Hundert Jahre grosses Leid

Datum: 04.11.2015
Sarganserländer
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www.sarganserlaender.ch
Medienart: Print
Medientyp: Tages- und Wochenpresse
Auflage: 9'906
Erscheinungsweise: 5x wöchentlich
Themen-Nr.: 037.021
Abo-Nr.: 1094819
Seite: 9
Fläche: 36'404 mm²
Hundert Jahre grosses Leid
Ein neuer Forschungsbericht bringt Licht in ein dunkles Kapitel des Kantons St. Gallen. Er zeigt auf, wie
Tausende von Menschen in Anstalten zwangsversorgt wurden.
erleichtert die Suche nach den Akten trug die Regierung selber bei. Bereits
von Ralph Hug
Die Debatte um Kindsweg- von Betroffenen», sagt Forscherin Sy- 1911, aber auch 1944 forderte das Ernahmen, Verdingkinder, bille Knecht.
ziehungsdepartement die Gemeinden
Hinter den nackten Zahlen steckt in einem Kreisschreiben auf, «arbeitsdurch Behörden sowie viel Leid. Das zeigen Biografien, die scheue Elemente» in die Bitzi zu schiamtlich verfügte Sterili- Knecht in ihrem Bericht vorstellt. Zum cken. Dies geschah aus wirtschaftlisierungen von Frauen erreicht den Beispiel jene von Berta M. 1925 gebo- chen Gründen: Die Anstalt musste geAnstaltseinweisungen
Kanton St.Gallen. In Kürze erscheint ren, wuchs sie in prekären Verhältnisein Forschungsbericht, der die Praxis sen auf. «Sittliche Verfehlungen» und
der Zwangsversorgung beleuchtet. Ver- «ungebührliches Verhalten», wie es
fasst hat ihn die Historikerin Sybille hiess, spurten sie in eine klassische
Knecht im Auftrag des Kantons. Das Heimkarriere ein. Diese gipfelte
Parlament hatte vor zwei Jahren einen schliesslich in ihrer Unfruchtbarmachung im Jahr 1942, weil sie «mannsKredit dafür gesprochen.
füllt werden, um den Betrieb aufrecht
zu erhalten. Henry S. wirft den Behörden vor, sie hätten ihn als «Arbeitssklaven» missbraucht.
Problem bekannt
Immer wieder stand die Anstalt Bitzi
Knechts Bericht «Zwangsversorgun- toll» gewesen sei.
in Mosnang im Brennpunkt. Bis in die
Ein anderes Beispiel: Thomas A. 1970er-Jahre wurden dort Personen
gen. Administrative Anstaltseinweisungen im Kanton St.Gallen 1872- wollte Jazzmusiker werden. Doch zwangsversorgt. Betroffene berichten
1971» bringt erschütternde Fakten an Rapperswil sah das anders. Die Ge- von Gewalt und Übergriffen durch
den Tag. Noch lässt sich wegen der meinde hielt ihn für «arbeitsscheu» Aufseher. Das Problem sei seit vielen
mangelhaften Datenlage keine Ge- und ordnete die Versorgung in die Jahren bekannt, räumte die Regierung
samtzahl der Opfer angeben. Doch Arbeitserziehungsanstalt Bitzi an. Das 1968 ein. Es gab mehrere Untersuchunscheint klar, dass im erwähnten Zeit- war 1963. In der Bitzi landete auch gen, die das teils schlecht ausgebildete
raum Tausende Menschen im Kanton Henry S., nur weil er als Jugendlicher Personal kritisierten. Doch die Defizite
St. Gallen administrativ zwangsver- herumhing. Als über 7o Jähriger blickt konnten nie ganz behoben werden.
sorgt wurden. Sie landeten in Heimen, er heute auf eine zerstörte Jugend zu- Das harte, inhumane Regime - elf
Anstalten, Kliniken und Gefängnissen. rück, wie er gegenüber Medien kundtat Stunden Arbeit am Tag, Dunkelhaft als
Meist ohne Straftat und bloss deshalb, Sein ganzes Leben verbrachte er als Strafe - war behördlich gewollt und
weil sie als «liederlich und arbeits- Hilfsarbeiter.
sollte der Integration dienen. Allzu oft
scheu» oder unangepasst angesehen Anstalt musste gefüllt werden
provozierte es aber nur Flucht, Brandwurden.
Die Behörden rechtfertigten solche stiftung und Suizidversuche.
Den Höhepunkt erreichten die
Versorungen jeweils mit dem Schutz
Schicksale machen betroffen
Zwangsversorgungen in den 1920erder
Person
und
auch
mit
dem
GemeinEine Sichtung der Akten in den Archiund 1930er-Jahren, wie Knecht aufven von Kanton und Gemeinden führ- wohl. Doch oft ging es mehr darum, zeigt. Das war die Ära der WirtschaftsUnbequeme
und
Unangepasste
wegzute zu einer Datenbank mit insgesamt
krise und des sozialen Elends. 1981
5200 Einträgen. Es handelt sich um haben. Dieser Missbrauch war den musste die Schweiz die administratiZeitgenossen
durchaus
bekannt.
Versorgungsbeschlüsse im Zeitraum
Sybille Knecht zitiert einen regie- ven Einweisungen stoppen, weil sie der
von 1872 bis 1968. 1872 erlaubte ein
rungsrätlichen
Amtsbericht aus dem Europäischen Menschenrechtskonvenkantonales Gesetz erstmals die Zwangstion widersprachen. Knecht legt dar,
versorgung in Anstalten. Sämtliche Jahr 1933. Der räumte ein, das es Ge- dass Behörden noch bis in die 1970ermeinderäte gebe, die unangenehme
St.Galler Gemeinden wandten es an. Bürger in einer Zwangsanstalt versor- Jahre junge Frauen zur Sterilisation
«Die Datenbank erlaubt Abfragen und gen wollten. Zu diesem Missbrauch drängten.
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Wer entschädigt die Opfer?
Der Bund will die Opfer
von Zwangsversorgungen entschädigen. Ein
neues Gesetz über die
Rehabilitierung sieht zu
diesem Zweck einen
Betrag von 300 Millionen Franken vor. Das
Parlament muss den
Erlass noch behandeln.
Er ist ein indirekter
Gegenvorschlag zur
Wiedergutmachungsin-
itiative. Dieser von Guido Fluri lancierte Vorstoss verlangt 500 Millionen Franken Entschädigung. Die Zahl
der noch lebenden Op-
fer wird auf15000 bis
20 000 geschätzt. Historiker sollen die Akten
sichten und das düstere Kapitel Sozialgeschichte aufarbeiten.
Mit der Publikation des
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Forschungsberichts
von Sybille Knecht
(siehe Artikel) hat der
Kanton St. Gallen einen
ersten Schritt getan.
Laut Stefan Gemperli,
Chef des Staatsarchivs,
ist die Sicherung der
Dokumente im Gang.
Bis jetzt meldeten sich
dieses Jahr 38 Betroffene, die ihre Akten
suchten. (psg)
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