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Strafvollzug in der DDR - Jugendhaus Dessau | Manuskript
Strafvollzug in der DDR - Jugendhaus Dessau
Bericht: Knud Vetten
Dirk Müller an dem Ort, den er seit 33 Jahren nicht mehr betreten hat. Es ist ein schwerer
Gang für ihn. Hier war er bis 1983 als Häftling im sogenannten Jugendhaus Dessau
eingesperrt. Jugendhaus - was harmlos klingt, war ein Jugendknast in der DDR. Er ist
siebzehn Jahre alt, als er hier herkommt. Dirk Müller führt uns in den Keller, wo sich damals
die Einzelzellen befanden.
Dirk Müller
„So, das war hier meine Arrestzelle. Für mich ist es so, als wenn ich nie entlassen worden
bin.“
Hier war er wochenlang ohne Kontakt zu anderen eingesperrt. Dirk Müller hatte uns
geschrieben, weil ihn die traumatischen Erlebnisse seiner Vergangenheit nicht mehr
loslassen.
Dirk Müller
„Ich erlebe das Jugendhaus Dessau hier ganz oft. Ganz oft. Verschiedene Tage,
verschiedene Situationen. Und … ich bin nicht mehr der.... Und ich würde das so gerne
vergessen können. Ich komme damit einfach nicht zurecht.“
Dirk Müller führt seine Depressionen auf das zurück, was ihm hier widerfahren ist. Gutachter
haben ihm eine Posttraumatische Belastungsstörung attestiert.
Bei unseren Recherchen sind wir auf diesen Schulungsfilm der Stasi gestoßen. Er soll die
täglichen Abläufe in Dessau zeigen. Verharmlosend einerseits, vermittelt er trotzdem einen
Eindruck vom militärischen Drill, der hier herrschte.
Insgesamt gab es in der DDR 10 Jugendhäuser. Im Gegensatz zur Jugendhilfe mit Heimen und
Werkhöfen zählten sie zum DDR-Strafvollzug. Für 14- bis 18-Jährige, die von Gerichten
verurteilt worden waren.
Wir treffen Maud Rescheleit. Sie hat eine der wenigen wissenschaftlichen Arbeiten zum
Thema verfasst. Die Sozialpädagogin war entsetzt, wovon die Zeitzeugen berichteten.
Demnach bestimmten Gewalt und Selbstjustiz, Einzelarrest und Zwangsarbeit den Alltag in
Dessau. Für Maud Rescheleit eindeutige Menschenrechtsverletzungen:
Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers
verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
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Strafvollzug in der DDR - Jugendhaus Dessau | Manuskript
Maud Rescheleit
„Was mich am meisten erschreckt hat bei den Zeitzeugenberichten, ist eingedenk dessen,
dass die noch so jung waren die Jugendlichen, also wie unsere eigenen Kinder jetzt in dem
Alter sind, wenn man sich die jetzt vorstellt unter so harten Bedingungen, dann ist das
meiner Ansicht nach ohne jedes Verhältnis gewesen. Den Bedingungen, denen sie hier
ausgesetzt waren, kann man auch Erwachsenen nicht zumuten, aber schon gar nicht
Jugendlichen.“
Dabei war der ursprüngliche Ansatz der Jugendhäuser gut gemeint, nämlich die Jugendlichen
von erwachsenen Straftätern zu trennen. Und sie anders zu behandeln.
Einer der ersten, die in Dessau landeten, war Rolf Wiese. Der überzeugte Pazifist hatte im
Jahr 1952 Flugblätter gegen die Aufrüstung der DDR verteilt- die DDR erklärte ihn zum
Staatsfeind.
Rolf Wiese
„Ich habe den Faschismus und den Imperialismus unterstützt mit meinen Forderungen,
dass es in der Ostzone, in der DDR, kein Militär geben darf. Und auf der Anklageschrift hat
jemand mit Stift geschrieben, mindestens zehn Jahre.
Tatsächlich wird der damals Minderjährige zu sage und schreibe zehn Jahren Zuchthaus
wegen sogenannter Boykotthetze verurteilt. Weil sein Vater sich immer wieder für eine
frühere Freilassung einsetzt, ist Rolf Wiese nach vier Jahren wieder auf freiem Fuß.
Erst auf den zweiten Blick bemerkt man, wie den 82-jährigen die Haft in Dessau belastet.
Rolf Wiese
„Und dann habe ich natürlich eine Knastmacke.“
Frage: Sie haben Nächte, in denen Sie deswegen nicht schlafen?“
„Man darf nicht dran denken. Man muss sich vornehmen nicht daran zu denken. Der
Schaden ist da, andere haben den auch. Und kriegen kein Geld dafür.“
Rolf Wiese bekommt als ehemaliger politischer Häftling monatlich insgesamt 550 Euro –
Entschädigung für die Haft, für die entgangenen Rentenbeiträge und für seine
Posttraumatische Belastungsstörung.
Zurück zu Dirk Müller. Für die Zeit in Dessau hat er noch keinen Euro gesehen, weil er wegen
Kleinkriminalität hier landete. Er wurde wegen Diebstählen und Hehlerei verurteilt.
Hintergrund laut Dirk Müller: Sein Vater misshandelte ihn von klein auf. Als Jugendlicher
flieht er von zu Hause und lebt auf der Straße. Nur mit Diebstählen kann er sich über Wasser
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halten, Körperverletzungen habe er keine begangen. Das Urteil war auch für damalige
Verhältnisse hart: Drei Jahre und acht Monate.
In diesem Stockwerk erinnert sich Dirk Müller an zwei Tage voller Gewalt. Weil in seiner
Gruppe geraucht wurde, und er als Ältester nichts dagegen getan hatte, schlägt ihn der
Aufseher:
Dirk Müller
„Und hat mich hier vor versammelter Mannschaft hier zusammengelegt. Richtig mit
Faustschlägen, so dass ich hier richtig am Boden lag.“
Das war aber erst der Anfang einer Gewaltorgie: Am nächsten Tag geht die Bestrafung brutal
weiter:
Dirk Müller
„Ich habe hier gestanden mit den Hacken zusammen. Dann habe ich hier gewartet, dass
sie mich greifen und nach unten prügeln. Und kam an mir vorbei und hat mir die Beine
weg gehauen, ich bin mit der Stirn und der Nase an dem Putz runter. Dann haben sie mich
so Handschellen, links und rechts einer am Arm. Und dann immer drauf. Im Laufschritt
runter, die Treppen runter, quer über den Hof und immer drauf mit dem Knüppel.“
Wieder landet Dirk Müller in der Arrestzelle. Für den Aufenthalt in Dessau hat er einen
Antrag auf Opferentschädigung gestellt. Der wurde abgelehnt, weil er die Übergriffe nicht
nachweisen kann.
Treffen mit der Beauftragten für Stasi-Unterlagen in Sachsen Anhalt. Für Birgit NeumannBecker müssten Fälle wie der von Dirk Müller noch Mal anders bewertet werden. Ihr
Vorschlag: Man sollte sich an der jüngsten Entscheidung zu einer Einweisung in ein DDRHeim orientieren.
Birgit Neumann–Becker, BstU Sachsen-Anhalt
„Es gibt ein neues Urteil von Oberlandesgericht in Naumburg, das sagt, wenn Jugendliche
in Jugendwerkhöfe eingewiesen worden sind und sie nicht schwere Delikte begangen
haben, dann ist das zu rehabilitieren. Weil es eine übermäßige Härte darstellt. Aus meiner
Sicht wäre zu prüfen, ob man nicht ein ähnliches Verfahren für die Jugendhäuser
durchführt.
Vielleicht ist das die Chance für Dirk Müller. Aber auch für andere, die wegen
Bagatelldelikten in Jugendhäusern wie in Dessau eingesperrt und schweren Misshandlungen
ausgesetzt waren.
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