widersprechen,
doch ich kann es nicht. Es
zieht mich zurück in mein Leben, mein altgewohntes Denken, in das enge Sicherheitsnetz meiner bekannten Welt.
Ich habe die unbestimmte Lebenszeit
zurückgewonnen,
und ich sehe sie verschwinden, die verpassten Gelegenheiten, unten an der Biegung
des Weges, dort, wo der Tod
gelauert hat. Ich frage mich,
wie ich sie festhalten, ob ich
sie festhalten kann.
*
Und gleichzeitig weiß ich,
dass es erneut passieren wird.
Ich werde den Tod verdrängen.
Bis zum nächsten Mal.