Datum: 04.11.2015 Sarganserländer 8887 Mels 081/ 725 32 32 www.sarganserlaender.ch Medienart: Print Medientyp: Tages- und Wochenpresse Auflage: 9'906 Erscheinungsweise: 5x wöchentlich Themen-Nr.: 037.021 Abo-Nr.: 1094819 Seite: 9 Fläche: 36'404 mm² Hundert Jahre grosses Leid Ein neuer Forschungsbericht bringt Licht in ein dunkles Kapitel des Kantons St. Gallen. Er zeigt auf, wie Tausende von Menschen in Anstalten zwangsversorgt wurden. erleichtert die Suche nach den Akten trug die Regierung selber bei. Bereits von Ralph Hug Die Debatte um Kindsweg- von Betroffenen», sagt Forscherin Sy- 1911, aber auch 1944 forderte das Ernahmen, Verdingkinder, bille Knecht. ziehungsdepartement die Gemeinden Hinter den nackten Zahlen steckt in einem Kreisschreiben auf, «arbeitsdurch Behörden sowie viel Leid. Das zeigen Biografien, die scheue Elemente» in die Bitzi zu schiamtlich verfügte Sterili- Knecht in ihrem Bericht vorstellt. Zum cken. Dies geschah aus wirtschaftlisierungen von Frauen erreicht den Beispiel jene von Berta M. 1925 gebo- chen Gründen: Die Anstalt musste geAnstaltseinweisungen Kanton St.Gallen. In Kürze erscheint ren, wuchs sie in prekären Verhältnisein Forschungsbericht, der die Praxis sen auf. «Sittliche Verfehlungen» und der Zwangsversorgung beleuchtet. Ver- «ungebührliches Verhalten», wie es fasst hat ihn die Historikerin Sybille hiess, spurten sie in eine klassische Knecht im Auftrag des Kantons. Das Heimkarriere ein. Diese gipfelte Parlament hatte vor zwei Jahren einen schliesslich in ihrer Unfruchtbarmachung im Jahr 1942, weil sie «mannsKredit dafür gesprochen. füllt werden, um den Betrieb aufrecht zu erhalten. Henry S. wirft den Behörden vor, sie hätten ihn als «Arbeitssklaven» missbraucht. Problem bekannt Immer wieder stand die Anstalt Bitzi Knechts Bericht «Zwangsversorgun- toll» gewesen sei. in Mosnang im Brennpunkt. Bis in die Ein anderes Beispiel: Thomas A. 1970er-Jahre wurden dort Personen gen. Administrative Anstaltseinweisungen im Kanton St.Gallen 1872- wollte Jazzmusiker werden. Doch zwangsversorgt. Betroffene berichten 1971» bringt erschütternde Fakten an Rapperswil sah das anders. Die Ge- von Gewalt und Übergriffen durch den Tag. Noch lässt sich wegen der meinde hielt ihn für «arbeitsscheu» Aufseher. Das Problem sei seit vielen mangelhaften Datenlage keine Ge- und ordnete die Versorgung in die Jahren bekannt, räumte die Regierung samtzahl der Opfer angeben. Doch Arbeitserziehungsanstalt Bitzi an. Das 1968 ein. Es gab mehrere Untersuchunscheint klar, dass im erwähnten Zeit- war 1963. In der Bitzi landete auch gen, die das teils schlecht ausgebildete raum Tausende Menschen im Kanton Henry S., nur weil er als Jugendlicher Personal kritisierten. Doch die Defizite St. Gallen administrativ zwangsver- herumhing. Als über 7o Jähriger blickt konnten nie ganz behoben werden. sorgt wurden. Sie landeten in Heimen, er heute auf eine zerstörte Jugend zu- Das harte, inhumane Regime - elf Anstalten, Kliniken und Gefängnissen. rück, wie er gegenüber Medien kundtat Stunden Arbeit am Tag, Dunkelhaft als Meist ohne Straftat und bloss deshalb, Sein ganzes Leben verbrachte er als Strafe - war behördlich gewollt und weil sie als «liederlich und arbeits- Hilfsarbeiter. sollte der Integration dienen. Allzu oft scheu» oder unangepasst angesehen Anstalt musste gefüllt werden provozierte es aber nur Flucht, Brandwurden. Die Behörden rechtfertigten solche stiftung und Suizidversuche. Den Höhepunkt erreichten die Versorungen jeweils mit dem Schutz Schicksale machen betroffen Zwangsversorgungen in den 1920erder Person und auch mit dem GemeinEine Sichtung der Akten in den Archiund 1930er-Jahren, wie Knecht aufven von Kanton und Gemeinden führ- wohl. Doch oft ging es mehr darum, zeigt. Das war die Ära der WirtschaftsUnbequeme und Unangepasste wegzute zu einer Datenbank mit insgesamt krise und des sozialen Elends. 1981 5200 Einträgen. Es handelt sich um haben. Dieser Missbrauch war den musste die Schweiz die administratiZeitgenossen durchaus bekannt. Versorgungsbeschlüsse im Zeitraum Sybille Knecht zitiert einen regie- ven Einweisungen stoppen, weil sie der von 1872 bis 1968. 1872 erlaubte ein rungsrätlichen Amtsbericht aus dem Europäischen Menschenrechtskonvenkantonales Gesetz erstmals die Zwangstion widersprachen. Knecht legt dar, versorgung in Anstalten. Sämtliche Jahr 1933. Der räumte ein, das es Ge- dass Behörden noch bis in die 1970ermeinderäte gebe, die unangenehme St.Galler Gemeinden wandten es an. Bürger in einer Zwangsanstalt versor- Jahre junge Frauen zur Sterilisation «Die Datenbank erlaubt Abfragen und gen wollten. Zu diesem Missbrauch drängten. Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 59615051 Ausschnitt Seite: 1/2 Datum: 04.11.2015 Sarganserländer 8887 Mels 081/ 725 32 32 www.sarganserlaender.ch Medienart: Print Medientyp: Tages- und Wochenpresse Auflage: 9'906 Erscheinungsweise: 5x wöchentlich Themen-Nr.: 037.021 Abo-Nr.: 1094819 Seite: 9 Fläche: 36'404 mm² Wer entschädigt die Opfer? Der Bund will die Opfer von Zwangsversorgungen entschädigen. Ein neues Gesetz über die Rehabilitierung sieht zu diesem Zweck einen Betrag von 300 Millionen Franken vor. Das Parlament muss den Erlass noch behandeln. Er ist ein indirekter Gegenvorschlag zur Wiedergutmachungsin- itiative. Dieser von Guido Fluri lancierte Vorstoss verlangt 500 Millionen Franken Entschädigung. Die Zahl der noch lebenden Op- fer wird auf15000 bis 20 000 geschätzt. Historiker sollen die Akten sichten und das düstere Kapitel Sozialgeschichte aufarbeiten. Mit der Publikation des Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen Forschungsberichts von Sybille Knecht (siehe Artikel) hat der Kanton St. Gallen einen ersten Schritt getan. Laut Stefan Gemperli, Chef des Staatsarchivs, ist die Sicherung der Dokumente im Gang. Bis jetzt meldeten sich dieses Jahr 38 Betroffene, die ihre Akten suchten. (psg) ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 59615051 Ausschnitt Seite: 2/2
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