Bruno Latour - Prof. Dr. Armin Nassehi

Armin Nassehi
Institut für Soziologie
Vorlesung
Soziologische Theorie
SoSe 2015
6. Juli 2015
Bruno Latour:
Gesellschaft posthumaner Kollektive
Soziologie als Theorie hybrider Akteure
Prof. Dr. Armin Nassehi
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Bruno Latour (*1947)
Der Berliner Schlüssel. Berlin 1996.
S. 28: Ich setze mich unbekümmert in meinen Wagen, merke jedoch, daß ich nicht losfahren kann; es blinkt und piept. Verwundert
schaue ich aufs Display der Armatur: „Schnallen Sie sich an!!!“
Ich gehorche dem Befehl am Armaturenbrett, klinke meinen
Sicherheitsgurt ein und bin somit berechtigt, den Anlasser zu betätigen. Der Wagen hat mir mein Verhalten vorgeschrieben. Du
mußt dich anschnallen, um fahren zu können. Er hat mich so lange
am Losfahren gehindert, bis ich gehorchte. Erst nachdem ich seiner
Aufforderung Folge geleistet hatte, durfte ich, was ich wollte. Auf
der Autobahn zu meiner Arbeitsstelle fahren.
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S. 35f.: Der bestirnte Himmel über uns und das moralische Gesetz
in uns – diese beiden Schauspiele erregten die Bewunderung des
alten Kant. Wir möchten dem noch ein drittes hinzufügen, das er
nicht vorausgesehen hatte: die moralischen Gesetze, die in die
Natur der Dinge eingeschrieben sind. [...] Der Sicherheitsgurt ist
nicht technisch, funktional und amoralisch. Im Moment der Gefahr
erweist er sich als moralischer als der Mensch, eben deshalb wurde
er erfunden. Wenn ich plötzlich bremse, behütet er mich davor, zu
verunglücken und unglückliche Waisen zu hinterlassen.
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Die Hoffnung der Pandora, FfM 2000.
S. 236f.: Das Ziel des Spiels besteht nicht darin, Subjektivität auf
Dinge zu übertragen oder Menschen als Objekte zu behandeln oder
Maschinen als soziale Akteure zu betrachten, sondern die SubjektObjekt-Dichototmie ganz zu umgehen und stattdessen von der
Verflechtung von Menschen und nicht-menschlichen Wesen
auszugehen.
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Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen
Anthropologie, Berlin 1995.
S. 69: Die Vermehrung der Hybriden hat den konstitutionellen
Rahmen der Moderne gesprengt.
S. 8f.: Zum Glück gibt es noch einige erholsame Seiten in der Zeitung, auf denen von reiner Politik die Rede ist (eine Versammlung
der radikalen Partei). Es gibt die Literaturbeilage, wo dieser oder
jener Romancier sich an den Abenteuern einiger narzißtischer Egos
erfreut (‚je t’aime, moi non plus‘). Ohne diese glatten Seiten könnte
einem schwindlig werden. Denn es häufen sich die Hybridartikel,
die eine Kreuzung sind aus Wissenschaft, Politik, Ökonomie,
Recht, Religion, Technik und Fiktion. Wenn die Lektüre der TagesProf. Dr. Armin Nassehi
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-zeitung das Gebet des modernen Menschen ist, dann betet heute
bei der Lektüre dieses Gemenges ein sehr seltsamer Mensch. Die
ganze Kultur und die ganze Natur werden hier Tag für Tag neu
zusammengebraut.
Und dennoch scheint niemand sich daran zu stoßen. Die Seiten
Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Literatur, Kultur, Religion, Vermischtes bilden nach wie vor die Rubriken, so als wäre nichts gewesen. Der winzigste Aidsvirus bringt uns vom Geschlecht zum
Unbewussten, von dort nach Afrika, zu Zellkulturen, zur DNS,
nach San Francisco. Aber Analytiker, Denker, Journalisten und
Entscheidungsträger zerschneiden das feine Netz, das der Virus
zeichnet. Übrig bleiben nur säuberlich getrennte Schubladen: Wissenschaft, Ökonomie, soziale Vorstellungen, vermischte NachrichProf. Dr. Armin Nassehi
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-ten, Mitleid, Sex. Man braucht bloß irgendeine harmlose
Spraydose zu drücken, und schon ist man unterwegs zur Antarktis,
von dort zur University of California in Irvine, zu den Fließbändern
in Lyon, zur Chemie der Edelgase und dann vielleicht zur UNO.
Doch dieser fragile Faden wird in ebenso viele Teile zerstückelt,
wie es reine Fachgebiete gibt. Bringen wir bloß nicht Erkenntnis,
Interesse, Justiz und Macht durcheinander! Vermengen wir bloß
nicht Himmel und Erde, Globales und Lokales, Menschliches und
nicht Menschliches!
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S. 19: Die Hypothese dieses Essays ... ist, daß das Wort ‚modern‘
zwei vollkommen verschiedene Ensembles von Praktiken bezeichnet, die, um wirksam zu sein, deutlich geschieden bleiben müssen,
es jedoch seit kurzem nicht mehr sind. Das erste Ensemble von
Praktiken schafft durch ‚Übersetzung‘ vollkommen neue Mischungen zwischen Wesen: Hybriden, Mischwesen zwischen Natur und
Kultur. Das zweite Ensemble schafft, durch ‚Reinigung‘, zwei vollkommen getrennte ontologische Zonen, die der Menschen einerseits, die der nicht-menschlichen Wesen andererseits. Ohne das erste Ensemble wären die Reinigungspraktiken leer oder überflüssig.
Ohne das zweite wäre die Arbeit der Übersetzung verlangsamt, eingeschränkt oder sogar verboten. Das erste Ensemble entspricht
dem, was ich Netze genannt habe, das zweite dem, was ich Kritik
genannt habe. Das erste könnte beispielsweise in einer fortlaufenProf. Dr. Armin Nassehi
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den Kette die Chemie der Stratosphäre, die wissenschaftlichen und
industriellen Strategien, die Nöte der Staatschefs, die Ängste der
Ökologiebewegung verbinden. Das zweite würde eine Einteilung
vornehmen zwischen einer Naturwelt, die schon immer da war, einer Gesellschaft mit vorhersehbaren und stabilen Interessen und
Einsätzen und schließlich einem Diskurs, der von der Referenz wie
von der Gesellschaft abhängig ist.
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Das Parlament der Dinge. FfM 2001.
S. 109f.: Objekte und Subjekte können sich nie assoziieren,
Menschen und nicht-menschliche Wesen dagegen wohl. Sobald wir
aufhören, die nicht-menschlichen Wesen für Objekte zu halten, wir
ihnen also Zugang gewähren zum Kollektiv in Form neuer, noch
nicht festumrissener Entitäten, die zögern, beben, perplex machen,
können wir ihnen ohne weiteres die Bezeichnung Akteure
zugestehen. Und wenn man den Begriff Assoziation wörtlich
nimmt, gibt es auch keinen Grund, ihnen die Bezeichnung sozialer
Akteure vorzuenthalten.
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Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. FfM 2007.
S. 77: Handeln ist nicht transparent, es steht nicht unter der vollen
Kontrolle des Bewußtseins. Diese altehrwürdige Quelle der Unbestimmtheit ist es, die wir mit dem seltsamen Ausdruck Akteur-Netzwerk wieder lebendig machen wollten. Handeln ist ein Knoten, eine
Schlinge, ein Konglomerat aus vielen überraschenden Handlungsquellen, die man eine nach der anderen zu entwirren lernen muß.
S. 17: Ein ‚Akteur‘ in dem Bindestrich-Ausdruck Akteur-Netzwerk
ist nicht der Ursprung einer Handlung, sondern das bewegliche Ziel
eines riesigen Aufgebots von Entitäten, die zu ihm hin strömen.
Damit er seine Mannigfaltigkeit wiedergewinnt, ist es am einfach-sten, die Metaphern zu reaktivieren, die im Wort Akteur enthalten
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sind [...]. Nicht zufällig stammt dieser Ausdruck, wie auch der der
‚Person‘, aus der Bühnenwelt. [...] Das Wort ‚Akteur‘ zu verwenden bedeutet, daß nie klar ist, wer und was handelt, wenn wir handeln, denn kein Akteur auf der Bühne handelt allein. Das Schauspiel versetzt uns sofort in ein dichtes Imbroglio, wo die Frage, wer
die Handlung durchführt, unergründlich wird. [...] Handeln ist definitionsgemäß nicht lokalisierbar, sondern stets verlagert, verschoben, dislokal. Handeln wird entlehnt, verteilt, suggeriert, beeinflußt, dominiert, verraten, übersetzt.
S. 17: In dieser Bedeutung des Adjektivs bezeichnet ›sozial‹ kein
Ding unter anderen Dingen, wie etwa ein schwarzes Schaf unter
weißen Schafen, sondern einen Verknüpfungstyp zwischen Dingen,
Die selbst nicht sozial sind.
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S. 186: Sozial ist nirgendwo im besonderen, als ein Ding unter
anderen Dingen, sondern kann überall zirkulieren als eine Bewegung, die nicht-soziale Dinge verbindet.
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Das Parlament der Dinge. FfM 2001.
S. 57: Anstelle des Sozialen als Gefängnis, das die Soziologie
geerbt hat, ohne sich je die Frage nach ihren Geburtsfehlern zu
stellen, taucht eine andere, näher an der Etymologie des Wortes
bleibende Bedeutung des Sozialen als Assoziation und Kollektion
auf.
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