Elisa Wächtershäuser Draußen schießen sie wieder Draußen

Elisa Wächtershäuser
Draußen schießen sie wieder
Draußen schießen sie wieder. Heute Morgen habe ich das Bein eines
Rehs gefunden. Es lag auf dem trockenen Laub des Vorjahres in der
Nähe der Hütte. Das Bein war über dem Kniegelenk abgetrennt worden.
Zuerst dachte ich, es wäre ein Ast.
Als Jan hinausging um nachzusehen, war das Bein verschwunden. Lia
lachte mich aus. Aber ich weiß, was ich gesehen habe. Seit sie in den
Wäldern jagen, verändert sich alles. Sie kommen in der Dämmerung.
Wie viele sie sind, weiß ich nicht. Ich höre die Schüsse und ihre
Stimmen und Schritte im Unterholz. Ich verlasse die Hütte nur noch
selten.
Wir sind im Sommer aufgebrochen, nachdem Jan und ich die Schule
beendet hatten. Freiheit, hatte Jan gesagt. Ein einfaches Leben führen.
Ich hatte mir das vorstellen können, Jan und ich, wie wir durch die
Wälder ziehen, in Bächen baden und abends Fische über dem Feuer
braten würden. Daheim hatte ich die Wände nicht mehr ertragen können,
die immer näher rückten, und dieses Gefühl, als beobachte mich jemand.
Eine Freundin, sagte Jan, als er Lia mitbrachte. Wir fuhren mit der SBahn. Jan und ich hatten unsere Rucksäcke dabei, Lia hatte nur das
Kleid und die Turnschuhe, die sie trug.
Ich habe keine Uhr mehr und kann die Zeit nicht aus dem Sonnenstand
schätzen. Als es zu dämmern beginnt, höre ich den ersten Schuss.
Sie haben nichts mit uns zu tun, sagt Jan und legt Zweige ins Feuer. Das
Holz ist feucht, in der Hütte hängt der Qualm unter der Decke. Lia
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spuckt zerkaute Blätter in ihre hohle Hand. Angst?, fragt sie und leckt
sich mit der Zunge über die grünverfärbten Zähne. Ich schüttele den
Kopf, Lia lässt die zerkauten Blätter ins Feuer fallen. Es zischt und
dampft. Ich rücke näher heran und halte meine Handflächen in den
Wärmekreis der Flammen. Es ist kalt, sage ich.
Im Winter wird es noch kälter, sagt Jan.
Lia grinst. Mir wächst schon ein Winterpelz, sagt sie, spreizt die Beine
und greift mit beiden Händen in ihr dichtes, dunkles Schamhaar.
Später, als das Feuer nur noch glimmt und Jan und Lia keuchend
übereinander liegen, sitze ich in meiner Ecke außerhalb des Glutscheins
und betaste meinen Körper.
Seit einiger Zeit spüre ich etwas unter meiner Haut. Ein Ziehen, als
dränge sich etwas zwischen meine Körperschichten, als würde die Haut
von der Muskulatur getrennt, als wüchse etwas aus mir heraus.
Ich weiß nicht, wie lange wir schon hier sind. Ich spüre den Wechsel der
Jahreszeiten, aber die Tage verschwimmen, es gelingt mir nicht, sie
zurückzuzählen. Die erste Nacht im Wald war hell. Wir schliefen
draußen vor der Hütte. Unser Lagerfeuer qualmte und brannte nur kurz.
Lia warf ihre Kleidung hinein, Jan dann auch. Jan sagte, ich solle mich
ausziehen und zu ihnen kommen. Ich wollte nicht. Ich sei ein Feigling,
sagte Lia und schlang ihre dünnen Schenkel um Jans Hüfte. Ich lauschte
dem Wald und Lia und Jan. Ich zählte meine Atemzüge bis zum Morgen.
Es waren 5000.
Seit sie draußen jagen, halte ich die Nächte kaum noch aus. Sie sind weit
weg, hat Jan gesagt. Aber jeder Schuss hallt dumpf hinter meiner Stirn.
Das Feuer ist heruntergebrannt. Jan und Lia sind unruhig, es raschelt,
wenn einer von ihnen sich auf den Blättern umher wälzt. Ich liege auf
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der Seite, gekrümmt wie ein Fuchs in seinem Bau und zupfe mir die
Haare aus der Achselhöhle. Mir ist ein Fell gewachsen. Seit es kälter
wird, wachsen meine Haare dicht und schwarz auf Armen, Bauch und
Brust, auf meinem Rücken und um meinen Penis. Sogar am Hintern ist
mir langes, krauses Haar gewachsen. Jede Nacht versuche ich, mich
davon zu befreien. Ich packe ein Büschel zwischen Daumen und
Zeigefinger und ziehe langsam und gleichmäßig. Die Haare wurzeln tief
in mir. Meine Haut brennt. Später perlt ein Tropfen Blut. Draußen
schießen sie immer noch.
Ich suche immerzu nach Nahrung. Ich weiß jetzt, dass man
Birkenblätter, Eichenlaub und Sauerklee essen kann. Man kann
Bucheckern im Feuer rösten und Weidenrinde kauen. Heute bin ich weit
gelaufen. An einem Bach habe ich einen Haselstrauch gefunden. Die
meisten Früchte waren hohl, ich kaute lange auf den Schalen. Dann
knotete ich ein Bündel aus meinem T-Shirt und pflückte alle Nüsse vom
Strauch. Ich kniete mich ins Laub und sammelte auch die
heruntergefallenen auf.
Wir essen zusammen. Lia isst die meisten Nüsse. Sie knackt die Schalen
mit den Zähnen und spuckt sie ins Feuer. Ihre Arme sind dünn wie
Zweige, ihre nackte Haut ist noch dunkel vom Sommer, ich starre ihre
Brustwarzen an, sie sehen aus wie Astlöcher.
Jan wird nicht satt. Ich kaue weiter, lange, nachdem wir alle Nüsse
aufgegessen haben. Lia und Jan verschlingen einander, am Feuer. Ich
krümme mich und reiße mir die Haare aus dem Bauch. Später in der
Nacht schlüpft ein Vogel aus den Nussschalen in meinem Magen und
pickt mir ein Loch in die Magenwand.
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Sie kommen jeden Tag näher. Morgens sehe ich Fußspuren auf dem
Raureif. Ich habe einen Berg Federn im Bauch. Eine kratzt im Hals. Ich
spucke sie aus.
Jan fragt mich, was ich da mache. Nichts, sage ich, mir tut nur der Hals
weh. Ich weiß nicht, woher die Federn kommen. Mein Bauch ist ganz
mit ihnen gefüllt, aber die Federn machen nicht satt. Jan sagt, ich hätte
Blut am Mund. Ich muss mir im Schlaf auf die Zunge gebissen haben.
Sobald es draußen hell ist, brechen wir auf. Es wird immer schwerer,
etwas zu essen zu finden. Wir trennen uns. Ich gehe zu dem Bach, an
dem ich den Haselstrauch gefunden habe. Ich folge dem Bach, soweit ich
mich traue. Der Boden ist gefroren und die Bäume sind kahl. Es wird
früh dunkel.
Als ich zur Hütte zurückkehre, habe ich nichts Essbares gefunden. Die
Federn bohren sich durch meine Eingeweide. Lia und Jan sitzen nah am
Feuer. Sie haben Kleidung angezogen. Lia trägt eine Jeans und zwei TShirts von mir, sie muss die Sachen aus meinem Rucksack genommen
haben.
Ich habe nichts gefunden, sage ich. Als ich mich zu ihnen setze, spüre
ich einen reißenden Schmerz in der Magengrube.
Wir haben das hier, sagt Lia und hält mir ein Stück Rinde hin. Auf der
Rinde kleben Maden. Wo Lia abgebissen hat, winden sich die
Madenhälften grau und schleimig. Ich krümme mich. Mein Magen
krampft. Ich würge die Federn aus. Jan und Lia starren mich an. An
meinem Kinn kleben Speichel und Federflaum. Ich krieche in meine
Ecke und halte mir den Bauch. Der Schmerz lässt langsam nach. Ich
höre sie am Feuer flüstern. Dann schlafe ich ein.
Am nächsten Morgen sind Jan und Lia fort. Mein Rucksack auch. Ich
verbrenne die Federn im Feuer, an meinem Kinn ist wieder Blut. Ich bin
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nicht hungrig. Ich gehe trotzdem hinaus. Ich muss Vorräte für den Winter
sammeln.
Es wird bald schneien. An einigen Tagen bleibe ich hungrig. An anderen
finde ich etwas im Wald. Jan und Lia sind noch fort.
Gestern habe ich einen Arm gefunden. Er lag vor der Hütte auf dem
trockenen Laub des Vorjahres. Er war sehr dünn. Es waren ein paar
Haare an ihm. Vielleicht war er ein Ast.
Ich gehe nicht mehr hinaus. Draußen schießen sie wieder.
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