Der Welterfolg Erich Kästners verdankte sich einst dem Atrium

Ein Journal für das literarische Geschehen
DIE LITERARISCHE WELT
SAMSTAG, 21. NOVEMBER 2015
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GEGRÜNDET VON WILLY HAAS, 1925
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EINE BEILAGE DER WELT
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NUMMER 47 / 2015
DEUTSCHES LITERATURARCHIV MARBACH/ VG BILD-KUNST BONN,2015
Kästner
kommt
zurück
Der Welterfolg Erich Kästners verdankte
sich einst dem Atrium-Verleger Kurt Maschler.
Auch nach achtzig Jahren arbeitet der Verlag
weiter am Ruhm des Autors
RELATIV
Vor 100 Jahren stürzte
Einstein die Physik um:
Ein Biografie von
Thomas de Padova 6
FIKTIV
Wie Irland so tickt:
Die Autorin Anne Enright
im Interview 3
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KONJUNKTIV
Katalanischer Klassiker:
Joan Sales entdeckt
die Schönheit im
Bürgerkrieg 7
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+
DEFINITIV
Wir Sterblichen:
Atul Gawande weiß,
was am Lebensende
wirklich zählt 8
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4
Biografie
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Erst
Luxushotel,
dann Gift
Moralische Geschichten:
Unbekanntes
von Erich Kästner
W
er das Aroma der Zwanzigerjahre nachschmecken
will, der kommt an Erich
Kästner nicht vorbei, an
seinem ersten Gedichtband mit dem genialen Titel „Herz auf Taille“
(1927), der das Lebensgefühl in der taumelnden Weimarer Republik auf den Punkt brachte, an seinem Kinderbuch „Emil und die Detektive“ (1929) und an seinem Roman „Fabian“ (1931), der sehr zu Recht zunächst den Titel „Der Gang vor die Hunde“ tragen sollte
und sich wie eine Chronik des Untergangs
der Republik liest. Kästner hat seine wichtigen Bücher in einem erstaunlich kurzen Zeitraum verfasst. Von seiner ungemeinen Produktivität in jener Zeit zeugen auch seine
kurzen Geschichten und Feuilletons, die er
regelmäßig in Zeitungen veröffentlichte und
die jetzt in einer Auswahl vorliegen. Kästner,
der Gebrauchslyriker, zeigt sich hier quasi als
Gebrauchsprosaschreiber, der auf knappem
Raum seine Lieblingsthemen variiert.
Beinahe wäre er ja Volksschullehrer geworden, und tatsächlich schlägt er gerne einen
leicht belehrenden Unterton an, erzählt letztlich moralische Geschichten. Manchmal meint
man, für Momente einen leicht erhobenen Zeigefinger zu sehen, was vor allem für die frühen
Geschichten gilt. Da gibt es in „Ein Menschenleben“ den Proletarier, der brav und stur in der
Fabrik schuftet, immer mehr vom Leben sich
entfernt und schließlich doch entlassen wird.
Aber etwas an Sehnsucht ist noch in ihm drin.
Er holt seine alte Geige hervor und kratzt
mehr schlecht als recht vor sich hin, geht in die
Aufgänge der Mietskasernen und spielt für eine
Suppe oder ein paar Groschen. Da seine Frau
schon vor langer Zeit gestorben ist, lebt er bei
seiner Tochter, die immer wieder vorwurfsvoll
Geld für Essen und den Mietzins fordert.
Schließlich erhängt er sich.
Diese sozialkritische Geschichte ist mit
sehr dickem schwarzen Strich gezeichnet und
setzt stark auf melodramatische Effekte wie
auch die tragische Variante des späteren Komödienstoffs „Drei Männer im Schnee“: Ein
einfacher Arbeiter gewinnt bei einem Preisausschreiben einen Aufenthalt in einem Luxusskihotel in den Alpen. Die reichen Gäste
und das hochnäsige Personal machen ihm die
Tage zur Hölle. Er reist früher ab und vergiftet sich zu Hause mit seiner Frau.
In den späteren Geschichten arbeitet Kästner nicht mehr so deutlich mit dem pädagogischen Zeigestock. In „Ein Musterknabe“ erzählt er verschlüsselt von sich selbst. Der namenlose Musterknabe will alles tun, um seine
hart für ihn schuftende Mutter glücklich zu
machen. Er ist der beste Schüler, an der Uni
wählt er im fünften Semester sein Dissertationsthema, die Professoren sagen ihm eine
glänzende Zukunft voraus und schließlich findet er auch noch ein liebes, stilles Mädchen. Er
steht kurz davor, alles Erstrebte zu erreichen –
und kann plötzlich nicht mehr und geht still
und klaglos aus der Welt hinaus. Diese kleine,
ergreifende Geschichte wirkt in ihrer Kargheit
geradezu klassisch. In ihr spiegelt sich die traumatische Lebensgeschichte Kästners, der seinem „Muttchen“ auch ein braver, erfolgreicher
Sohn sein wollte und der offensichtlich wusste,
wie gefährdet sein eigenes Leben war. Hat man
diese Geschichte gelesen, erkennt man plötzlich, dass die Angst, zu versagen und Anforderungen anderer nicht gerecht werden zu können, sich durch fast alle Geschichten zieht.
Als wollte er sein eigenes Trauma bannen,
erzählt Kästner von Kindern, die ihre Mutter
verloren haben und in Traurigkeit versinken,
von allein lebenden Männern, die nichts anderes kennen als ihre Arbeit und es nicht
mehr schaffen, ein paar Tage Urlaub zu verbringen. Oder er zeigt einen Mann wie in der
Titelgeschichte „Der Herr aus Glas“, der einmal eine Frau liebt, die ihn aber der Lächerlichkeit preisgibt. Auch er verschwindet einfach, oder besser gesagt: löst sich auf: „… aber
niemand weiß Genaueres davon, vielleicht
starb er auch nur an einer Erkältung durch
Zugluft, denn er neigte stark zu Erkältungen“.
Kästners Figuren sind oft erstaunlich
schräg in die Welt gestellt, und wenn er auch
mit leichtem Ton erzählt und seine Geschichten zunehmend ironisch abfedert, haben sie
doch fast alle ein dunkle Grundierung von
Trauer und Melancholie. Naturgemäß
schwankt die Qualität dieser Gelegenheitsarbeiten. Aber es sind nicht wenige darunter,
die einen besonderen Ton und eine eigenwillige Sichtweise haben und jede auf ihre Art
vom Leben in den Zwanzigerjahren berichClaus-Ulrich Bielefeld
ten.
Erich Kästner: Der Herr aus Glas.
Hrsg. und mit einem Nachwort von Sven
Hanuschek. Atrium, Zürich. 304 S., 22,99 €.
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SAMSTAG, 21. NOVEMBER 2015
LITERARISCHE WELT
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Dass ein Verlag für einen einzelnen Autor gegründet wird, ist sicher eine Seltenheit; dass es
diesen Verlag nach 80 Jahren noch gibt, ist unwahrscheinlich, geradezu fantastisch. Die deutsche Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert hat
es nötig gemacht, und eine große Darstellung
dieser Geschichte fehlt bis heute – deshalb muss
es zum Jubiläum des Atrium Verlags fürs Erste
eine kleine tun: Am 1. März 1935 ist er von Kurt
Maschler gegründet worden, für seinen Autor
Erich Kästner, eine Verlagsgeschichte, die über
weite Strecken als Geschichte einer Freundschaft erzählt werden kann.
Ein Atrium war das Zentrum eines römischen
Hauses, das von den Zimmern her zugänglich war,
ein Raum für alle mit Licht von oben; der Verlag
heißt aber nach dem Berliner Filmpalast, in dem
etwa der Brecht-Dudow-Film „Kuhle Wampe“
(1932) uraufgeführt worden ist. Der Beba-Palast
Atrium in Wilmersdorf war dem Kolosseum in
Rom nachempfunden, hatte immerhin 2000 Plätze und wurde im Krieg zerstört. Der Verlag dagegen blüht und gedeiht bis heute; das Bild des Atriums, Kino oder römischer Innenhof, gibt jedenfalls ein gutes Bild für die Gründungsjahre ab, für
die Durchlässigkeit, die Wechsel zwischen innen
und außen, die ein kecker Verleger mit seinem
Buchprogramm hinlegte, zwischen Berlin, Wien,
Basel, Amsterdam, Zürich und London.
Kurt Maschler wurde 1898 in Berlin geboren,
ein gutes Jahr älter als Kästner, er hatte aber die
österreichische Staatsbürgerschaft – sein Vater
war Österreicher, seine Mutter Berlinerin. Nach
einer Buchhändlerlehre und dem schnellen Aufstieg zum Leiter einer Filiale in Frankfurt erwarb
er in den 20er-Jahren kleinere Verlage, darunter
den Axel Juncker Verlag. Der war spezialisiert
auf skandinavische Literatur und hatte ein paar
prominente deutsche Autorinnen und Autoren,
Else Lasker-Schüler, Max Brod, Franz Werfel;
hier waren Rilkes „Cornet“ (1906) und Tucholskys „Rheinsberg“ (1912) erschienen.
Zum Zeitpunkt der Übernahme hatten die
meisten prominenten Autoren den Verlag zugunsten größerer Verlagshäuser verlassen, aber
Maschler blieb seitdem auf der belletristischen
Spur. Überdies war er mit Edith Jacobsohn befreundet, der Witwe des jung verstorbenen
„Weltbühne“-Herausgebers Siegfried Jacobsohn.
Sie führte mit Williams & Co. einen der besten
Kinderbuchverlage der Zeit – hier erschienen A.
A. Milnes „Winnie-the-Pooh“, Hugh Loftings
„Dr. Doolittle“-Reihe, auch Bücher von Karel
Čapek. Jacobsohn hatte 1928 Erich Kästner zu
seinem ersten Kinder- und Jugendbuch „Emil
und die Detektive“ überredet, weil sie in Kenntnis einiger seiner (heute vergessenen) Kinderkolumnen der Auffassung war, dass ihm das Genre
doch liegen müsse.
In der Nacht des Reichstagsbrandes floh Edith
Jacobsohn in die Schweiz. Ihr Vertriebsleiter soll
Kurt Maschler nach seiner Erinnerung gebeten
haben, den Verlag zu übernehmen, und er hat es
als „Pflicht“ empfunden, „Kästners Werk zu
schützen“. Er flog am 17. August 1933 in die
Schweiz, einen Tag nach der Geburt seines Sohnes Tom, und kaufte den Williams-Verlag, „mit
all seinen Schulden, seinen Verbindungen und
seinem guten Namen. So kam Maschler zu Kästner und Kästner zu Maschler.“
Kästner war ein „verbrannter“ Autor, wohl der
einzige, der am 10. Mai 1933 in Berlin in der
Menschenmenge gestanden und zugesehen hatte, wie zu den NS-„Feuersprüchen“ seine Gedichte und sein Roman „Fabian“ ins Feuer geworfen wurden („Gegen Dekadenz und moralischen Verfall“). Auf den Listen unerwünschter
Bücher fand sich für seinen Namen die lapidare
Anweisung zur „Aussonderung“: „Alles außer
Emil.“ Dennoch wollte Kästner im Land bleiben,
er wollte Zeuge sein, mitschreiben, und er hat
die Haltbarkeit der Diktatur unterschätzt; wie
viele seiner Zeitgenossen war er der Ansicht,
dass der Spuk nach einem oder zwei Jahren vorbei sein werde. Wie schützt man unter solchen
Umständen das Werk eines Autors?
Tatsächlich hat Maschler mit Mut und Geschick „unpolitische“ Bücher des Verbotenen
weiter herstellen lassen und über Mittelsmänner
verkauft, „a brave and even foolhardy act“, wie
sein Sohn Tom in seiner Autobiografie schreibt.
Immerhin bis 1935 konnten Kinderbücher und
der Unterhaltungsroman „Drei Männer im
Schnee“ (im Zürcher Rascher Verlag, 1934) im
Ausland gedruckt und in Deutschland verkauft
werden; dann allerdings wurden die restlichen
Gedichtbände und auch der „Emil“ bei Williams
& Co. von der Gestapo bis auf ein Archivexemplar beschlagnahmt, schließlich auch das Auslieferungslager in Leipzig.
Maschler gründete schließlich den Atrium Verlag in Basel, der Sitz wurde später nach Zürich
verlegt; Teile der Rechte von Williams & Co. wurden auf Atrium übertragen (ein Teil der Rechte
blieb bei der Geschäftsführerin Cecilie Dressler)
– neben Kästner vor allem sein Illustrator Walter
Trier, einige Bücher von Adrienne Thomas, Kurt
Tucholsky und Henry de Montherlant.
Noch blieb Berlin nomineller Verlagssitz, weil
die Schweizer Behörden Maschler nicht wollten –
es sei „sowieso schon zu viel Hochdeutsch“ auf
der Bahnhofstraße zu hören, erinnerte er sich. Die
Herstellung und Auslieferung der Bücher erfolgte
in Mährisch Ostrau, in Kittls Verlag, offenbar toleriert von den NS-Behörden, für die Kästner als
Devisenbringer gut genug war. Kittls Verlag gehörte zum „Prager Tagblatt“, einer pragerdeutschen
Zeitung, in der Kästner als junger Autor hin und
wieder eine Erzählung veröffentlicht hatte.
Das erste Buch im Atrium Verlag war „Emil
und die drei Zwillinge“, pünktlich zum Weihnachtsgeschäft Anfang Dezember 1935 erschienen; dicht gefolgt von einem Nachdruck von
„Das fliegende Klassenzimmer“. Der von Käst-
„Tapfer,
sogar tollkühn“
ner sogenannte „Emil II“ wurde nach Deutschland ausgeliefert, Mitte Januar 1936 waren 7000
Exemplare verkauft, und zu Kästners Überraschung lief auch die UFA-Verfilmung des ersten
„Emil“ (1931) wieder, wie er an seine Mutter
schrieb: „Überall auf den Plakatsäulen groß angekündigt. Sogar mit meinem Namen. Ich bleib
vor jeder Säule stehen u. lese es staunend.“ Der
Film lief weiterhin in den Vorkriegsjahren, unauffälliger beworben und ohne Namensnennung.
Zwischen all diesen zeitgeschichtlichen Fährnissen muss die enge Beziehung zwischen
Maschler und Kästner entstanden sein; und sie
haben ja auch noch über Manuskripte diskutiert
(„Die verschwundene Miniatur“ von 1936 soll
der Verleger gedruckt haben, ohne dass ihm der
+
Roman gefiel). Geschäftsbeziehungen müssen
zwischen den beiden bestanden haben, seit
Maschler Williams & Co. übernommen hatte, er
erscheint in Kästners Briefen seit 1933. Nach einem Interview, das der 87-jährige Maschler dem
„Börsenblatt“ gegeben hat, lernte er jetzt erst
seinen Autor kennen.
Tom Maschler, späterhin selbst als Chef von
Jonathan Cape in London ein bedeutender Verleger, erinnert sich daran, als Kind den berühmten
Autor einige Male gesehen zu haben, „but I cannot say that I liked him“. Die Rolle, die Kästner
im Leben seines Vaters spielte, war ihm suspekt,
er soll seinen Erfolgsautor angehimmelt haben.
Und Kästner habe bei Besuchen immer Champagner auf Kosten seines Verlegers getrunken, der
sich privatim, „being a puritanical man“, nicht
einmal eine Flasche mäßigen Wein gekauft hätte.
1937 wurde Kurt Maschler aus der Reichsschrifttumskammer ausgestoßen, die Luft wurde
dünner. Erstaunlich daran ist allein, dass er
überhaupt (im Unterschied zu Kästner) drin gewesen war, als jüdischer Besitzer eines „reichsdeutschen“ Verlags: Alle Mitglieder des Börsenvereins der deutschen Buchhändler waren automatisch aufgenommen worden, und womöglich
seiner österreichischen Staatsbürgerschaft wegen war Maschler zunächst unbehelligt geblieben. Ein Ausschluss bedeutete Berufsverbot, er
durfte sein Berliner Büro nicht mehr betreten
und ging nach Wien, „mit dem Gedanken, ein
Jahr dortzubleiben – erstens wegen meines ös-
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Biografie
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LITERARISCHE WELT
ULLSTEIN BILD
ATRIUM VERLAG
nen, der die Bücher drucken lässt und vertreibt.
stein für seinen Welterfolg legte – jedenfalls haDas ist … eine Fehlkonstruktion. Hauptverleger
ben die Lizenzgeschäfte, auf die Maschler sich
und Unterverleger im originalen Sprachgebiet,
notgedrungen beschränken musste, einen webeide prozentual beteiligt, und der Autor ist das
sentlichen Anteil daran.
Karnickel, – das ist nicht in Ordnung, finde ich.“
Ein Kino wie das Kolosseum:
Die Honorare wollte Maschler seinem Autor
Als Maschler beleidigt reagiert, schreibt Kästner,
Der Beba-Palast Atrium in Wilmersdorf
natürlich weitergeben, so gut es ging. In den
dass er dessen „ungewöhn(im Krieg zerstört, hier ein Foto von 1939)
Kriegsjahren ging es nicht
lichen Leistungen und Regab Kurt Maschlers Verlag den Namen
gut – die Kommunikation
sultate“ ja doch „verflixt
zwischen kriegführenden
noch einmal, nie verkannt,
Nationen ist bekanntlich
sondern immer anerkannt
eingeschränkt.
und zum Teil bewundert
Maschler war in London
habe.“ Es gehe allein um
auch für Faber & Faber tädie Prozente – eine auch
tig, er gründete die sehr erberufsständische
Frage.
folgreiche Kunstbuchreihe
Der Autor von Welterfol„Fama“ (Faber und Maschgen saß mittlerweile am
ler), deren Gesamtauflage
längeren Hebel.
nach dem Krieg die Million
überstieg. Und er führte eiDie beiden haben sich gene rege Korrespondenz mit
einigt, Kästner blieb bei
Erich Kästner, der umfangAtrium bis zu seinem Tod
reichste Briefwechsel, der
1974; allein „Die Konferenz
sich in dessen Nachlass
der Tiere“ (1949) war in
findet. Nach Kriegsende
Emil Oprechts Europa Verwar der offizielle Sitz des
lag in Zürich erschienen.
Atrium Verlags in London;
Der Verleger hing auch nach
eins der ersten Bücher, neKästners Tod an seinem Auben Kästner, war der zweitor; er hat einen Emil
Kurt Leo Maschler wurde 1898 in
te Gedichtband von Erich
Award gestiftet, einen JuBerlin geboren. Über Wien und AmsFried, „Österreich“ (1946).
gendbuchpreis,
der mit
terdam emigrierte er nach London,
In den Folgejahren baute
1000 Pfund dotiert ist. 1986
wo er den 1935 gegründeten Atrium
Maschler das Profil des
ist er in London gestorben,
Verlag bis 1976 leitete. 1986 starb er
Verlags im Segment der
nach Deutschland war er
klassischen Kinder- und Junie zurückgekehrt. Seine
gendliteratur aus, neben „Dr. Doolittle“ und „Pu
Mutter war im KZ ermordet worden, und er hätte
der Bär“ erschienen auch Ausgaben von „Pi„nie sicher sein“ können, „ob nicht mein Nachbar
nocchios Abenteuer“, „Tom Sawyer“ und „Huckzur Linken oder zur Rechten vielleicht mitschuld
leberry Finn“. An jüngeren Autoren verlegte er
war am Tod meiner Familie.“ Seine Originale der
den noch unbekannten Janosch und Reiner ZimTrier-Illustrationen hat er dennoch der Internationik; und er konnte die Weltrechte von Stefan
nalen Jugendbibliothek in der Münchner BlutenZweig erwerben, den er allerdings in anderen
burg geschenkt; der Wunsch, man solle sie doch
Verlagen drucken ließ.
angesichts der deutschen Geschichte in „BlütenKästner und Maschler trafen sich 1946 in Züburg“ umtaufen, ist ihm nicht erfüllt worden.
1976 hatte er den Atrium Verlag an die Familie
rich wieder. Der Verleger verkaufte Lizenzen der
Weitendorf verkauft, die Inhaber der Oetinger
Erwachsenenbücher an Kiepenheuer & Witsch
Verlagsgruppe, damit wurde der Verlag zu einem
und Droemer, der Kinderbücher an Ueberreuter
Unternehmen zur Vergabe von Kästner-Rechten
und an den Cecilie Dressler Verlag, wie der im
ohne große Aktivitäten. Erst 2006 gab es einen
Land gebliebene Teil von Williams & Co. nun
Neustart; Sabine Lammers zeichnete für ein allhieß. Die rege Korrespondenz zeigt, wie sehr
gemeines belletristisches Programm verantwortKästner, der ja schon in der Weimarer Zeit von
lich. Mit ihr und ihrem Nachfolger Nikolaus
seiner „kleinen Versfabrik“ gesprochen hatte,
Hansen suchte der Verlag nach einem neuen
nun eine ganze Industrie versorgte – die Briefe
Profil, von 2008 bis 2013 in enger Kooperation
sind Listen mit Einzelvereinbarungen, über Ummit dem Arche Literatur Verlag, der für ein avansätze, Illustrationen, Stückzahlen im In- und
ciertes Programm auf dem Feld der ErwachseAusland, Plattenaufnahmen, Verfilmungen etc.
nenliteratur stand.
Auf dem PEN-Kongress in London 1957 debatIn diesen Jahren wurde neben einigen Kästtierten die beiden über die „Gesammelten Schrifner-Einzelausgaben vor allem (mit mehr oder
ten“, die 1959 zu Kästners Sechzigstem erschieweniger Erfolg) nach kompatiblen Programmbenen. Ihr Verhältnis war immerhin so eng, dass
reichen gesucht: es erschienen Bücher von und
Kästners Lebensgefährtin Luiselotte Enderle in
über Groucho Marx, Georg Kreisler und Freddy
den frühen 60er-Jahren versuchte, Maschler als
Quinn; eine Werkausgabe der Bücher von HerSchlichter für ihre Beziehungskonflikte zu gewinmann Kesten, seit der Weimarer Republik mit
nen; Kästner hatte mit Friedhilde Siebert einen
Kästner befreundet, scheiterte nach drei Bänden
Sohn und hat jahrelang vergeblich versucht, Enam mangelnden Interesse der potenziellen Käuderle zu verlassen, eine überaus komplizierte und
fer. Cornelia Funkes „Herr der Diebe“ konnte
für alle Beteiligten schmerzhafte Konstellation.
eher an Kästners Erfolge anknüpfen, vor allem
Bei aller Nähe gab es auch Krisen, trotz aller
aber Ken Bruens „Jack Taylor“-Krimis, deutsch
Korrespondenzen und Treffen; 1967 entlud sich
ein länger aufgelaufener Konflikt in einem
von Harry Rowohlt – eine Reihe um einen sauSchimpfbrief Kästners: Seit Jahren wollte er
fenden, prügelnden und bibliophilen Polizisten
fünfzehn Prozent für die Verkäufe in deutscher
–, und „Logicomix“ (2010) über das Leben von
Sprache, nicht mehr die zehn beziehungsweise
Bertrand Russell, wohl die erfolgreichste Grazwölf Prozent der alten Verträge, „eine für einen
phic Novel seit Art Spiegelmans „Maus“-Reihe.
Autor meines Ansehens und Erfolgs, noch dazu
Seit 2013 ist Tim Jung Verlagsleiter, zuvor
eines permanenten Erfolgs, keineswegs unbelangjähriger Programmleiter von Atrium und Arscheidene Beteiligung“. Maschler scheint sich
che. Ein Schwerpunkt sind internationale Krimigegenüber dieser Forderung stets harthörig verautoren wie Mark Billingham, Anna Grue oder
halten zu haben: „Warum wollen Sie denn meidem ehemaligen IRA-Aktivisten Sam Millar und
nen Unmut und meinen wachsenden Verdruß
dieses Jahr Jenny Rogneby. Die Graphic Novels
nicht verstehen?“
zeigen mit politischen Themen den Anspruch,
ein emphatisch gegenwartsorientierter Verlag zu
Kästners deutschsprachige Ausgaben wurden
hergestellt wie fremdsprachige, er hatte zwei
sein – „Waltz with Bashir“ etwa ist ein Comic
Verleger, „einen, der die Rechte vergibt, und eiüber den Libanonkrieg von den israelischen Autoren Ari Folman und David Polonsky; auch Art
Spiegelmans „Im Schatten keiner Türme“ zum
zehnjährigen Gedenken an 9/11 ist bei Atrium erschienen. In der Gegenwartsliteratur wird vor allem nach Autoren gesucht, die sich humoristisch
zur Welt verhalten – soll heißen, nicht nach Unterhaltungsliteratur, sondern nach skeptisch-komischen Autoren in der Kästner-Tradition.
Denn der wird – im Sinne seines Gründers Kurt
Maschler – wieder ganz in den Mittelpunkt des
Verlags gerückt: Atrium heißt nun sogar im Untertitel „Der Erich Kästner Verlag“. Seine Erwachsenenbücher erscheinen mit neuen Umschlagzeichnungen von Hans Traxler, neben vielen thematisch sortierten Kästner-Lesebüchern von Sylvia
List gibt es eine Neuausgabe der Aphorismen, illustriert von Christoph Niemann („Es gibt nichts
Gutes“, 2015), oder auch einen Kästner-Kalender.
Aber es gibt auch Neues zu entdecken, etwa „Der
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Gang vor die Hunde“, die Urfassung von „Fabian“.
Verleger Tim Jung schätzt Kästner als Stilisten,
seine Sprache sei „ebenso frisch und zeitgemäß
wie viele seiner Themen“. Anders als manch anderer Klassiker, werde Kästner nicht nur geschätzt, sondern geliebt: „Wer als Kind ein Buch
von Kästner gelesen hat, hat eine Glückserfahrung
meine Wohnung, mein Büro, meine Autogragemacht, die ein Leben lang hält.“
phensammlung und mein Lager zu beschlagnahmen, war ich schon weg.“ Die Jonglierkünste,
Womöglich stehen wir vor einer Kästner-Remit denen es Maschler immer wieder gelungen
naissance; eine Neuverfilmung des „Emil“ in
war, Kästner-Bücher nach Deutschland zu verGroßbritannien ist in Vorbereitung, es gibt Filmkaufen, waren am Ende.
verhandlungen über „Drei Männer im Schnee“,
Er war allerdings kaltblütig genug, erst nach
„Das doppelte Lottchen“ und „Fabian“ bezieBerlin zu fliehen! Dort löste er sein Devisenkonhungsweise „Der Gang vor die Hunde“, von dem
to auf, kaufte sich eine Flugkarte und flog nach
Übersetzungen in Frankreich und den NiederAmsterdam; er konnte seine Frau und seinen
landen erscheinen werden. Kästners erstes
Sohn nachholen, im Frühjahr 1939 ging die FamiTheaterstück „Klaus im Schrank“ ist 2013 in
„Dekadenz und moralischer Verfall“: Bei der Bücherverbrennung der
Dresden uraufgeführt worden, es gibt eine Kästlie nach England. Nachdem Atrium keine Bücher
Nationalsozialisten am 10. Mai 1933 war Erich Kästner inkognito Zeuge, wie seine
ner-Ausstellung im Münchner Literaturhaus,
mehr herstellen konnte, versuchte er wenigseigenen Werke, darunter der Roman „Fabian“, dem Feuer übergeben wurden
weltweit sind gerade 65 Übersetzungen untertens, Lizenzen zu verkaufen; bei Kriegsende 1945
wegs – man kann dem Verlag nur wünschen,
gab es Kästner in 35 Sprachen. Zugespitzt könnte
dass sich dieser gute Lauf fortsetzt!
man sagen, dass das Verbot Kästners den Grund-
terreichischen Passes, zweitens weil ich dort ein
Büro besaß, drittens um zu atmen und über die
Zukunft nachzudenken“. Im März 1938 marschierten die deutschen Truppen ein. Kästners
komödiantisches Buch über den „kleinen Grenzverkehr“ zwischen Deutschland und Österreich,
1938 als „Georg und die Zwischenfälle“ erschienen, war in seinen politischen Voraussetzungen
schon bei Erscheinen überholt.
Mit dem „Anschluss“ Österreichs wurde
Maschler zwangsweise „Reichsdeutscher“ und
verlor den Schutz seines ausländischen Passes.
Ein sudetendeutscher Angestellter bei Kittl
„verriet den Nazis, daß ich die Unverschämtheit
besaß, einen Emigrantenverlag für verbotene Literatur zu betreiben. Aber als sie kamen, um
PA / DPA
1933 wurden Erich Kästners Bücher von den
Nazis verbrannt. Dass er dennoch in Deutschland
weiter gelesen werden konnte, verdankt sich
dem Mut und dem Einfallsreichtum des jüdischen
Verlegers Kurt Maschler. Im Dezember 1935 erschien
das erste Buch des Atrium Verlags, der sich bis
heute um Kästners Werk bemüht Sven Hanuschek
+